Kiel/Berlin. In der Ostsee verrotten Tausende Tonnen Bomben und Granaten. Der Start der Entsorgung hat lange gedauert. Jetzt ist es soweit.

Experten warnen seit Jahren vor den „tickenden Zeitbomben auf dem Meeresgrund“. Auf dem Boden von Nord- und Ostsee lagern allein vor der deutschen Küste geschätzt 1,6 Millionen Tonnen konventionelle Munition. Von Monat zu Monat steigt vor allem an der Ostsee die Gefahr: Die Bomben, Granaten und Minen rotten vor sich hin, Schadstoffe werden freigesetzt, gelangen in die marinen Ökosysteme und über Fische und Muscheln in die Nahrungskette. Das Umweltbundesamt warnt vor giftigen und krebserregendem „TNT und seinen Metaboliten“. Jetzt, nach vielen Jahren, in denen das Problem ignoriert wurde, startet die systematische Bergung der Munition aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Das geht aus einem Papier aus Regierungskreisen hervor, das dem Abendblatt vorliegt.

Mit 100 Millionen Euro finanziert der Bund die zweigeteilte Pilotphase. In Phase 1 wird ab Sommer in der Lübecker und der Mecklenburger Bucht an insgesamt vier Stellen der Meeresboden systematisch abgesucht. Ziel ist, herauszufinden, welche Sprengkörper genau dort liegen und in welchem Zustand sie sind. Bei der Bergung kommen ferngesteuerte Unterwasserfahrzeuge und unterschiedliche Greifwerkzeuge zum Einsatz. Die Munition wird an Land entsorgt. Die Erkenntnisse aus dieser Phase 1 fließen ein in die Entwicklung und den Bau einer industriellen Bergungs- und Entsorgungsplattform.

Ostsee: Munition im Meer - so wird sie geborgen

Damit startet Phase 2 des Pilotprojekts. Im Sommer 2024 beginnt die Suche nach Spezialfirmen oder Konsortien, denen man die „weltweit einzigartige Herangehensweise“ zutraut. Der Bau der Plattform selbst soll im Sommer 2025 beginnen, in Betrieb gehen soll sie Ende 2026.

Experten im Kieler Umweltministerium gehen von rund 100.000 Tonnen Weltkriegsschrott aus, der allein in der Ostsee vor der schleswig-holsteinischen Küste liegt. Die Aufgabe ist so groß, dass eine Generation sie nicht hinbekommen wird: In Phase 1 rechnet man damit, 60 Tonnen bergen zu können. Ist die Plattform dann ab 2027 voll im Einsatz und – Einschränkung Nummer 2 –, funktionieren die Entsorgungsketten, kann die Zahl auf 750 Tonnen im Jahr steigen.

Ziel war, Nazi-Deutschland möglichst schnell zu entwaffnen

Granaten und Bomben, die noch heil sind, werden abtransportiert, beschädigte Sprengkörper sollen noch auf See in speziellen Öfen verbrannt werden. Am Ende dürfte die Weltkriegsmunition dann doch für etwas gut sein: Die Verbrennungsöfen werden mit dem Sprengstoff auf Temperatur gehalten.

Ministerpräsident Daniel Günther sagte bei der Vorstellung des „Aktionsplans Ostseeschutz“ in dieser Woche über die Ostsee: „Die Tier- und Pflanzenwelt ist erheblich beeinträchtigt. Wir müssen dringend Schutzmaßnahmen ergreifen.“
Ministerpräsident Daniel Günther sagte bei der Vorstellung des „Aktionsplans Ostseeschutz“ in dieser Woche über die Ostsee: „Die Tier- und Pflanzenwelt ist erheblich beeinträchtigt. Wir müssen dringend Schutzmaßnahmen ergreifen.“ © DPA Images | Christian Charisius

Nach dem Ersten und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die Alliierten die Munition samt Zünder Tonne um Tonne in den Meeren versenkt. Ökologische Überlegungen spielten keine Rolle, das Interesse war einzig, Nazi-Deutschland möglichst schnell zu entwaffnen. Mit unterschiedlichen Folgen an Nord- und Ostsee: Während die starken Gezeiten der Nordsee die Granaten, Minen, Torpedos oder Bomben mit Sand umspülten - und so etwas schützten –, liegen die Kriegswaffen in der Ostsee frei auf dem Meeresgrund und rosten vor sich hin. Immer wieder hatten Fischer in den vergangenen Jahren Sprengkörper mit teilweise geöffneten Hüllen als Beifang in ihren Netzen. Deshalb startet hier auch die systematische Bergung. Erst später soll die Plattform auf der Nordsee zum Einsatz kommen.

Entsorgungsstart vor Haffkrug und Pelzerhaken

Experten im Umweltministerium in Berlin hatten zuvor einen Kriterienkatalog erarbeitet und dabei die Wassertiefe, den Erkundungsgrad, den Abstand zum Ufer und die Gefährdungslage erfasst. Auf dieser Grundlage fiel die Entscheidung, mit der Munitionsbergung zwei Kilometer vor Haffkrug, rund drei Kilometer vor Pelzerhaken und in der Mecklenburger Bucht zu starten. Also unmittelbar vor den beliebten Urlaubsorten.

Die 100 Millionen Euro, die der Bundestag als Sofortprogramm bewilligt hat, reichen für die halbjährige Bergung und den Bau der Plattform. Für mehr aber auch nicht. Wo das Geld für den dauerhaften Einsatz der Plattform von 2027 an herkommen soll, ist offen. Der Bund spricht von einer Gemeinschaftsaufgabe und erwartet, dass sich die Küstenländer an den Kosten beteiligen.

Neue Naturschutzgebiete mit strengen Regeln und Verboten

Das stellt die Kieler Landesregierung nicht infrage. Wie sie das Projekt angesichts eines Haushaltsdefizits von fast zwei Milliarden Euro in diesem Jahr finanzieren will, ist hingegen völlig offen. Erst am Dienstag hatten Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) und Umweltminister Tobias Goldschmidt (Grüne) ihre Strategie für einen besseren Schutz der Ostsee vorgestellt. Um das „geschundene Meer“ gesunden zu lassen, planen sie neue Naturschutzgebiete mit strengen Regeln und Verboten.

Ein weiterer Baustein für einen besseren Schutz der Tier- und Pflanzenwelt in der Ostsee ist für Günther und Goldschmidt die Bergung des Kriegsschrotts. „Hierzu wird das Land seinen fairen Anteil mittragen und zusätzlich auch Spendenmöglichkeiten einrichten, um verstärkt auch privates Engagement in diesem Bereich zu ermöglichen“, informierte die Landesregierung.

Ostsee: Menschen sollen für Munitionsbergung spenden

Heißt: Die Menschen sollen für die Bergung der Sprengkörper bezahlen. Das Land will eine Spendenplattform einrichten, „die es Privatpersonen, Sponsoren und vor allem auch der Tourismuswirtschaft und ihren Gästen ermöglicht, selbst einen fairen Beitrag zur Bergung der Munitionsaltlasten in Schleswig-Holstein zu leisten“.

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„Wir alle wissen, dass der Zustand der Ostsee aktuell nicht gut ist und wir handeln müssen“, hat Ministerpräsident Günther am Dienstag bei der Vorstellung des „Aktionsplans Ostseeschutz 2030“ gesagt. Das marine Ökosystem sei fragil, das Biotop bereits geschädigt und nicht unendlich belastbar. „Die Tier- und Pflanzenwelt ist erheblich beeinträchtigt. Wir müssen dringend Schutzmaßnahmen ergreifen.“ Das passiert mit dem Start der Munitionsbergung jetzt auch unter Wasser.