Glückstadt. Die beiden Nordländer nutzen eine gemeinsame Haftanstalt. Und doch unterscheidet sich die Politik. Ein Besuch vor Ort in Glückstadt.
Oben, auf dem kleinen Balkon am Ende der stählernen Fluchttreppe, hat Stefan Jasper den perfekten Blick. Aus vielleicht zehn Metern Höhe sieht er hinab in den Innenhof. Er sieht die vier alten Klinkerbauten mit den teils vergitterten Fenstern, in denen früher Marinesoldaten kaserniert waren. Er sieht die neue, sechs Meter hohe Betonmauer, den rund fünf Meter hohen parallel verlaufenden Zaun. Und er sieht etwas, das aussieht wie Käfige. Käfige aus Stahlpfosten, mit einem Spezialzaun und Stacheldraht. Darin: Fitnessgeräte und Tischtennisplatte. Oder Basketballkörbe und Fußballtore in einem anderen. Selbst die Müll- und Altpapiercontainer stehen in einem Käfig, nach oben geschützt mit Rollen aus Stacheldraht.
Stefan Jasper ist der Leiter der Abschiebehafteinrichtung in Glückstadt an der Elbe. Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern bringen hier Männer unter, die innerhalb der nächsten Wochen in ihr Heimatland „zurückgeführt“ werden, wie es im Amtsdeutsch heißt. Stefan Jasper würde nie von Käfigen sprechen. Genauso wenig wie er „Gefangene“ sagt. Für ihn sind es die „Insassen“, die auf den „gesicherten Außenflächen“ Sport treiben. „Die Insassen können sich frei auf ihren Abteilungen bewegen. Wir versuchen, ihnen möglichst viele Freiheiten in einer Wohnatmosphäre zu gewähren“, sagt Jasper. Eine Wohnatmosphäre mit schweren Stahltüren, meterhohen Zäunen und Mauern.
Die Menschen, die hier untergebracht sind, haben keine Perspektive. Sie wissen: Ihre Zeit in Deutschland läuft in Kürze ab. Im Schnitt bleiben sie drei Wochen hier, bevor sie außer Landes gebracht werden. Drei Wochen, dann geht es zurück nach Afghanistan oder Algerien, den Irak oder nach Armenien. Mit Blick auf diese Aussichtslosigkeit ist es für Jasper und seine Mannschaft ein „täglicher Spagat, möglichst viele Freiheiten zu gewähren und möglichst viel Sicherheit zu gewährleisten.“ So sagt es der Diplomrechtspfleger und -pädagoge.
Abschiebungen: Einem Häftling gelang bislang die Flucht aus Glückstadt
Seit dem 15. August 2021 bringen die drei Nordländer hier Abschiebehäftlinge unter. Rund 30 Millionen Euro hat Schleswig-Holstein investiert, um Teile der alten Kaserne am Rande von Glückstadt ausbruchsicher zu machen. Jedenfalls weitgehend ausbruchsicher. Ein Häftling hat es trotz aller Zäune und Stacheldraht auf die sechs Meter hohe Mauer und einem Fallrohr unter auf die Straße geschafft. Wie er das gemacht hat, haben die Kameras auf dem Gelände aufgezeichnet. Daraufhin hat das Kieler Justizministerium „kleinere bauliche Veränderungen“ angeordnet, über die man im Detail nicht sprechen will. Zehn Monate lang war der sportliche Mauerstürmer übrigens untergetaucht – bis er in Hamburg in eine Verkehrskontrolle fuhr und gefasst wurde.
Sie hätten hier Platz für 60 Insassen, sagt Herr Jasper. Nur: Von der Maximalauslastung sind sie noch weit entfernt. Es fehlt – wie beinahe überall - an Personal. Gestartet ist man vor zweieinhalb Jahren mit 19 voll ausgebildeten Vollzugsbeamten und zwölf Haftplätzen, vier für jedes Bundesland. Jasper konnte sein Team zuletzt auf 38 Vollzugsbeamte, 18 Auszubildende („Anwärter“) und sieben Angestellte aufstocken. Mit diesem Personal – ein Drittel sind Frauen - kann er insgesamt 42 Plätze anbieten, jedes Bundesland kann also 14 Häftlinge bis zur Abschiebung hier unterbringen. Ziel ist, auf 60 Haftplätze und 72 Vollzugsbeamte zu kommen. Um den Ausbau zu beschleunigen, wirbt Schleswig-Holstein jetzt erstmals im nördlichen Niedersachsen mit der Verbeamtung auf Lebenszeit inklusive „Fortbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten“ – und mit dem kurzen Arbeitsweg dank der Fährverbindung von Wischhafen nach Glückstadt.
Zweimal hat es dieses Jahr schon in Zellen gebrannt
Ein Bett, fest verschraubt am Boden, das Bettzeug schwer entflammbar. Ansonsten: ein Tisch, ein Stuhl, ein kleiner Fernseher, ein Schrank, eine Toilette; die Wände weiß gestrichen, ein blauer Vorhang, auch schwer entflammbar, um den Blick auf die vergitterten Fenster verbannen zu können. Stefan Jasper öffnet eine aktuell nicht genutzte Zelle. Nur an Tag 1 werden die Insassen hier (im Regelfall) eingeschlossen. Ab Tag 2 können sie sich im Trakt frei bewegen, auch nachts. Es gibt eine Gemeinschaftsküche - Lebensmittel liefert auf Wunsch der örtliche Supermarkt. Wer keine Lust hat, selbst zu kochen, bekommt das Essen geliefert – halal und auf Wunsch auch vegetarisch. Zum Zellentrakt gehören ein Fitnessraum, ein Aufenthaltszimmer mit Spielekonsole und Kicker, ein Computerzimmer mit mehreren Rechnern und Internetzugang. So weit die Angebote, auf die Jasper verweist.
Keine Sozialberatung, Brände in Zellen, Ärger um abgelehnten Besuch – Kritik an der Einrichtung in Glückstadt gibt es von anderer Seite. So hat sich der Innen- und Rechtsausschuss des Kieler Landtags in diesem Jahr gleich mehrfach mit den Haftbedingungen beschäftigt. Im Januar zündet ein Marokkaner seine Matratze an und legt so Feuer. Flüchtlingsinitiativen und die Linke sprechen von einem Selbstmordversuch infolge „inhumaner Migrationspolitik“. Sie demonstrieren vor dem Kieler Landtag. Anstaltsleiter Jasper sagt später, dass man „keine konkreten Anhaltspunkte für einen Suizidversuch“ feststellen konnte.
Linke in Hamburg fordert Schließung von Glückstadt
Nach der Brandstiftung müssen die Insassen ihre Feuerzeuge gegen eine Art Glühvorrichtung eintauschen. Dennoch kommt es nur einen Monat später zum zweiten Versuch, Feuer zu legen. Ein Afghane, der nach dem sogenannten Dublin-Verfahren nach Schweden abgeschoben werden soll, zündet am 4. Februar die Gardine seiner Zelle an. Der kokelnde Vorhang ist schnell gelöscht, die öffentliche Empörung lodert weiter.
So fordert die Linke in der Hamburgischen Bürgerschaft die umgehende Schließung der Einrichtung. „Die Zustände in der Abschiebehaftanstalt Glückstadt sind unhaltbar. Es ist unverantwortlich, dort weiter Menschen einzusperren.“ Das sagt die fluchtpolitische Sprecherin der Fraktion, Carola Ensslen, die regelmäßig Zahlen zu Unterbringung, Betreuung und Abschiebung beim Senat abfragt. „Abschiebehaft ist eine Ausnahmesituation. Die Menschen sind verzweifelt. Es muss eine Sozialberatung vor Ort sein“, fordert Ensslen. Nur: Seit einigen Monaten ist sie das nicht mehr – seit die Diakonie Rantzau-Münsterdorf zum Jahresende aus der Sozialbetreuung ausgestiegen ist. Auch hier das Kernproblem: Der Diakonie fehlt das Personal. Seither gibt es zwar noch dreimal die Woche eine ganztägige psychologische Sprechstunde, aber auf eine Sozialberatung in individuellen Gesprächen und Gruppensitzungen warten die Insassen vergebens. „Das bedauern wir sehr. Aber wir stehen in Verhandlungen mit einem möglichen Nachfolger“, sagt der Anstaltsleiter.
Touré hält trotz aller Kritik an Glückstadt fest
Die Familie der nach Deutschland geflohenen Aminata Touré hat sich von Duldung zu Duldung hangeln müssen. Erst nach Jahren der Unsicherheit war klar: Die Familie darf bleiben. Heute ist Frau Touré die Sozialministerin von Schleswig-Holstein – und damit verantwortlich für das Thema Abschiebungen. Sie vermeidet das Wort, spricht stattdessen von „Rückführungen“. Touré hält trotz aller Kritik an Glückstadt fest. „Wenn Sie Glückstadt schließen, schließen Sie nicht das Instrument, dann kommen die Leute in einer anderen Abschiebeeinrichtung in einem anderen Bundesland unter“, sagt Touré. Dass Abschiebehaft in Einzelfällen nötig ist, zweifelt Touré nicht an. „Das sind Menschen, die sich mehrfach einer Abschiebung entzogen haben. Oftmals sind es Menschen, die schwere Straftaten begangen haben und von der JVA in die Abschiebeeinrichtung verlegt werden.“
Wer in Glückstadt einsitzt, weiß: Es nur eine Frage von Tagen oder wenigen Wochen, dann geht es zurück in ein Land, das man hinter sich wähnte. Die Verzweiflung ist groß. „Selbstverletzungen in der Phase kurz vor der Abschiebung sind kein Einzelfall, das kommt schon vor“, sagt Anstaltsleiter Jasper. „Insassen haben Duschgel oder Waschmittel oder Batterien aus der Fernbedienung des Fernsehers geschluckt oder sich äußerlich selbst verletzt, um die Abschiebung zu verhindern.“ Wie viele Menschen so versuchten, der Abschiebung noch zu entgehen, kann Jasper nicht sagen. Die Zahlen werden statistisch nicht erfasst. Was er sagen kann: „In der Einrichtung ist noch kein Untergebrachter gestorben.“
Die größte Gruppe der Menschen, die von Glückstadt aus abgeschoben werden, stellen mit 57 seit Sommer 2021 die Algerier. Als das Abendblatt die Abschiebehaftanstalt Ende Februar besuchte, hatte Hamburg 13, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern aber nur drei bzw. zwei Häftlinge hier sicher untergebracht. „Hamburg nutzt von den drei Bundesländern sein Kontingent am stärksten aus“, sagt der Anstaltschef.
Hamburg hat 2023 insgesamt 262 Ausländer abgeschoben
Hamburg greift konsequent auf die Haftplätze zurück und schiebt konsequenter ab, als Schleswig-Holstein es tut. Das jedenfalls geben die Zahlen her. Danach wurden 2023 nach Angaben des Hamburger Amtes für Migration „1479 Rückführungen vollzogen“. Die 1479 setzen sich zusammen aus 262 Abschiebungen ins Herkunftsland, 229 Überstellungen in andere EU-Länder und 988 freiwillige Ausreisen. Zum Vergleich: Aus Schleswig-Holstein mussten im selben Zeitraum 1024 Menschen ausreisen, 199 davon wurden abgeschoben. Der Betrieb des Glückstädter Abschiebegefängnisses habe sich bewährt, schreibt der Senat. Und dafür zahlt Hamburg Schleswig-Holstein immerhin pro Belegungstag und Person 1523 Euro. Das summierte sich im vergangenen Jahr auf 4,6 Millionen Euro.
Bernd Buchholz ist der Innen- und Rechtsexperte der FDP im Kieler Landtag. Er hat zwei Gründe ausgemacht, warum Schleswig-Holstein Hamburg hinterherhinke. Zum einen operiere Hamburg sehr viel rigider. Wer bei der Einreise nach Hamburg bei der Identität betrüge, werde sofort zurückgeführt, sagt Buchholz. „Bei uns ist das nicht so.“ Zum anderen sind in Schleswig-Holstein gleich mehrere Behörden bei möglichen Abschiebungen involviert: Das Sozialministerium sei zuständig für Flüchtlinge und deren Rückführungen. Das Justizministerium verantwortet die Abschiebehaft, während die Ausländerbehörden bei den Kommunen angesiedelt sind. Die Folge: Offensichtlich weiß die eine Behörde nicht genau, was die andere tut. So antwortet das Sozialministerium gleich mehrfach mit einem Standardsatz auf eine Kleine Anfrage von Buchholz zu geplanten und vollzogenen Abschiebungen: „Hierzu können keine validen Angaben gemacht werden.“
FDP-Politiker: „Landesregierung ist völlig planlos unterwegs“
„Die Antworten zeigen es wieder einmal deutlich: Die Landesregierung ist beim Thema Abschiebung von ausländischen Straftätern völlig planlos unterwegs“, kritisiert Buchholz. Er erinnert an die Messerattacke von Brokstedt vor 14 Monaten: „Der Ruf nach strengeren Abschieberegeln von ausländischen Straftätern ist immer dann groß, wenn bereits straffällig gewordene Ausländer ohne Bleiberecht erneut straffällig werden. Die Realität zeigt aber, dass Sozialministerin Touré überhaupt nicht weiß, wo sich Straftäter nach ihrer Haft aufhalten, geschweige denn intensiviert sie die Abschiebebemühungen. Spätestens nach Absitzen ihrer Haftstrafe müssen vollziehbar ausreisepflichtige Straftäter abgeschoben werden und darum hat sich die Landesregierung auch zu kümmern.“
Buchholz hat eine große Umfrage gestartet: Die FDP-Fraktionen in den Kreistagen und großen Stadtparlamenten im Norden haben einen von ihm entwickelten Fragebogen an die Verwaltungen verschickt. Das Ergebnis ist für Buchholz niederschmetternd. Die Mitarbeiter in den jeweiligen Ausländerabteilungen seien angesichts 300.000 zu betreuende Ausländer im Land hoffnungslos überlastet. Allein im Kreis Pinneberg hätten am Stichtag im Dezember vergangenen Jahres 50 Verwaltungsfachleute fast 50.000 Ausländer betreuen müssen. Und im Kreis Segeberg sei am selben Tag umgerechnet ein Mitarbeiter zuständig gewesen für 1383 Ausländer. „Die Ämter vor Ort sind maßlos überfordert“, sagt Buchholz. Es bliebe weder Zeit, sich um die Integration der Menschen zu kümmern, noch Abschiebungen voranzutreiben.
Was die FDP an diesem Freitag im Landtag fordert
Vor diesem Hintergrund fordert Buchholz in einem Antrag für die Landtagssitzung an diesem Freitag ein zentrales, landesweites Rückkehrmanagement für Geflüchtete. „Wir brauchen eine effiziente Verwaltungsstruktur und deshalb eine zentrale Behörde, die für alle zuständig ist, die vollziehbar ausreisepflichtig sind“, sagte der ehemalige Wirtschaftsminister. „In Wahrheit sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einigen Ausländerbehörden nur noch in der Lage, Duldungen zu stempeln.“ Sie könnten weder aktiv für Integration noch für Rückführungsfragen sorgen, da sie völlig überlastet mit dem laufenden Geschäft seien.
Buchholz sieht nicht nur Touré, sondern auch Regierungschef Daniel Günther in der Verantwortung, die Probleme zu lösen. Bislang vertrete Günther zwar in Treffen der Ministerpräsidenten (mit Bundeskanzler Olaf Scholz) klare CDU-Positionen, aber im eigenen Bundesland setze er sie dann nicht durch.
Statt auf Abschiebungen setzt Touré auf freiwillige Ausreisen
Aminata Touré, die Politikerin der Grünen, fährt eine andere Strategie als der FDP-Abgeordnete Buchholz sie fordert. „In Schleswig-Holstein nutzen wir maßgeblich das Instrument der freiwilligen Ausreise. Rückführungen sind grundsätzlich mit menschlichen Härten verbunden. Wer sich nichts hat zu Schulden kommen lassen, den versuchen wir über freiwillige Ausreisen zurückzuführen. Das ist das angenehmste Instrument“, so Touré. 2023 habe man mehr als 600 Ausländer überzeugen können, auszureisen.
Die Behörden versuchten, den Menschen Perspektiven in ihrer Heimat aufzuzeigen und sie bei der „Reintegration“ zu unterstützen. „Mitunter erhalten Rückkehrer auch eine kleinere finanzielle Unterstützung“, sagt Touré. Das können bei Einzelreisenden einmalig bis zu 500 Euro sein. Hinzu könnten zur Überbrückung zwischen Ankunft und Reintegration weitere 300 Euro kommen. „Bei Familien können je weiterem Familienmitglied bis zu 150 Euro gewährt werden. Die Gesamtförderung einer Familie darf jedoch im Regelfall 1500 Euro nicht übersteigen“, sagt Touré über Anreize für eine freiwillige Ausreise. „Freiwillige Ausreisen sind für die Betroffenen besser, als unterzutauchen und in der Illegalität weiterzuleben“, sagt die Politikerin der Grünen.
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Abschiebungen scheitern oft an Hindernissen in den Herkunftsländern
Touré wehrt sich gegen Vorwürfe, Abschiebungen zu verschleppen oder zu verhindern. „Wir halten uns ans Gesetz. Die meisten Abschiebungen scheitern an Hindernissen in den Herkunftsländern. Es gibt keine politische Einflussnahme auf Rückführungen.“
In Schleswig-Holstein waren im vergangenen Jahr insgesamt 9202 Personen ausreisepflichtig. Aber 7958 von ihnen waren offiziell geduldet. „Das heißt, sie durften gar nicht abgeschoben werden, weil Reisedokumente fehlten, eine Krankheit vorlag, das Kind in der Ausbildung war oder eine Schule besuchte usw. Viele dieser knapp 8000 Menschen werden dauerhaft hierbleiben“, sagt die Grünen-Ministerin. Ihre ganze Familie sei über Jahre geduldet gewesen. „Durch die Tatsache, dass wir alle zur Schule gegangen sind, meine Eltern sich um Integration bemüht und gearbeitet haben, haben wir mit der Zeit einen Aufenthaltstitel bekommen und konnten die deutsche Staatsbürgerschaft erlangen.“