Kiel/Hamburg. Nach dem Urteil gegen Ibrahim A.: Das sagen die Eltern der getöteten Ann-Marie, das sagt der Regierungschef. Eine Bilanz des Prozesses.

„Es war ein Racheakt an unbeteiligten Opfern.“ Auf diesen einen Satz lässt sich eine vierstündige Urteilsbegründung zusammenfassen. „Es war ein Racheakt an unbeteiligten Opfern“, der zwei unbeteiligten Teenagern das Leben kostete, eine Frau in den Selbstmord trieb, vier Menschen schwer verletzte und viele weitere Fahrgäste der Regionalbahn 70 von Kiel nach Hamburg traumatisierte. Johann Lohmann, Vorsitzender Richter am Landgericht Itzehoe, hat diesen Satz gesprochen, als er am Mittwoch den Angeklagten zu lebenslanger Haft verurteilte. Zudem attestierte er Ibrahim A. eine „besondere Schwere der Schuld“. Mehr geht im deutschen Rechtsstaat nicht. Eine Entlassung des Messerstechers von Brokstedt nach 15 Jahren Haft ist damit nahezu ausgeschlossen.

Die juristische Aufarbeitung des Falls ist damit nach 39 Prozesstagen beendet, sofern Ibrahim A.s Verteidiger Björn Seelbach nicht noch Revision einlegt; die politische ist es noch lange nicht. Viele der Maßnahmen, die Schleswig-Holstein und Hamburg über Bundesratsinitiativen angestoßen haben, sind auch 16 Monate nach der Tat noch in der Schwebe. Mal ist es Bayern, das Maßnahmen im Bundesrat blockt, mal fehlt aber auch im Norden der politische Wille oder die Durchsetzungskraft.

Immer wieder hat das Abendblatt über das kollektive Behördenversagen, das der Tat vorausging, berichtet. Hat die politische Aufarbeitung intensiv begleitet, hat viele der Verhandlungstage seit Juli 2023 besucht, hat mit Opfern der Bluttat gesprochen. Was ist seit dem 25. Januar 2023 passiert? Wie geht es den Opfern heute? Was sagen die Betroffenen?

Prozess um den Messerangriff von Brokstedt: Die Opfer-Familien

Es ist kalt, grau und unangenehm an diesem Mittwoch, als die 17-jährige Schülerin aus Elmshorn und der 19 Jahre alte Bahn-Azubi aus Brokstedt nachmittags in Neumünster die Regionalbahn nehmen. Acht Minuten dauert die Fahrt zu Dannys Bahnhof, acht Minuten, die Ann-Marie und Danny, frisch verliebt, wie sie sind, in ihren Sitzen noch für sich haben. Denken sie.

Ann-Marie, die die 1950er- und 1960er-Jahre liebte und sich kleidete wie Grace Kelly und Audrey Hepburn, war eine lebensfrohe, hübsche junge Frau. So werden ihre Eltern sie auch immer vor sich sehen. Und nicht so, wie Ibrahim A. sie hinterlassen hat. Die Rechtsmediziner zählten bei der Obduktion 27 tiefe Wunden, 16 allein in Gesicht und Hals. Die Verletzungen waren so schlimm, dass der Sarg geschlossen bleiben sollte. „Doch als wir im Leichenschauhaus ankamen, stand er offen. Sie hatten Ann-Marie sehr hübsch hergerichtet und aufgebahrt. Wir haben ihr noch einmal die Hände streicheln können. Die waren eiskalt in den weißen Handschuhen, die man ihr übergestreift hatte“, erinnert sich Michael Kyrath, Ann-Maries Vater.

Ann-Maries Vater Michael Kyrath im Wohnzimmer der Familie, wo Bilder an die beiden Todesopfer erinnern.
Ann-Maries Vater Michael Kyrath im Wohnzimmer der Familie, wo Bilder an die beiden Todesopfer erinnern. © FUNKE Foto Services | Michael Rauhe

Ann-Maries und Dannys Eltern haben den Prozess gemieden und sich vor Gericht vertreten lassen. Ihre Anwältinnen Claudia Hauck-Delhey und Katja Münzel hatten sie gewarnt, zu den Verhandlungen nach Itzehoe zu kommen und auf den Mörder ihrer Kinder zu stoßen. „Tut euch das nicht an. Behaltet Ann-Marie und Danny im Kopf, wie sie morgens das Haus verlassen haben, und nicht, wie sie auf den Ermittlungsbildern aussehen“, hieß es. Frau Kyrath drückte es bei einem Treffen mit dem Abendblatt kurz vor Weihnachten so aus: In Itzehoe würden sie auf „das Böse“ treffen, ein Besuch im Prozess würde sie nur vergiften. Also ließen sie es sein.

Ann-Marie hatte ihr junges Leben unter ein Motto gestellt: „Aufgeben ist keine Option“, lautete es. Die Kyraths haben das Credo ihrer Tochter zu ihrem gemacht. Es gibt ihnen Halt und Kraft. Am Mittwoch, als Richter Johann Lohmann in Itzehoe das Urteil verkündete, haben sie sich alle in Elmshorn getroffen: die Eltern der getöteten Teenager, ihre besten Freunde, die Kumpels der Mordopfer, die die Kyraths „ihre Bonuskinder“ nennen. Sie waren, wie in den Monaten zuvor, füreinander da, haben sich an die schönsten Momente erinnert, haben viel gelacht und noch mehr geweint. „Wir versuchen, in Normalität weiterzuleben. Aber es fällt uns schwer“, sagt Michael Kyrath.

Es ist nicht Gerechtigkeit, die Ann-Maries Eltern angesichts des Urteils empfinden. Aber zumindest sei es Genugtuung, sagt Michael Kyrath mit Blick auf die Maximalstrafe für den zweifachen Mörder. Einer möglichen Revision vor dem Bundesgerichtshof sehen die Opferfamilien entspannt entgegen, angesichts der peniblen Prozessführung und „außergewöhnlich gründlichen und exakten Urteilsbegründung“.

Ann-Marie habe immer für Gerechtigkeit gekämpft, sagen die Eltern. Damit ist sie ihnen ein Vorbild. „Die Behörden haben so viele Fehler gemacht im Umgang mit dem Mörder unserer Tochter. Uns ist wichtig, dass die abgestellt werden und sich nicht wiederholen können.“ Das ist der Kampf, den Ann-Maries Vater in Interviews, Talkshows oder Gesprächen führt, die er mit Politikern sucht. „Statt sich in Kindergarten-Schaukämpfen zu verzetteln, muss die Politik in Berlin die Sorgen und Ängste der Menschen endlich wieder ernst nehmen und sich um deren Sicherheit kümmern“, fordert Kyrath.

Prozess um den Messerangriff an Brokstedt: der Ministerpräsident

Daniel Günther, seine Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (l.) und Bundesinnenministerin Nancy Faeser am Tatort in Brokstedt
Daniel Günther, seine Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (l.) und Bundesinnenministerin Nancy Faeser am Tatort in Brokstedt © dpa | Marcus Brandt

Das furchtbare Messerattentat habe das ganze Land nachhaltig erschüttert und deutschlandweit für Entsetzen gesorgt. Das sagt Daniel Günther. Dem schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten ist die Bluttat nahegegangen. Er hat mehrfach die Eltern der ermordeten Teenager getroffen, hat persönliche Betroffenheit und Erschütterung bei Zuginsassen erlebt, mit Opfern gebetet, Rettungskräfte getröstet. Günther spricht von einer grausamen und unmenschlichen Tat.

„Die Lücke, die der Tod der beiden jungen Menschen bei ihren Familien, Freundinnen und Freunden hinterlässt, wird niemals geschlossen. Und nicht alle seelischen und teilweise auch körperlichen Verletzungen der überlebenden Opfer werden heilen können“, sagt der CDU-Politiker. Der 25. Januar 2023 werde im Gedächtnis bleiben als ein Tag, der großes Leid über sehr viele Menschen gebracht habe.

Die Politik müsse aus dem schrecklichen Ereignis lernen und Konsequenzen ziehen, sagt Günther. Damit habe Schleswig-Holstein unmittelbar nach der Tat begonnen. „In unseren Zügen im Norden wird es mehr Videoüberwachung geben, unsere Landesregierung hat finanzielle Mittel für mehr Sicherheitspersonal bei den Verkehrsunternehmen bereitgestellt, und auch die Staatsanwaltschaften und Gerichte haben zusätzliches Personal bekommen“, sagt der Regierungschef. Der Lernprozess sei aber noch nicht abgeschlossen. Man werde weiter dafür arbeiten, die „Menschen möglichst gut vor einer solchen Tat zu schützen und unsere Gesellschaft sicherer zu machen“.

Prozess um den Messerangriff: der Vorsitzende Richter

Johann Lohmann ist einer der erfahrensten Strafrichter in Schleswig-Holstein. Mord und Totschlag gehören für ihn zum Alltag. Mit großer Ruhe und Gewissenhaftigkeit führte er durch die 39 Verhandlungstage. Man könnte es auch Penetranz nennen, um bloß keinen Aspekt zu übersehen oder der Verteidigung die Chance auf eine erfolgreiche Revision zu eröffnen. Auf Zeugen hat Lohmann mit seiner nachbohrenden Art zuweilen verstörend bis respekteinflößend gewirkt – wie auf das Opfer der Messerattacke, das partout seinen Wohnort nicht nennen wollte. Ibrahim A. hatte den 63 Jahre alten Zeugen, der nach der Arbeit bei der Bahn auf dem Weg nach Hause war, schwer verletzt. Aus Angst vor einer Haftentlassung des Messerangreifers weigerte sich der eher spröde auftretende Zeuge, seinen Wohnort zu nennen, der eh in den Gerichtsakten steht. Lohmann hat es ihm unter Androhung eines Bußgelds nicht durchgehen lassen.

So präzise, beinahe pedantisch die Verhandlungsführung, so klar war die Urteilsbegründung. Nachdem sich Ibrahim A. am 25. Januar 2023 in Kiel erfolglos um die Verlängerung seiner Duldung („Fiktionsbescheinigung“) bemüht und sich dabei offenbar ungerecht behandelt gefühlt habe, „reifte in ihm der Entschluss, beliebige Menschen zu töten“, sagte Lohmann. „Er verspürte große Wut und wollte an Unbeteiligten willkürlich Vergeltung üben.“ Was die Menschen, die Ibrahim A. zum Opfer fielen, „mit der Misere des Angeklagten zu tun hatten? Nichts!“ Ibrahim A. habe aus Wut über seine Situation gehandelt, sagte der Richter.

Nach seiner Festnahme hatte sich Ibrahim A. in gebrochenem Deutsch erkundigt: „Wie viele?“ Das, betonte Richter Lohmann, könne „nur so gedeutet werden, dass er sich nach der Anzahl der Opfer erkundigt hat“. Und so stand für die Große Strafkammer außer Frage: Es handelt sich um Mord und versuchten Mord aus Heimtücke und niederen Beweggründen – und nicht um eine Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit.

Prozess um den Messerangriff: der forensische Psychiater

Arno Deister, der renommierte Experte für forensische Psychiatrie, hat den Prozess seit dem Auftakt vor knapp einem Jahr intensiv begleitet. Der 66-Jährige hat alte Gutachten und Gerichtsprotokolle ausgewertet und Ibrahim A. dreimal in der Untersuchungshaft gesprochen – danach weigerte sich der Angeklagte, den Gutachter wiederzusehen.

Deisters Expertise war mitentscheidend für das Strafmaß. In seinem Untersuchungsbericht steht: Ibrahim A. wusste, was er tat. Der Mann aus Gaza war zum Zeitpunkt der Tat schuldfähig. Der forensische Psychiater glaubt, dass Erinnerungen an die Kindheit und Jugend im Nahen Osten und eine Haft in Hamburg eine Posttraumatische Belastungsstörung bei Ibrahim A. ausgelöst haben, aber keine Psychose. Heißt: Ibrahim A. ist krank, aber schuldfähig. Diese Einschätzung des forensischen Psychiaters hat sich das Gericht zu eigen gemacht.

Prozess um den Messerangriff: der Täter

33 Jahre alt, staatenlos, wohnungslos, die Fiktionsbescheinigung abgelaufen, süchtig nach Methadon, unvorbereitet auf ein Leben in Freiheit – von einem Tag auf den anderen entlässt die JVA Billwerder am 19. Januar 2023 Ibrahim A. nach einem Jahr aus der Haft. Mit 14 Euro in der Tasche kommt der Palästinenser erst einmal im Hamburger Winternotprogramm unter.

Gefesselt an Armen und Beinen wird Ibrahim A. von Justizbeamten in den Gerichtssaal geführt.
Gefesselt an Armen und Beinen wird Ibrahim A. von Justizbeamten in den Gerichtssaal geführt. © dpa | Christian Charisius

Rückblende: 2013 flieht der junge Mann aus Gaza, schafft es über die Türkei, Griechenland und die Balkanroute bis Deutschland. Hier schlägt er 2014 erstmals in Nordrhein-Westfalen auf. Im Lauf der nächsten Jahre jobbt er als Paketbote, bei einem Schlosser, auf dem Bau. Nichts ist von Dauer. Obwohl er Straftaten begeht und verurteilt wird – Auswirkungen auf seinen Schutzstatus als Flüchtling hat das nicht, denn die Justiz in NRW versäumt es, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) über das Fehlverhalten aufzuklären. Das war der Auftakt einer Kette von Versäumnissen und Behördenfehlern. Eigentlich hatte der Mann aus Gaza schon lange vor der Tat von Brokstedt sein Gastrecht in Deutschland verwirkt.

Von NRW zieht es Ibrahim A. weiter nach Schleswig-Holstein, angeblich wegen der Nähe zum Meer. Auch hier gilt er, kaum angekommen, in der Notunterkunft schon als Querulant und Bedrohung. Von Kiel geht es weiter nach Hamburg, wo er im Januar 2022 einen Mann an einer Essensausgabe niedersticht und schwer verletzt. Dem Amtsgericht in St. Georg ist die Tat nicht mehr als ein Jahr und ein paar Tage Haft wert. Hier, in der JVA Billwerder, fühlt sich der Palästinenser verfolgt, greift Mithäftlinge an, beleidigt und attackiert Justizangestellte und wird – ganz offiziell – mit immer höheren Dosen der Ersatzdroge Methadon behandelt.

Das nächste Versagen in dieser Zeit: Zwar sucht das Bamf, von Kiel alarmiert, inzwischen nach Ibrahim A., nur vergisst es Hamburg, die Bundesbehörde über die Haft des Palästinensers zu unterrichten. Ibrahim A.s Anwalt Björn Seelbach legt Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts ein – und löst damit das nächste Problem aus. Zwar sitzt A. die Strafe ab, aber in U-Haft und nicht als regulärer Häftling. Das hat Folgen: So entlässt Hamburg A. an jenem 19. Januar, abhängig von Methadon und völlig unvorbereitet. Im Entlassungsbrief empfehlen die Anstaltsärzte ihren Berufskollegen draußen die Weiterbehandlung mit Methadon. Nur: Es gibt gar keine weiterbehandelnden Ärzte. Und keine Wohnung und keine Duldung.

Erst Tage später informiert die Hamburger Justiz andere Bundesländer über die Freilassung. Nur: Zu diesem Zeitpunkt war Ibrahim A. längst über die Fahrgäste der Regionalbahn hergefallen.

Die Messerattacke von Brokstedt: Die Konsequenzen

Hamburg und Schleswig-Holstein haben die eklatanten Versäumnisse penibel genau aufgearbeitet. Auch wurden in beiden Bundesländern Konsequenzen gezogen. So gilt inzwischen in Hamburg ein Waffenverbot im Hauptbahnhof; ein Kompetenzzentrum zur Risikobewertung von (potenziellen) Straftätern wird beim LKA aufgebaut; psychisch auffällige Straftäter sollen auch in der Untersuchungshaft besser betreut werden. Schleswig-Holstein wiederum hat Geld bewilligt für zusätzliches Sicherheitspersonal in Zügen und für den Opferschutz; baut die Videoüberwachung in Zügen und auf Bahnhöfen aus; kündigt Alleingänge bei Waffenverboten an, wenn andere Bundesländer eine Bundesratsinitiative weiter blocken. Auch sollen die Behördenverzahnung und der Informationsaustausch über Ländergrenzen hinweg vorangetrieben werden.

Aber reicht das alles aus? Die FDP im Kieler Landtag sagt eindeutig Nein. So seien in Schleswig-Holstein die kommunalen Ausländerbehörden katastrophal unterbesetzt. Zudem seien gleich mehrere Behörden bei möglichen Abschiebungen involviert: Das Sozialministerium sei zuständig für Flüchtlinge und deren Rückführungen. Das Justizministerium verantwortet die Abschiebehaft, während die Ausländerbehörden bei den Kommunen angesiedelt sind.

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Die Folge: Offensichtlich wisse die eine Behörde nicht genau, was die andere tue. „Noch immer gibt es viele Ansprechpartner und Schnittstellen bei den Behörden, die einen reibungslosen Informationsaustausch erschweren. Es fehlen zentrale Ansprechpartner und gebündelte Ressourcen, um straffällig gewordene Ausländer zu beobachten bzw. die Rückführung zu organisieren“, kritisiert Bernd Buchholz von der FDP.