Westerland. Zehn Thesen von „Merret reicht's“: Warum junge Familien wegziehen und neue Ferien- oder Zweitwohnungen verhindert werden müssen.
Was bewegt die Menschen, die auf Sylt leben? Wie stehen sie zu den drängenden aktuellen Fragen wie der akuten Wohnungsnot, dem geplanten Baustopp für neue Ferienwohnungen durch das gerade beschlossene Beherbergungskonzept und der Zukunft des Tourismus? Wer das Ohr ganz nah an der Basis hat, ist die Organisation „Merret reicht's – aus Liebe zu Sylt“.
Wie es die Bürgerbewegung selbst beschreibt, war es ein Leserbrief von der Goldschmiedin Birte Wieda aus Keitum in der Sylter Rundschau am 15. Juni 2020, der alles ins Rollen brachte. Viele Einheimische teilten ihre Forderungen nach mehr Mitbestimmung, nach einem sorgsameren Umgang mit der Insel. So entstand das lose Netzwerk, das derzeit rund 180 Mitglieder stark ist und auch medial immer stärker beachtet wird. Im Gespräch mit dem Abendblatt nahm sich die Initiative ausführlich Zeit. Herausgekommen sind dabei zehn Thesen.
Sylt: Was passiert, wenn keine Restaurants oder Hotels öffnen können?
1. Sylt hat die nächste Eskalationsstufe erreicht. „Die Menschen finden keine Wohnung auf der Insel, die Arbeitgeber wiederum suchen händeringend Mitarbeiter. 1000 Stellen sollen laut Sylt-Marketing-Geschäftsführer Moritz Luft derzeit unbesetzt sein. Wir fragen uns: Was kommt danach? Was passiert mit so einer Insel, wenn Restaurants oder Hotels nicht mehr öffnen können, weil sie keine Mitarbeiter mehr finden? In diesem Jahr hat sich die Situation verschärft, die nächste Eskalationsstufe ist erreicht. Deshalb ist das gerade vom Bauausschuss der Gemeinde Sylt beschlossene Beherbergungskonzept ein so wichtiges Thema hier, es ist bei jedem angekommen. “
2. Sylt braucht das Beherbergungskonzept für alle Sylter Gemeinden. „Die Zurückhaltung bei den anderen vier Amtsgemeinden bei diesem Thema war bisher deutlich zu spüren – es ist nirgendwo diskutiert worden. Unser Wunsch lautet, dass sich die Amtsgemeinden ganz dringend auf den Weg machen, das Beherbergungskonzept zu übernehmen. Sollte man den Bau von Ferienwohnungen nur in Westerland restriktiv behandeln, wären die anderen Gemeinden nur umso mehr betroffen von der Verdrängung von Dauerwohnraum.“
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3. Der Umwandlungsprozess in Ferienwohnungen muss sofort gestoppt werden. „Laut einer Studie, die im Zusammenhang mit dem Bauprojekt Dünenpark in List entstanden ist, werden bis 2030 2000 bis 2500 neue Dauerwohnungen benötigt, je nach Bevölkerungsentwicklung. Wir verlieren jedoch pro Jahr 100 Dauerwohneinheiten durch Abriss, Aufgabe, Weggeben, Neubau oder auch Umwandlung. Wir schaffen es aber nicht, 300 Wohnungen im Jahr zu bauen, wir haben auf der Insel einfach nicht den Platz. Zu lösen ist das Problem nur, indem wir den Umwandlungsprozess stoppen, um diese 100 Wohnungen nicht zu verlieren. Und wir müssen damit anfangen, den Prozess rückgängig zu machen.“
Junge Familien verlassen Sylt und ziehen aufs Festland
4. Der Rückgang von Dauerwohnraum vertreibt gerade junge Familien von der Insel. „Die negativen Entwicklungen auf der Insel haben viele negative Folgen, zum Beispiel den Rückgang an Ehrenämtlern. Ob bei der Feuerwehr oder bei Sportvereinen. Die politischen Parteien haben große Nachwuchssorgen, weil es an Menschen mangelt, die sich engagieren könnten. Was aber vor allem auffällt: In vielen Straßenzügen fehlen die Nachbarn. Es gibt niemanden, der mal die Blumen gießen kann oder ein Ei borgt. Gerade junge Familien merken schnell, dass sie auf Sylt kein Umfeld vorfinden, um fröhlich ihre Kinder aufzuziehen. Ein Haus können sie sich sowieso nicht leisten. Vor dem Hintergrund ziehen viele junge Menschen auf das Festland, weil sie sagen: Hier habe ich ein normales Umfeld für mein Kind inklusive zum Beispiel Kinderturnen.“
5. Es gibt Möglichkeiten, auch die Zunahme von Zweitwohnungen zu verhindern. „Das Wachstum im Bereich der Zweitwohnungen stört ebenfalls das soziokulturelle Leben auf der Insel. Im Baurecht gibt es durchaus die Möglichkeit der Unterscheidung zwischen reinem Dauerwohnraum und Zweitwohnungen. Es ist möglich, in Bebauungsplänen Gebiete auszuweisen, dass der- oder diejenige den Erstwohnsitz auf Sylt haben müssen. Natürlich stellt sie hier sofort die Frage, wie das kontrolliert werden kann.“
6. Auch hohe Erbschaftssteuern führen zum Verlust von Dauerwohnraum. „Erben Kinder ein Haus von ihren Eltern auf Sylt, fallen aufgrund der immensen Werte von Immobilien oft hohe sechsstellige Summen an Erbschaftssteuer an. Wenn dazu noch die Schwester oder der Bruder seinen Erbanteil erhalten soll, können die Bewohner das Haus nicht halten. Viel einfacher ist es, den Gewinn durch den Hausverkauf einzustreichen und aufs Festland zu ziehen, um dort für viel weniger Geld ein neues Zuhause zu erwerben.“
Bürgernetzwerk Merret will helfen, Fehlentwicklungen auf Sylt zu stoppen
7. Merret will den Tourismus retten, nicht verhindern. „Wir haben uns im Laufe der beiden Jahre einen guten Ruf erarbeiten können, weil wir an einer sachlichen Aufarbeitung der Themen interessiert sind. Wir sind nicht gegen Tourismus, aber es geht um die Art und Menge. Wir brauchen eine Begrenzung und müssen die Missstände anpacken, Fehlentwicklungen stoppen. Nur so können wir den Tourismus retten. Gäste kommen ja hierher, um auch Kontakt zu Einheimischen zu suchen. Die meisten Urlauber kommen nach Sylt, weil sie die Natur genießen wollen, mit sich selbst in Berührung kommen wollen. Diese Beweggründe dürfen wir nicht vergessen.“
8. Mehr Qualität statt Quantität. „Sylt ist ein High-End-Markt. Diesem Markt kann man nur mit dem Gedanken „mehr Qualität statt Quantität“ gerecht zu werden. Insofern ist der Stopp von weiteren Ferienwohnungen notwendig. Wachstum funktioniert nur über mehr Qualität, bessere Ausstattung, besseren Service und mehr Nachhaltigkeit. Und genau das suchen viele Sylturlauber.
Merret kritisiert: Sylt war und ist zu voll
9. Der Frust der Insulaner und Gäste wächst – wir müssen uns Themen wie Nachhaltigkeit und Umweltbelastung stellen. "Was sich bereits in der Vor-Corona-Zeit abzeichnete, wurde in der Corona-Zeit umso deutlicher: Die Tragfähigkeit der Insel ist begrenzt. Die Insel war und ist zu voll. Das Verkehrschaos ist unübersehbar und wird um so größer, je mehr Gästebetten geschaffen werden. Die Lebensqualität sinkt, weil sich Radfahrer und Fußgänger während der Saisonmonate nicht mehr unfallfrei bewegen können. Das ist nicht nur ein vages Gefühl, sondern evident und führt zu Akzeptanzproblemen bei Einheimischem wie auch Gästen. Was sich auch viele fragen, was die Menge an Tourismus betrifft: Brauchen wir ein Popkonzert, für das alles auf die Insel gekarrt werden muss? Oder sollte das nicht lieber in Hamburg stattfinden? Wir denken dabei an die Kosten und die Themen Nachhaltigkeit, Verkehr, Umweltbelastung.“
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10. Merret lehnt das „Amtsmodell“ auf Sylt ab. „Wir hegen keine Hoffnung in das Modell, im Gegenteil. Ja, wir haben Probleme in der Verwaltung. Ein neuer Amtsdirektor allein wird das Problem jedoch nicht lösen. Wir haben kommunikative Schwierigkeiten zwischen den vier Amtsgemeinden und der Gemeinde Sylt in Westerland. Diese werden sich aber nicht auflösen, nur weil ein anderer Kopf darüber steht. Diese kommunikativen Probleme müssen wir lösen. Da hilft kein Umbau der Verwaltung. Alle Diskussionen zu diesem Thema scheinen eher eine Nebelkerze zu sein, um von den eigentlichen Aufgaben abzulenken."