Itzehoe. Der Palästinenser tötete in einem Regionalzug zwei junge Menschen und verletzte mehrere weitere. Nun wurde ein Urteil gesprochen.
Er wollte töten. Er wollte Menschen sterben sehen. Und wer ihm dabei zum Opfer fiel, war ihm dabei gleichgültig. Ibrahim A., der Mann, der im Zusammenhang der „Messerattacke von Brokstedt“ bekannt wurde, legte es darauf an, großes Leid zu verursachen. Davon ist das Gericht im Prozess um die Tötung mehrerer Menschen in einem Regionalzug im schleswig-holsteinischen Brokstedt überzeugt.
Der 34-Jährige habe sich an jenem 25. Januar 2023 dazu entschlossen, „einen Angriff auf Menschen zu verüben und mehrere Menschen zu töten“, sagte der Vorsitzende Richter Johann Lohmann bei der Urteilsverkündung gegen den Angeklagten. Dabei habe der Täter „willkürlich beliebige Opfer“ ausgewählt. Es handele sich um eine „außergewöhnlich erschütternde Tat“. Das Gericht verhängte wegen der Verbrechen in einem Regionalzug in Brokstedt eine lebenslange Freiheitsstrafe für Ibrahim A.
Messerattacke von Brokstedt: Gericht verurteilt Ibrahim A. zu lebenslanger Haft
Außerdem stellte das Gericht die besondere Schwere der Schuld fest, was bedeutet, dass eine Aussetzung der Strafe zur Bewährung nach 15 Jahren praktisch ausgeschlossen ist. Der 34-Jährige habe sich wegen zweifachen Mordes, versuchten Mordes in vier Fällen sowie wegen schwerer und gefährlicher Körperverletzung schuldig gemacht, sagte der Vorsitzende Richter. Der Angeklagte habe großes Leid über mehrere Menschen gebracht.
Ibrahim A. hatte am Nachmittag des 25. Januar 2023 in dem Regionalzug auf der Fahrt von Kiel nach Hamburg ein Küchenmesser gezogen und damit unvermittelt Fahrgäste angegriffen. Der Täter wurde schließlich von anderen Menschen in dem Zug überwältigt. Die Tat sorgte weit über Schleswig-Holstein hinaus für Entsetzen.
Ibrahim A. wird in Handschellen und Fußfesseln in den Gerichtssaal geführt
Es ging um Opfer wie die 17 Jahre alte Ann-Marie und ihren zwei Jahre älteren Freund Danny. Beide waren an jenem Tag im Zug auf dem Nachhauseweg, als Ibrahim A. plötzlich mit einem Messer auf sie einstach, sie tötete und anschließend mehrere weitere Fahrgäste angriff, um auch diese zu ermorden. Schon vor diesen Verbrechen habe sich der 34-Jährige mit dem Gedanken befasst, einen Amoklauf zu begehen, ist das Gericht überzeugt. An jenem Nachmittag, nachdem er mehrere Behördengänge erfolglos beendet hatte und sich offenbar ungerecht behandelt gefühlt habe, „reifte in ihm der Entschluss, beliebige Menschen zu töten“, sagte der Richter. „Er verspürte große Wut und wollte an Unbeteiligten willkürlich Vergeltung üben.“ Was hätten die Menschen, die Ibrahim A. letztlich zum Opfer fielen, „mit der Misere des Angeklagten zu tun“, fragte Richter Lohmann und beantwortete dies gleich selbst. „Nichts!“
Wie an anderen Verhandlungstagen zuvor trug der Angeklagte, als er in den Verhandlungssaal geführt wurde, Fußfesseln und Handschellen. Letztere wurden ihm vor Beginn der Urteilsverkündung abgenommen. Und so saß der schmale Mann nun da, mal mit dem Kopf in die Hände gestützt, mal zurückgelehnt. Inwieweit die Worte, mit denen der Richter die brutalen Attacken gegen die Opfer und das Leid, das dadurch entstand, schilderte, zu dem Angeklagten durchdrangen, war nicht erkennbar. Äußerlich unbewegt wirkte er, ein Mann, der viel mehr mit sich selber beschäftigt schien als mit dem großen Schmerz, den er verursacht hat.
Attacke in Regionalzug: Die beiden Opfer erlitten mehr als 40 Stiche
Ann-Marie ahnte damals nicht, was der Mann im Schilde führte. Sie wusste nicht, dass er ein Küchenmesser gestohlen hatte und in der Hand bereit hielt. Sie konnte nicht sehen, dass Ibrahim A. eine junge Frau angrinste, Dehnübungen im Gang des Zuges machte und dabei die anderen Fahrgäste beobachtete. Dabei habe sich der 34-Jährige auf sein „Vorhaben, mehrere Menschen zu töten, vorbereitet“, sagte Richter Lohmann. Ibrahim A. schritt nun zielstrebig auf Ann-Marie zu, drehte die 17-Jährige so um, dass sie mit dem Gesicht zu ihm stand und stach „wortlos, mit großer Wucht und in der Absicht, sie zu töten, auf sie ein“, schilderte der Richter die schrecklichen Ereignisse. Die Jugendliche habe „keine Chance gehabt, den Angriff abzuwehren“.
Doch sie schrie, und ihr Freund Danny hörte diese Schreie und wollte seine Partnerin schützen. Aber auch der 19-Jährige konnte der Wucht der Messerstiche, die nun gegen ihn geführt wurden, nicht genug entgegensetzen. Insgesamt erlitten die beiden jungen Opfer mehr als 40 Stich- und Schnittverletzungen, davon etliche gegen den Kopf sowie in den Brustkorb. Danny wurde unter anderem am Herz, am Hals und an der Lunge verletzt. Der 19-Jährige ist das einzige Opfer von Ibrahim A., bei dem das Gericht im Ergebnis nicht sicher feststellen könne, so der Vorsitzende, dass es sich um eine heimtückische Tat gehandelt hat. In allen anderen Fällen sei die Heimtücke offensichtlich. Bei Danny jedoch sei es „denkbar, dass er sich, um seine Freundin zu schützen, sehenden Auges in Gefahr begeben hat“. Das lasse diese Tat des Angeklagten aber „nicht in milderem Licht erscheinen“. Denn wie auch bei anderen Verbrechen habe Ibrahim A. in allen Fällen jedenfalls mit niedrigen Beweggründen gehandelt und somit zumindest ein Mordmerkmal erfüllt. Der 34-Jährige habe sein Vorhaben, „willkürlich Menschen zu töten, weiter umsetzen“ wollen.
Mehrere Menschen erlitten schwerste Verletzungen
Und so ging der mit einem Küchenmesser bewaffnete Mann weiter durch den Zug. Er traf auf eine 54-Jährige, die er heftig attackierte und 13-mal auf sie einstach. Allein achtmal traf der Täter die Frau im Gesicht. Das Opfer taumelte aus dem Zug, wurde erstversorgt und dann in einer Klinik weiterbehandelt. Die Frau habe mehrere Liter Blut verloren und sei in „akuter Lebensgefahr“ gewesen, betonte der Richter. Zudem hatte sie durch die Messerstiche gravierende Verletzungen und insbesondere entstellende Narben im Gesicht erlitten. Vier Monate nach der Attacke beging die 54-Jährige Suizid. Der Richter dazu: „Sie hatte ihren Lebenswillen verloren.“
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Weitere Menschen erlitten ebenfalls schwerste Verletzungen, so wie eine Frau, die von Ibrahim A.s Messerstichen mehrfach unter anderem am Hals getroffen wurde. Diese Frau hatte als Zeugin im Prozess unter anderem von den schweren Folgen gesprochen, die das Geschehen auch psychisch für sie hatte. Sie habe ihr Sicherheitsgefühl verloren, hatte sie erzählt, und habe sehr viel Angst im öffentlichen Raum. Sie leide unter Albträumen und Angstattacken – bis heute. Noch zwei weitere Opfer wurden von Ibrahim A. mit großer Wucht attackiert und schwer verletzt. Und immer wieder hatte der Angreifer offenbar vor allem auf Kopf und Hals seiner Opfer gezielt.
Ibrahim A. wollte wissen, ob seine Tat schon Thema in den Nachrichten gewesen ist
Bis es einem jungen Mann, selber schon erheblich durch Messerverletzungen beeinträchtigt, gelang, die Hände des Täters festzuhalten, bis dieser seine Waffe fallen ließ. Ein anderer Fahrgast nahm einen Hartschalenkoffer und eine Laptoptasche und schlug damit gegen den Messerstecher. Schließlich konnte der Täter überwältigt werden.
Mit dem Urteil ging das Gericht davon aus, dass der Angeklagte zur Tatzeit voll schuldfähig war. Damit folgte die Kammer den Einschätzungen eines psychiatrischen Sachverständigen, der Ibrahim A. exploriert und eine Posttraumatische Belastungsstörung bei dem Angeklagten festgestellt hatte, aber keine Psychose oder andere Umstände, die eine verminderte Schuldfähigkeit begründen würden. Die Verteidigung von Ibrahim A. hatte indes argumentiert, dass der Angeklagte nicht ins Gefängis, sondern in eine psychiatrische Klinik gehöre.
Zeugen hatten im Prozess geschildert, wie der Mann, der gerade zwei Menschen getötet und mehrere schwer verletzt hatte, wenig später auf dem Bahnsteig saß und nach Zigaretten und Wasser fragte. Später fragte Ibrahim A.: „Wie viele?“ Dies, so betonte es Richter Lohmann in der Urteilsbegründung, könne „nur so gedeutet werden, dass er sich nach der Anzahl der Opfer erkundigt hat“. Später wollte der 34-Jährige außerdem wissen, welche Nationalität die Opfer hatten ob seine Tat schon Thema in den Nachrichten gewesen ist.
Messerattacke von Brokstedt: Ibrahim A. lebte seine Wut und seinen Frust aus
Diese Bemerkungen sind ein Teil der Erkenntnisse, auf die das Gericht seine Überzeugung stützt, dass Ibrahim A. sich schon eine Weile vor den Messerattacken von Brokstedt mit dem Gedanken getragen hat, mehrere Menschen umzubringen. Ein Baustein dieser Schlussfolgerung ist ebenso eine Bemerkung, die Ibrahim A. schon einige Zeit zuvor gegenüber einem Justizvollzugsbeamten im Gefängnis Billwerder gemacht hatte, wo der staatenlose Palästinenser wegen früherer Angriffe gegen Menschen in Untersuchungshaft gesessen hatte. Dort, hinter Gitter, hatte er gesagt: „Großes Auto Berlin“. Es gebe „nicht nur einen Anis Amri“. Damit bezog er sich auf eine Amoktat in Berlin am 19. Dezember 2016 durch besagten Anis Amri, der insgesamt 14 Menschen zum Opfer fielen. Bereits da, in Untersuchungshaft im Jahr 2022, habe Ibrahim A. sich offenbar „mit dem Gedanken getragen, einen Amoklauf zu begehen“, hieß es in der Urteilsbegründung.
Es waren die Gedanken eines Mannes, der wahrscheinlich im Jahr 2014 als staatenloser Palästinenser nach Deutschland gekommen war, die nächsten Jahre erst in Nordrhein-Westfalen lebte und dort auch Straftaten beging, dann in den Norden Deutschland zog. In Hamburg griff Ibrahim A. einen Mann an und verletzte ihn mit dem Messer schwer. Gut ein Jahr Freiheitsstrafe wurde wegen dieser Attacke gegen ihn verhängt. Anfang 2023 kam er in Freiheit, versuchte bei Behörden, eine weitere Duldung beziehungsweise Aufenthaltserlaubnis zu erhalten. Doch vergeblich. Nun stahl er in einem Supermarkt das Messer und stieg in die Regionalbahn -- und lebte seine Wut und seinen Frust aus, in dem er mordete und viel Leid verursachte. „Er handelte aus Wut über seine Situation“, sagte der Richter dazu. „Es war ein Racheakt an unbeteiligten Opfern.“