Kiel. Grüne stürzen im nördlichsten Bundesland ab, die CDU legt zu, die SPD stabilisiert sich. Und dann gibt‘s ja noch die AfD. Eine Analyse.
Die CDU in etwa so stark wie Rot-Grün zusammen, die AfD (neben der Union und der Wagenknecht-Partei) die große Gewinnerin, die Grünen mit dramatischen Einbrüchen und die SPD stabilisiert auf niedrigem Niveau. So lässt sich zusammenfassen, wie die Schleswig-Holsteinerinnen und Schleswig-Holsteiner am Sonntag bei der Europawahl abgestimmt haben.
Was folgt aus dem Wahlausgang für die weitere Zusammenarbeit von CDU und Grünen im Kabinett? Wie kommt die SPD aus dem Tal der Tränen? Welche Rolle spielt die AfD? Das Abendblatt analysiert den Wahlausgang mit Experten.
Nach der Europawahl in Schleswig-Holstein – die Gewinner und Verlierer im Norden
Die CDU kam in Schleswig-Holstein auf 30,2 Prozent der Stimmen. Damit liegt sie in etwa auf dem Niveau der Union bundesweit. Allerdings fallen ihre Zuwächse im Norden mit vier Prozentpunkten deutlicher aus. Die Grünen sind mit einem Minus von 13,7 Prozentpunkten die großen Verlierer auch im Norden. Nach Platz 1 vor fünf Jahren landeten sie mit 15,4 Prozent jetzt nur noch auf Rang 4. Die SPD (Platz 2) verlor nur minimal auf 16,7 Prozent, die AfD steigerte sich deutlich auf 12,2, die FDP landete bei 6,3 Prozent. Auch im Hamburger Umland liegt die CDU von Ministerpräsident Daniel Günther um Längen vor der SPD und den Grünen, mit denen sie bei der Europawahl 2019 noch um Platz 1 konkurrierte.
Die großen Verlierer der Wahl: die Grünen
Aus Sicht des Kieler Politikwissenschaftlers Wilhelm Knelangen zeige das Wahlergebnis in Schleswig-Holstein noch stärker als die Bundeszahlen, wie schwach die Grünen abgeschnitten hätten. „Sie haben ihr Ergebnis beinahe halbiert.“ Nach der Europawahl 2019 hätten viele Grüne gedacht, auch Ministerpräsident Daniel Günther aus dem Amt drängen zu können. „Der Traum ist ausgeträumt. Stattdessen sind die Grünen auf dem Niveau gelandet, das sie zuletzt vor zehn Jahren hatten“, sagt der Politikexperte der Christian-Albrechts-Universität. Knelangen nennt das Wahlergebnis eine Zäsur für die Grünen. „Nachdem es lange immer aufwärtsging, scheint es jetzt nach unten zu gehen.“
Knelangen erwartet, dass wegen des schlechten Wahlergebnisses der Grünen und der schwierigen Haushaltslage die Widersprüche in der Landesregierung zunehmen werden. „Es geht schlicht nicht mehr, inhaltlichen Streit mit Geld zu überbrücken. Die Grünen werden deutlich machen wollen, wofür sie inhaltlich auch im Gegensatz zur CDU stehen.“
Daniel Günther fehlt nur ein Sitz an der absoluten Mehrheit. Er könnte mit jeder anderen Partei eine Regierung bilden, erinnert Knelangen. Von daher seien die Möglichkeiten der Grünen, die CDU unter Druck zu setzen, begrenzt. Zudem habe Günther kein Interesse, dass Schwarz-Grün auseinanderbricht. „Aber die Spannungen werden zunehmen, je näher die Bundestagswahl rückt“, glaubt Knelangen.
Europawahl in Schleswig-Holstein: Grüne „fallen auf Kernklientel zurück“
Manfred Güllner beobachtet die politische Szene Schleswig-Holsteins seit vielen Jahren intensiv. Der Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa spricht von einem „Absturz der Grünen“. Auf dem selbst ernannten Weg zu einer Volkspartei seien die Grünen jetzt auch im nördlichsten Bundesland wieder auf ihr „Kernklientel zurückgefallen“, so Güllner. Einen Grund für den Absturz sieht der Meinungsforscher in der schwindenden Attraktivität der Grünen unter den Jungwählern.
Diese Interpretation geben auch die Zahlen der sogenannten „Juniorwahl zur Europawahl“ her. Das ist ein bundesweites Schulprojekt. In Schleswig-Holstein haben fast 40.000 Jugendliche aus 216 Schulen mitgemacht. Sie hatten sich zuvor im Unterricht intensiv mit der Wahl und den antretenden Parteien beschäftigt. Mitgemacht haben Schülerinnen und Schüler ab Klasse 7. Bei ihnen landeten die Grünen sogar nur auf Rang 4 – noch hinter der AfD. Die schleswig-holsteinischen Schüler hätten die CDU (19,9 Prozent) auf Platz 1 gewählt, gefolgt von der SPD (14,3) der AfD (13,5) und den Grünen mit nur neun Prozent Zustimmung.
Für das Absacken der Grünen in der Gunst junger Wähler sieht Politikwissenschaftler Knelangen vor allem zwei Gründe: Zum einen hätten sich neben dem „Klimawandel“ und „Klimaprotest“ auch andere Themen in den Vordergrund gedrängt. Und zum anderen würden die Grünen bei diesem Thema nicht mehr als besonders kompetent wahrgenommen.
Auf niedrigem Niveau stabilisiert: die SPD
Die schleswig-holsteinische Parteichefin Serpil Midyatli hat es am Sonntag trotz des Stimmungstiefs ihrer Partei infolge der Arbeit der Ampel zumindest geschafft, die SPD im Norden nicht noch weiter absacken zu lassen. Die Verluste gegenüber der Europawahl 2019 sind mit 0,4 Prozentpunkten minimal. Midyatli nannte es bitter, dass so viele ehemalige SPD-Wähler gar nicht mehr abgestimmt hätten. Midyatli, die auch Bundes-Vize ihrer Partei ist, sieht die Verantwortung für das SPD-Ergebnis in Berlin. Sie forderte die Ampel-Koalition auf, den öffentlichen Streit beizulegen. Die Wähler wüssten nicht, wofür die Ampel stehe, mahnt Midyatli ein gemeinsames Leitbild der Bundesregierung an.
Die SPD ist zwar „auf niedrigem Niveau stabilisiert“ und formell wieder zweitstärkste Kraft in Schleswig-Holstein, aber sie verfüge kaum über Machtperspektiven. Das sagt Politikwissenschaftler Knelangen. Auch aus seiner Sicht hat vor allem das desaströse Erscheinungsbild der Ampel-Koalition auf Bundesebene der SPD im Norden deutlich geschadet. „Das Vertrauen in die Ampel ist zerbrochen“, sagt Knelangen.
Aber auch auf Landesebene sieht er großen Handlungsbedarf. Die SPD im Kieler Landtag habe bislang ihre Rolle noch nicht gefunden. „Sie muss noch ein neues, starkes Selbstbewusstsein und Selbstverständnis als Oppositionsführerin entwickeln. Das ist noch nicht vorhanden.“
SPD-Urgestein Ralf Stegner nennt Wahlergebnis „vollkommen enttäuschend“
Bislang sei es der SPD noch nicht gelungen, die Widersprüche und Angriffspunkte der schwarz-grünen Landesregierung zum Thema zu machen. „Damit meine ich insbesondere die Frage nach einer soliden Haushaltspolitik. Mit welchem Geld will die Regierung eigentlich welche Projekte auf den Weg bringen? Wie viel Schulden soll das Land aufnehmen? Mit welchen Haushaltstricks arbeitet Schwarz-Grün? Welche Prioritäten will diese Regierung setzen? Hier könnte die SPD angreifen. Aber sie wird dazu öffentlich kaum wahrgenommen“, sagt Knelangen.
SPD-Urgestein Ralf Stegner, der für den Wahlkreis Pinneberg im Bundestag sitzt, nennt das Wahlergebnis für seine Partei in Schleswig-Holstein „vollkommen enttäuschend“. Die SPD brauche auf Bundes- und auf Landesebene ein klareres soziales Profil. „Wir müssen die Themen Arbeit, Wohnen, Rente und Gesundheit in den Mittelpunkt stellen – und das mit einer klaren, einfachen und verständlichen Sprache“, fordert Stegner.
Gerade einmal 10,7 Prozent der Wahlberechtigten hätten am Sonntag bundesweit SPD gewählt, hat Forsa-Chef Manfred Güllner analysiert. Er hält Überlegungen von SPDlern wie Ralf Stegner, die Sozialpolitik in den Fokus zu stellen, für grundfalsch. „Die SPD hat noch keine Wahl mit Umverteilungsthemen gewonnen. Wahlen gewinnt man nicht mit Themen wie dem Bürgergeld, sondern man gewinnt sie aus der Mitte der Gesellschaft heraus“, sagte Güllner. Das Problem aus seiner Sicht: Die SPD sei in der Mitte der Gesellschaft gar nicht mehr verankert.
Daniel Günther – selbst unter SPD-Anhängern beliebter als Kämpfer
Bei einer seiner jüngsten Meinungsumfragen, hat der Forsa-Chef in Schleswig-Holstein auch die Beliebtheit von Ministerpräsident Daniel Günther mit der des gleichaltrigen Kieler Oberbürgermeisters Ulf Kämpfer vergleichen lassen. Kämpfer, der zweimal in Folge in Kiel direkt gewählt wurde, gilt vielen in der Nord-SPD als ein Hoffnungsträger, der bei der nächsten Landtagswahl für die SPD gegen Günther antreten könnte. Und so wollte Forsa in der repräsentativen, bisher unveröffentlichten Umfrage, die dem Abendblatt exklusiv vorliegt, von den Wahlberechtigten wissen, für welchen der beiden Politiker sie sich entscheiden würden. Herausgekommen ist ein für Kämpfer desillusionierendes Ergebnis: 65 Prozent würden demnach Günther wählen und nur elf Prozent den möglichen Herausforderer. Der Rest der Befragten hat sich nicht festgelegt.
Selbst unter den SPD-Anhängern ist Günther um Längen beliebter als Kämpfer: 62 der befragten SPD-Fans würden den CDU-Politiker wählen, aber nur 17 den eigenen Mann. Kämpfer hatte kurz zuvor erst in einem Gespräch mit „Table.Briefings“ von einer „starken Bewährungsprobe für unsere Demokratie“ gesprochen, die ihn motiviere. „Ich spüre in mir den starken Drang, mich weiter für eine offene, solidarische und plurale Demokratie einzusetzen“, sagte der Kieler Sozialdemokrat und Ehemann der Grünen Landesvorsitzenden Anke Erdmann. Angesichts der Umfragewerte hält Forsa-Chef Güllner nichts davon, den 51-jährigen Kämpfer einen „Hoffnungsträger der SPD“ zu nennen.
Europawahl 2024: Die CDU hat in Schleswig-Holstein vier Prozentpunkte zugelegt
Die CDU ist klar stärkste Partei und „erstaunlich stabil“, sagt Wilhelm Knelangen. Sie kommt fast auf das Ergebnis von SPD und Grünen in der Addition. „Es gibt eine sehr starke CDU im Land und drei weitere Parteien etwa auf einem Niveau.“ Manfred Güllner, der Forsa-Chef, hat die CDU-Ergebnisse in den Bundesländern miteinander verglichen. Demnach schneidet die CDU in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Hessen, wo die Partei jeweils den Ministerpräsidenten stellt, deutlich besser ab als in den Bundesländern, in denen sie in der Opposition verharrt. Für Güllner ist das ein Indiz für die hohe Zufriedenheit der Wählerinnen und Wähler mit den CDU-Regierungschefs Günther, Wüst und Rhein. Nicht Parteichef Friedrich Merz, sondern die drei Ministerpräsidenten sieht der Meinungsforscher als die eigentlichen Sieger auf CDU-Seite.
Solchen Aussagen würde Ministerpräsident Daniel Günther kaum widersprechen. Er ist loyal, aber sein Verhältnis zu seinem Bundesparteichef Merz gilt als eher unterkühlt. „Bei den Zugewinnen im Vergleich zu 2019 liegen wir mit vier Prozent im Land deutlich über dem Bundestrend“, betont Günther denn auch in seiner Wahlanalyse. „Als CDU sind wir landes- und bundesweit stärkste Kraft. Das ist auch unser Anspruch. Platz 1 gehört der CDU“, sagte der CDU-Landeschef.
Die Rechtsaußen von der AfD sind die Gewinner der Europawahl 2024
Die Wirtschaft im Norden sieht das Erstarken extremer oder europafeindlicher Parteien mit großer Sorge. „Das Ergebnis ist ein alarmierender Weckruf für die Ampel-Koalition in Berlin, die auch aus Sicht der norddeutschen Wirtschaft bisher die völlig falschen Akzente gesetzt hat“, sagte der Präsident des Unternehmensverbands UVNord, Philipp Murmann, am Montag. Die Menschen machten sich Sorgen um die Wirtschaft, ihre Arbeitsplätze und die innere Sicherheit. Doch geboten bekämen sie Lösungen zum Cannabiskonsum und zur Geschlechtsidentifizierung.
Die AfD ist – neben der CDU und der Wagenknecht-Partei BSW, die im Norden aus dem Stand auf 4,1 Prozent kam – die große Gewinnerin der Europawahl in Schleswig-Holstein. Ein Plus von 4,7 Prozentpunkten brachten 12,2 Prozent stimmen landesweit. Ein tieferer Blick in die Zahlen geht von der Stadt Neumünster mit 17,4 Prozent oder einem Plus von 7,8 Prozentpunkten beispielsweise an die strukturschwache Westküste des Landes. Zwischen Büsum im Norden des Kreises Dithmarschen und Brunsbüttel im Süden erreicht die AfD in einzelnen Wahlbezirken eine so hohe Zustimmung wie im Osten Deutschlands: 21,5 Prozent in Friedrichskoog, 22,2 in St. Michaelisdonn oder 27,2 in Marnerdeich.
In Schleswig-Holstein haben mehr Menschen die AfD gewählt als in Hamburg
Angesichts dieser Zahlen sollten aus Sicht des Kieler Politik-Wissenschaftlers Wilhelm Knelangen die Politiker im Norden ihr Narrativ vom einzigen deutschen Landtag ohne AfD fallen lassen. Das wird unter anderem von Ministerpräsident Daniel Günther immer wieder bedient. „Das Ergebnis vom Sonntag zeigt: In Schleswig-Holstein haben deutlich mehr Menschen die AfD gewählt als in Hamburg. Die Zustimmung im Land bewegt sich in etwa auf dem Niveau der anderen westlichen Bundesländer“, sagt Knelangen. „Wir erleben eine Form der Normalisierung der AfD-Ergebnisse.“
In seiner Wahlanalyse geht Ministerpräsident Günther explizit auf den AfD-Erfolg ein: Trotz der Freude über das eigene Ergebnis seien die „Werte für die AfD, die in ihrem Wahlkampf gegen Europa und gegen internationale Zusammenarbeit Stimmung gemacht hat, ein bitteres Ergebnis. Das Erfolgsrezept gegen die AfD kann für alle demokratischen Parteien nur lauten: lösungsorientiertes Arbeiten und mehr Miteinander als Gegeneinander“, so Günther.
Stegner zum Abendblatt: Themen Migration und Frieden nicht der AfD überlassen
SPD-Politiker Stegner fordert im Gespräch mit dem Abendblatt, die Themen Migration und Frieden nicht der AfD und der Wagenknecht-Partei zu überlassen. „Ausländer, die bei uns arbeiten, sich integrieren und Gesetze beachten, müssen eine Chance bekommen. Wer bei uns aber als Ausländer schwere Straftaten begeht, den müssen wir abschieben. Und das müssen wir den Menschen im Land auch klar sagen“, fordert der ehemalige Landesvorsitzende der SPD.
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Aus Sicht der SPD-Chefin Serpil Midyatli ist der Zulauf der in einigen Bundesländern gesichert rechtsextremen AfD „mehr als nur besorgniserregend“. Deutschland drohe eine tiefe Spaltung. Die AfD betreibe eine Politik zugleich gegen die Menschen, die auf einen starken Staat angewiesen seien, und gegen die Mitte der Gesellschaft.