Auschwitz/Hamburg. Vor 75 Jahren wurde das KZ befreit. Abendblatt-Redakteure besuchten den Tatort des größten Verbrechens. Was macht das mit einem?

Mir ist speiübel. Ich suche den Raum nach einem Mülleimer ab, kann aber keinen finden. Alles, was ich sehe, ist ein Meer aus Haaren. Nur eine Glasscheibe trennt mich von dem, was von den Häftlingsfrauen von Auschwitz übrig geblieben ist. Die Nazis schnitten ihnen in langen Zöpfen den letzten Rest Würde ab. Dann ermordeten sie die Frauen in Gaskammern oder ließen sie bis zu ihrem jämmerlichen Tod in Lagern arbeiten.

„Zwei Tonnen Haare liegen hier“, sagt Janusz Wlosiak. „Guide“, nicht „Führer“ nennt man ihn im Deutschen hier. Der polnische Geschichtslehrer begleitet seit 35 Jahren Touristen durch die Gedenkstätte in Auschwitz. Ich greife in mein eigenes Haar. Federleicht. Es wiegt höchstens ein paar Gramm. Wie vielen Frauen müssen diese Filzberge gehört haben? Als könne er Gedanken lesen, antwortet Janusz: „Die Haare stammen von 40.000 bis 60.000 Frauen.“

Ich wandere an der Glasscheibe entlang. Mit jedem Meter wird mir elender. Nicht die Tränen steigen mir in die Augen. Sondern der Ekel in die Kehle. Braune, teils geflochtene Zöpfe stapeln sich bis an die Decke zu einem Turm der Grausamkeit. „Es dauert nicht mehr lang, dann zerfallen sie zu Staub“, sagt Janusz. Sechs bis acht Jahre gibt er ihnen noch. Dann wird in Auschwitz nichts mehr von den menschlichen Überresten, die die Geschichte so widerlich lebendig machen, übrig sein. Und dann?

Für junge Menschen wird die NS-Zeit immer abstrakter

Ich bin 27 Jahre alt. Meine Großeltern haben die NS-Zeit erlebt, da waren sie Kinder. Seitdem hat meine Großmutter schwere Verbrennungen an den Beinen. Über das dunkelste Kapitel der Menschheit haben wir selten gesprochen. Für junge Menschen wie mich wird das Verbrechen immer abstrakter. Es rückt unaufhaltsam in die Vergangenheit. Gleichzeitig ist es aktueller denn je. Ich spüre eine Verantwortung. Doch die Zeit läuft uns davon. Exponate zerfallen, Zeitzeugen sterben aus. Über die Jugend heißt es, sie scheren sich mehr um Instagram-Schnappschüsse als Geschichte. Wie erleben junge Menschen heute einen Besuch in Auschwitz? Und wie gedenken sie in Zukunft? Verschwinden die Erinnerungen genauso wie die Haare?

Der Auftrag vom Abendblatt: Fasse deine Emotionen in Worte. Das letzte Mal habe ich mich so vor zwei Jahren gefühlt. Vor der Beerdigung meines Großvaters. Damals wusste ich, genau wie auf dem Weg nach Auschwitz, dass mich etwas erwartet, das mich auf Knopfdruck traurig machen wird. Eine Freundin beschrieb es treffend: „Ich wollte immer mal nach Auschwitz und es gleichzeitig niemals sehen.“ Das Lachen, das ich sonst so liebe, gehört nicht an Orte wie diese. Ehrlich gesagt, fürchte ich mich vor meiner Reaktion.

Ich weiß nicht, was Auschwitz mit mir machen wird. „Pass auf dich auf“, sagte ein Kollege vor meiner Abreise. Damit meinte er nicht, dass ich heil mit dem Flieger in Krakau landen und abends in den dunklen Straßen auf mich Acht geben soll. Vielmehr meinte er mein Herz. Ich solle auf meine Seele aufpassen, sagte er. Ich rechne fest damit, dass mich meine Emotionen überwältigen werden. Dass ich mit den Tränen zu kämpfen habe. Doch eine leise Stimme in meinem Kopf hat auch Angst, nicht betroffen genug zu sein.

Schulklassen albern herum, machen Gruppenfotos

Der Taxifahrer stoppt. Ich schlucke. Dann löst sich jegliches Gefühl von Bedrücktheit in Luft auf. Vor dem Eingang zum Stammlager hat sich eine 100 Meter lange Schlange aus Schulklassen gebildet. Sie wurden in Touristenbussen nach Auschwitz gekarrt. Die Jugendlichen, schätzungsweise zwischen 14 und 16 Jahren, albern herum und machen Gruppenfotos. Wortfetzen jeglicher europäischer Sprachen fliegen durcheinander. Zwei Jungs aus Polen schubsen sich, die Lehrerin ermahnt sie. Die Stimmung ist aufgelockert. Sie passt nicht zu einem Konzentrationslager. Aber ich bin nicht undankbar für ein wenig Leichtigkeit.

Vor ungefähr zehn Jahren habe ich in der Oberstufe das KZ in Neuengamme besucht. Ich kann mich noch daran erinnern, dass die große Lagerhalle einer Fabrik ähnelte. Mich haben die Schick­sale der 50.000 getöteten Menschen bewegt, aber die Grausamkeit war für uns Schüler nicht greifbar. Nur wenige Überreste ließen erahnen, was hier wirklich passiert ist. Mit Schulbüchern lernte ich Jahreszahlen auswendig und wer die Alliierten waren – doch warum die Nationalsozialisten die jüdische Bevölkerung auslöschen wollten, verstand ich nie. Bis heute nicht. „Man muss nach Auschwitz kommen“, sagt Janusz Wlosiak. Die Gedenkstätte sei am besten von allen erhalten. „Man kann Bücher lesen, Filme gucken, aber nur Auschwitz macht die Geschichte erlebbar.“

Selfies vor dem Schild "Arbeit macht frei"

Vor dem Schild „Arbeit macht frei“ zücken die meisten Besucher ihr Handy. Jung und Alt. Ein Mann in karierter Jacke posiert unter der zynischsten Lüge der Nazis. Arbeit machte nicht frei. Sie führte in den Tod. Auf seinen Ohren sitzt ein Audioguide, auf der Nase eine Sonnenbrille. Der Typ grinst, als würde er in Paris vor dem Eiffelturm stehen. Janusz Wlosiak kennt diese Szenen. „Manchmal muss man die Leute daran erinnern, wo sie sind“, sagt er.

Bis vor einigen Jahren durften die Touristen keine Fotos in der Gedenkstätte machen. Dann hat man sich der gesellschaftlichen Entwicklung ergeben. 6000 bis 10.000 Besucher pilgern am Tag nach Auschwitz. Nicht alle, um sich an das Verbrechen zu erinnern. Der sogenannte „Dark Tourism“ kommt, um sich zu gruseln. Auschwitz hat eine ähnliche Anziehungskraft wie Tschernobyl. Für Instagram-Fotos balancieren die Menschen über Gleise. Vor der Rampe. Wo Ärzte einst innerhalb von Sekunden über Leben und Tod entschieden haben.

Block 4. Die Haare. Janusz erzählt, dass die Nazis ein Kilo für 50 Pfennig an Textilfabriken verkauft haben. Erst in diesem Moment begreife ich, dass der Teppich, auf dem die Haare liegen, kein normaler Teppich ist. „Er besteht zu 80 Prozent aus menschlichem Haar.“ Ich kämpfe mit der Übelkeit. Mit dieser Reaktion meines Körpers habe ich nicht gerechnet. Traurigkeit und Wut foltern meinen Magen. Eine junge Besuchergruppe drängelt sich zügig an der Glasscheibe vorbei. Niemand bleibt stehen. Weil die Ausstellung sie nicht beeindruckt? Oder weil sie einfach zu grausam ist, um wahr zu sein?

40.000 Paar Schuhe, 2000 davon gehörten Kindern

40.000 Paar Schuhe, 2000 gehörten davon Kindern. Koffer, Brillen, Beinprothesen und Krücken. Alles ist in Massen ausgestellt. Sie machen die Dimension der Vernichtung greifbar. Die Dokumente schockieren mich. SS-Männer bestellten Öfen für 25.148 Reichsmark, um die Leichen zu verbrennen. Doch am meisten ergreifen mich die menschlichen Schicksale. Lange stehe ich vor einem Bild, das eine jüdische Familie zeigt. Ich blicke in ängstliche Kinderaugen. Und sehe Mütter, die nicht wissen, wie es weitergeht. Sie halten die Hände ihrer Kinder. Wollen stark für sie sein. Was ist ihnen durch den Kopf gegangen? Wie groß war ihre Angst?

In Block 27 begegne ich einer deutschen Schulklasse. Ein Guide erklärt in aller Grausamkeit die Vernichtung der Juden. Sie schmeißt mit Zahlen der Toten um sich, prügelt den Jugendlichen ein, dass sie erschossen, vergast, zu Tode gefoltert und verbrannt wurden. Mir wird das zu viel. Wie viel Wahrheit kann man Schulklassen zumuten? Ein junges Mädchen fotografiert Leichenberge von einem Bildschirm ab. Mich interessiert der Grund. Ich spreche sie an. „Die Fotos mache ich für mich“, sagt Anouk. „Es ist wichtig, dass wir uns erinnern. So etwas darf nie wieder passieren.“ Die 15-Jährige hat schon viele Bücher über die NS-Zeit gelesen. Sie gehört den Zeugen Jehovas an. Der Religionsgemeinschaft, die ebenfalls von Nazis verfolgt worden ist.

Die Häftlinge haben bei bis zu minus 20 Grad gearbeitet

Zwei Tage verbringt die Klasse aus Dortmund in Auschwitz. In einer Projektwoche in Deutschland hat sie sich auf den Besuch vorbereitet. Ich erlebe die Jugendlichen sehr diszipliniert. Sie wirken nachdenklich. Ihre Lehrerin, Nancy Meyer, ist bereits zum dritten Mal mit einer Gruppe hier. „Der Nationalsozialismus gehört zu unserer Identität. Im Ausland wird man als Deutscher immer noch auf diese Zeit angesprochen“, sagt sie. Ein KZ zu besichtigen, sei wichtig. Einerseits um sich zu erinnern. Andererseits wegen der aktuellen politischen Lage. Der AfD. Manche Schüler beschimpfen sich als „Jude“, erzählt Nancy Meyer weiter. „Nach dem Besuch in Auschwitz tut es ihnen leid ...“

Janusz führt uns in die Gaskammer. Zeigt auf Kratzspuren an den Wänden. Dem Zeugnis purer Verzweiflung. Wir gehen weiter zu den Öfen. Hier wurden die Leichen verbrannt. Die Röhren befinden sich hinter Absperrband. Es kommt mir vor, als würde es auch mich schützen. Davor, die Geschehnisse zu nah an mich heranzulassen. Ich fühle mich ausgehöhlt und leer. Es ist fast so, als würde man einen Horrorfilm nach dem anderen anschauen. Stumpft man irgendwann ab? Setzt ein Schutzmechanismus ein?

Die wahre Brutalität wartet auf die Besucher in Birkenau

Ich brauche eine Pause. Doch die wahre Brutalität wartet erst auf uns. Nach vier Stunden im Stammlager, das heute Museum ist, bringt uns ein Shuttlebus nach Birkenau. Ins Vernichtungslager. Hier haben die Nazis das Töten perfektioniert. Auf dem offenen Feld peitscht mir ein eisiger Wind ins Gesicht. Der Himmel hat sich zugezogen, es nieselt. Wie könnte an so einem Ort auch die Sonne scheinen? Bereits nach wenigen Minuten zittere ich am ganzen Körper. „Heute ist es warm“, sagt Janusz und schaut mir direkt in die Augen. Wir haben ein Grad plus. „Die Häftlinge haben bei bis zu 20 Grad minus auf dem Acker gearbeitet.“ Augenblicklich fühle ich mich schlecht. Lächerlich verwöhnt.

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Während das Stammlager wirkte wie eine Filmkulisse, surreal, ist Birkenau die ekelhafte Realität. Zerstörte Krematorien demonstrieren die Feigheit der Nazis. Kurz vor der Befreiung des Lagers wollten sie ihre grauenvollen Taten vertuschen und sprengten die Gebäude in die Luft. Wir stapfen Stufen hoch, halten vor Gedenktafeln inne. Auf ihnen steht in verschiedenen Sprachen: „Dieser Ort sei allezeit ein Aufschrei der Verzweiflung und Mahnung an die Menschheit.“

In diesem Moment wird mir klarer denn je, warum jeder Auschwitz gesehen haben sollte. Wer die Vergangenheit verstehen will, muss in die kalte Hölle geblickt haben. Janusz fragt, ob wir weitergehen wollen. Oder umkehren. Zurück in den Bus. Mein Körper will ins Warme. Aber dieser Ort ist zu wichtig, um auch nur einen Teil zu verpassen. Er verändert mich. Für immer. Macht mich sentimental. Gleichzeitig kämpferisch. Nie wieder werde ich schweigen. Nie wieder Ausgrenzung akzeptieren. Das ist die Pflicht aller nachfolgenden Generationen.

Einen Tag nach dem Besuch in Auschwitz schreibe ich diesen Text nieder. Was für eine Närrin ich war, geglaubt zu haben, dem Erlebten mit Worten gerecht werden zu können. Ich unterbreche ihn für die Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Yad Vashem. Als ich sie nicht erwartet habe, laufen mir Tränen über die Wangen. Ich schluchze. Bitterlich. Denke an Auschwitz. An all die Menschen, die ihr Leben verloren haben. Langsam begreife ich, was ich gesehen habe. „Never again. Nie wieder“, sagt Steinmeier. „Nie wieder“, flüstere ich.

Lesen Sie in der nächsten Folge am Dienstag auf abendblatt.de:

Wie können wir das Gedenken an Auschwitz bewahren?