Keitum. Traugott Giesen war 30 Jahre Pastor an St. Severin und ist eine Institution auf Sylt. Ein Gespräch über Gott, die Insel und Touristen.

Traugott Giesen ist eine Institution auf der Insel. Er war von 1976 bis 2005 Pastor an St. Severin in Keitum, Kolumnist für Zeitungen, Seelsorger auf Kreuzfahrtschiffen und Autor vieler Bücher. Auf seiner Website lebensmut.de bleibt er in Kontakt zu den Menschen. Er verkörpere die Insel, schrieb erst kürzlich die Neue Zürcher Zeitung am Sonntag. Ein persönliches Treffen musste der 82-Jährige absagen, er leidet noch an den Folgen einer Corona-Erkrankung. „Schreiben geht besser.“ Der Sylter hat nichts von seiner Sprachlust verloren.

Lieber Herr Giesen, wie geht es Ihnen? Und wie Ihrer Insel?

Traugott Giesen: Mir gehts hinreichend – mein Alter spüre ich daran, dass ich keine Lust mehr habe auf langes Reisen, war genug auf Schiffen als Pastor unterwegs. Die Insel leidet am Generationenumbruch. Mehr Hausärzte und mehr Restaurants schließen, Sylter und damit auch Christen werden auch immer weniger. Aber Sylt leuchtet immer noch und immer wieder.

Wo leuchtet es besonders?

Traugott Giesen: Immer wieder die lange Fahrt durch die Dünentäler nach Hörnum, da um die Südspitze gemächlich (nur bei Ebbe), dann im „Straend“ ein feines Mahl. Oder in Richtung List, die Runde Westerheide und das Gelände „Jugendheim Stadt Kassel“ erkunden. Sonntags 10 Uhr zu Pastor Chinnow in die Friesenkapelle Wenningstedt – später Spaziergang zur Kupferkanne in Kampen zum riesigem Kuchenteil mit Kakao.

Ich habe den Eindruck, der Insel fehlt gerade etwas Leichtigkeit – es wird viel geklagt über zu viele Touristen, zu viel Verkehr, zu viele Baustellen. Oder ist es nur die Herbstdepression?

Traugott Giesen: Ja, Klagen ist in, und Anlass gibt’s immer. Woher die Leichtigkeit auch nehmen, wenn wir Menschen es zurzeit schwer haben. Noch immer flanieren viele Menschen auf der Westerländer Promenade oder barfuß an der Flutkante, die Bänke bei Gosch sind voll: Wir alle suchen ja die kleine Feier und sei es mit Fischbrötchen. Beglückend, wie viele junge Eltern ihrem Nachwuchs die Welt zeigen. Kinder und Hunde, mehr denn je Speicher der Lebensfreude.

Sie haben auch aus dem Glauben Lebensfreude gezogen. Sie sagen: Jeder braucht einen Glauben, der ihn hält und trägt. Viele haben den Glauben verloren – sind wir deshalb so halt-los?

Traugott Giesen: Sicher glauben Viele an eine sich vervollkommnende Weltgeschichte aus menschlicher Fortschrittsfähigkeit. Aber dieser Glaube ist durchkreuzt durch die vielen aktuellen Katastrophen. So müssen wir wieder fromm werden in dem Sinne, dass uns der Möglichkeitssinn gestärkt wird. Und da weiß ich keine bessere Quelle als Gott, „Inbegriff gnadenreicher Potenzialität.“ Weil ich mich und dich als Kind Gottes glaube, weiß ich von der Heiligkeit allen Lebens und dem Kommende Reich Gottes, da „Fried und Freude lacht.“ Ich sehe darum die Gegenwart als Wegstück zu diesem Reich, inklusiv aller Umwege und Schlaglöcher. Und weiß meine, deine Kraft als Begabung, an heiler Zukunft mitzubauen. Und das gegen alle gegenteilige Nachrichten. Skeptisch? Da halte ich mich an Elias Canetti: „Der Zweifel macht sich mehr vor als der Glaube.“

Sie haben in ihrer Zeit in Keitum erlebt, dass Urlauber oft auf Sinnsuche gehen. Liegt das an der Insel – oder dem Mehr an Muße?

Traugott Giesen: Vielleicht nicht so sehr auf allgemeine Sinnsuche. Aber doch lauscht man mehr nach innen, sortiert seine Interessen, klärt seine Beziehungen; überlegt dann auch Sinn und Unsinn des eigenen Tuns. Das Riesenmeer, der weite Horizont, die unberührten Dünentäler, der weite, leere Strand helfen, innen aufzuräumen. Auch kann einem aufgehen, was man alles nicht braucht. Zur inneren Sortierung hilft auch eine Zielüberprüfung: Was will ich überhaupt? Um das zu klären hilft auch ein Kirchenbesuch: Allein das warmgebetete Gemäuer einer alten Kirche kann die eigene Seele dankbar machen. Und ein Gottesdienst mit lebendiger Gemeinde und wachem Pastor/Pastorin kann uns die Bewusstseinswurzeln neu wässern.

Traugott Giesen war einst Pastor in der Kirche St. Severin im Friesendorf Keitum auf Sylt. (Archivbild von 2005).
Traugott Giesen war einst Pastor in der Kirche St. Severin im Friesendorf Keitum auf Sylt. (Archivbild von 2005). © picture-alliance/ dpa/dpaweb | DB Friedhelm Caspari

Warmgebetet klingt sehr schön – denken Sie da an St. Severin?

Traugott Giesen: Ja, das Kirchlein auf dem höchsten Sylter Geestkern hat es in sich. Um sie herum der Friedhof, auf dem ehemals alle Kapitäns-, Fischer- und Bauernfamilien von Keitum bis List ihr eigenes großes Grab hatten. Damals ging aus jeder Familie sonntags mindestens ein Mitglied zur Kirche, auf die eigene Bank, und immer stattete man den Heimgegangenen – ja so hieß das damals noch – einen Besuch ab. St. Severin war das Gemeindehaus, hier feierte man die Sonntage und die Jahresfeste, hier hingen die Totentafeln der Weltkriege, hier beging man die Geburten mittels Taufe, hier wurde man zum Erwachsenwerden eingesegnet, hier heiratete man und hier wurde man mit Dorfgeleit zu Grabe gebracht. An St. Severin dürfte ich 29 Jahre lebendige Gottesdienste halten. Es brauchte zehn Jahre, bis die Kirche sonntags gut gefüllt war mit erwartungsvollen Menschen, im Sommer wurde auch nach draußen übertragen – es war eine Freude. Das höchste Kompliment der Einheimischen war: „Die Gäste kommen gern zu Dir.“

Sylt und die Gäste, das scheint mir ein schwieriges Verhältnis. Die Insulaner brauchen sie, aber sind ihrer auch überdrüssig. Sie sind seit 1976 auf Sylt, wie würden Sie das Verhältnis beschreiben?

Traugott Giesen: Sylt und die Gäste, sie brauchen doch einander und wissen das. Ohne Gäste wäre Sylt was Landwirtschaftliches mit wenigen Einheimischen, nicht auszudenken. Jetzt sind wir eine bunte Mischung aus Erstwohnsitzern, Feriengästen, Zweitwohnungsbesitzenden, Tagesgästen und den vielen Handwerkern und Verkäuferinnen vom Festland, neuerdings auch ein paar schillernde Punker. Natürlich sind die beiden Haupteinkaufssträßchen im Hochsommer bei bedecktem Himmel ziemlich drängelig, aber da stören sich nur die Nichtsylter; die Einheimischen entgehen den Vielen eben durch frühen Einkauf. Nur wegen der Gäste haben wir einen Intercity-Anschluss, Aldi und Lidl, Läden aller Art gut bestückt. Ärger gibt es nur, wenn viele auf einmal abreisen wollen und die Straßen zur Autoverladung verstopfen. Aber dafür wissen die Einheimischen die Schleichwege und wenn sie zur selben Zeit von der Insel müssen, dann haben sie langfristig die Fähre nach Römö gebucht. Also überhaupt kein schwieriges Verhältnis, es gibt sogar eine „Sylter Rücksichtnahme“, die hier eingeübt wird. Zum Beispiel hat sich das Abschalten der Ampeln an zwei zentralen Kreuzungen glänzend bewährt, die mit farbigen Punkten gekennzeichnet sind und ohne Unfall seit Monaten zum höflichen Umgang und Übergang anleiten. Traurig scheint mir einzig der stetige Verlust von Einheimischen. Sie müssen oder wollen spätestens im Erbfall verkaufen und haben dann für ihre angenommen drei Kinder auf dem Festland drei Häuschen. Man kann jeden Weggehenden verstehen und er verlässt Sylt ganz sicher mit blutendem Herzen.

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  • Sie haben viel vom Land gesehen, waren Pastor in Neukölln, bevor Sie nach Sylt kamen. Haben Sie nach Ihrer Pensionierung 2005 mit dem Gedanken gespielt, die Insel zu verlassen?

    Traugott Giesen: Als meine Frau Ingrid und ich die Pensionierung von Weitem kommen sahen, erwogen wir, wieder nach Berlin zurückzukehren wegen bezahlbarem Wohnraum und alten Freunden. Eine altgewordene Freundin wollte uns hier behalten und versprach uns ihr Haus. Tatsächlich erleben wir die große Gnade eines geschenkten Hauses. Und dies mit gutem Gewissen, auch als Ausgleich für Jahrzehnte ehrenamtliche Arbeit meiner Frau. Auf Sylt leben dürfen ist trotz langem dunklen Winter wunderbar.

    Nun naht der Winter – was macht ihn auf der Insel so besonders?

    Traugott Giesen: Auch im Winter ist Sylt oasig. Man ist dann hier fast allein, am Strand kilometerweit; auf den Straßen trifft man endlich die Nachbarn. Man lädt sich gegenseitig ein, wenn man Kraft hat. Ja, es ist ein großes Ausruhen und in die Sonne fahren, denn sommers ist hier harte Arbeit angesagt. Verwöhnen ist anstrengend: Die Gäste verlangen Aufmerksamkeit für ihr gutes Geld. Im Winter ist die Insel karg und lange dunkel, aber beglückend für die, die Sylt besonders lieb haben. Sie haben ihre Schatzinsel fast ganz allein für sich.