Kiel. Schleswig-Holsteins SPD-Chefin übernimmt auch den Fraktionsvorsitz. Wie sie Daniel Günther attackieren will und zum Vorstoß der CDU steht.

Mehr Emotionen statt rationaler Überlegungen, mehr Sozialpolitik statt Technologiefragen, mehr Angriff statt Analyse: In der Landtagsfraktion der SPD in Schleswig-Holstein vollzieht sich gerade ein Paradigmenwechsel. Parteichefin Serpil Midyatli hat Thomas Losse-Müller abgelöst und ist jetzt auch Fraktionschefin im Landtag. Losse-Müller, Midyatlis Kandidat bei der verloren gegangenen Landtagswahl im Mai 2022, zieht sich aus der Landespolitik zurück. Was seine Nachfolgerin, die auch seine Vorgängerin ist, anders machen, wie sie Daniel Günther attackieren will.

Hamburger Abendblatt: Frau Midyatli, warum tun Sie sich das an? Sie sind Parteichefin in Schleswig-Holstein, stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD, eingebunden in die Arbeit der Bundesspitze. Und jetzt auch noch der Fraktionsvorsitz?

Serpil Midyatli: Geplant war das nicht. Aber nachdem sich Thomas (Losse-Müller) für eine berufliche Veränderung entschieden hat, haben wir in der Fraktion intensiv beraten, und ich habe mich bereit erklärt, die Verantwortung zu übernehmen. Thomas hat die Fraktion in den anderthalb Jahren konzeptionell gut aufgestellt. Da machen wir jetzt weiter.

Es ist schon eine herausragende und zeitaufwendige Rolle, die Fraktion und die Opposition zu führen. Wollten Sie unbedingt, oder wollte kein anderer?

Ich habe wirklich Lust darauf. Was die Arbeit erleichtert: Ich war das schon mal und muss mich nicht lange einarbeiten. Außerdem sind wir ein starkes und eingespieltes Team.

Serpil Midyatli: CDU und Grüne in Schleswig-Holstein passen nicht zusammen

Also kommt es jetzt zum Comeback.

Als ich das erste Mal Fraktionsvorsitzende war, steckten wir mitten in der Corona-Pandemie und kurz vor der Landtagswahl. Das heißt, es waren ganz andere Umstände für die Oppositions- und Fraktionsarbeit. Jetzt haben wir die Zeit, unsere Schwerpunkte herauszuarbeiten und zu zeigen, was wir wollen und wie wir das Land besser machen. Seit anderthalb Jahren regiert Schwarz-Grün, und es wird immer deutlicher, dass die Regierungspartner gar nicht zusammenpassen. Es ist die Macht, die sie zusammenhält, nicht der Inhalt.

Die letzten beiden Wahlen, die Landtagswahl 2022 und die Kommunalwahl 2023, gingen für die SPD krachend verloren. Welche Verantwortung für das schlechte Abschneiden sehen Sie bei sich?

Als Landesvorsitzende trage ich natürlich Verantwortung für diese Wahlergebnisse. Aber am Ende sind das Teamleistungen. Wir alle in der SPD in Schleswig-Holstein und darüber hinaus müssen uns anstrengen, damit es wieder besser wird. Und ich natürlich vorneweg.

Thomas Losse Müller war anderthalb Jahre Fraktionschef der SPD. Was hat er aus Ihrer Sicht gut gemacht?

Durch seine strategische Arbeit sind wir als Fraktion konzeptionell noch stärker geworden. Mehr als in der Vergangenheit haben wir Politikfelder nicht nur nebeneinander diskutiert, sondern in den Fokus genommen, wie alles zusammenhängt. Wenn wir die von uns gemeinsam entwickelte Idee eines Transformationsfonds betrachten, sehen wir, dass Umweltschutz, Sozial- und Haushaltspolitik, Wohnungsbau und Verkehrspolitik gemeinsam mit Industrie- und Wirtschaftspolitik vernetzt gedacht werden müssen. Für die SPD-Fraktion waren es anderthalb wichtige Jahre. Wir haben beide viel voneinander gelernt. Thomas geht uns auch nicht verloren. Er bleibt in der SPD Schleswig-Holstein aktiv und arbeitet in seiner neuen beruflichen Aufgabe weiter an der gerechten Klimatransformation.

Was hat Herr Losse-Müller als Fraktionschef denn nicht so gut gemacht?

Verbesserungsvorschläge geben wir uns in der Fraktion direkt und nicht über die Zeitung.

Serpil Midyatli will als Fraktionschefin „stärker zuspitzen“

Dann frage ich Sie mal so: Ein Oppositionsführer muss Lust haben anzugreifen. War seine Politik zu viel Kopf und zu wenig Bauch oder Herz?

Wenn man Menschen nach ihren Erwartungen an Politik fragt, sagen die immer, wir sollen nicht so viel streiten, sondern konstruktiv zusammenarbeiten. Sachliche Lösungen für das Land und die Menschen anbieten. Das hat Thomas immer getan. Die anderen Aspekte der Rollenbeschreibung eines Oppositionsführers im Landtag haben ihm weniger gefallen: das Zuspitzen und Angreifen. Das heißt aber nicht, dass ich jetzt nur aus Prinzip attackiere. Während der Pandemie, unter meiner Zeit als Fraktionschefin, haben wir mitgetragen, was richtig und wichtig war für das Land. Diese konstruktive Oppositionsarbeit werden wir fortführen. Bei dem ein oder anderen Thema werden wir aber den Finger deutlicher in die Wunde legen und stärker zuspitzen.

Werden Sie versuchen, die SPD im Landtag wieder stärker sozialpolitisch zu profilieren?

Ich werde auf jeden Fall die Menschen in den Mittelpunkt meiner Arbeit stellen. Sie brauchen verlässliche Züge, bezahlbare Wohnungen, modern ausgestattete Schulen, ausreichend Krippen- und Kitaplätze, gute Arbeitsbedingungen und gerechte Löhne. Das wird mein Schwerpunkt. Das Leben muss für die Menschen einfacher und besser werden, sie dürfen nicht die Leidtragenden von schlechter Politik sein.

Wo sehen Sie die größten Defizite in der Arbeit der Landesregierung in jetzt anderthalb Jahren?

Bei den Zielen sind wir uns oft einig. Aber es passiert zu wenig bei der Umsetzung. Schwarz-Grün ist viel zu langsam. Unsere Schulen sind marode, es müsste massiv investiert werden. Schleswig-Holstein verfehlt seine Klimaziele. Der Wohnungsbau ist eingebrochen. Es fehlen 15.600 Kitaplätze. Allein das müsste dem Ministerpräsidenten, das meine ich ernst, schlaflose Nächte bereiten. Eltern stehen vor uns und weinen, weil sie nicht wissen, wie sie Familie und Beruf vereinbaren können. Die Landesregierung verweist dann darauf, mehr Geld für Krippen und Kitas ausgegeben. Mag sein, aber sie hat das Problem nicht gelöst. Es reicht nicht, überall ein bisschen was zu machen. Das ist Simulation von Politik.

Wer im Kabinett von Daniel Günther ist aus Sicht der SPD-Fraktionschefin denn die größte Enttäuschung?

Mit Blick auf die Ergebnisse in Bildungsuntersuchungen wie IQB und Pisa sieht man, dass die Leistungen durchweg schlechter geworden sind, seitdem Karin Prien Bildungsministerin ist. Und bei Wirtschafts- und Verkehrsminister Claus Ruhe Madsen wird viel geredet, aber wenig gemacht. Die Menschen im Land merken das Bahnchaos jeden Tag. Ich meine jetzt noch nicht einmal den Aus- oder gar Neubau von Bahnstrecken. Es wäre schon ein riesiger Erfolg, wenn die Bahnen zwischen Hamburg und Kiel überhaupt mal wieder verlässlich und pünktlich fahren würden.

Serpil Midyatli: „Leitkultur? Ich ärgere mich total.“

Regieren ist nochmals schwerer geworden. Erst folgt Krise auf Krise, dann brechen die Einnahmen weg, und schließlich stoppt das Bundesverfassungsgericht die Haushaltspolitik. Wie würden Sie denn mehr Kitaplätze oder die Sanierung maroder Schulen finanzieren?

Am Geld muss es nicht scheitern. Meine Fraktion hat anders als die oppositionelle CDU im Bund der Haushaltsnotlage für 2023 und 2024 zugestimmt. Damit können wir finanzieren, was jetzt dringend notwendig ist: ausreichend Kita-Plätze, moderne Ganztagsschulen, neue bezahlbare Wohnungen und die Umsetzung der Klimaziele. Wir sind auch bereit, in den kommenden Jahren eine Notlage zu erklären, wenn das haushaltspolitisch notwendig ist.

Wie ist Ihre Position zur im Grundgesetz festgeschriebenen Schuldenbremse: lassen, wie sie ist, reformieren oder ganz abzuschaffen?

Schon als ich 2019 Landesvorsitzende wurde, habe ich gesagt, dass die Schuldenbremse keine heilige Kuh ist. Wir müssen sie definitiv reformieren, denn wir müssen in die Zukunft und den sozialen Zusammenhalt investieren. Andere große Volkswirtschaften wie die USA, China, Japan oder Indien machen das Gleiche. Gegen die aktuellen Krisen anzusparen, wäre grundfalsch. Wir müssen durch eine Reform der Schuldenbremse Investitionen ermöglichen.

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Die Bundes-CDU will den Begriff einer „deutschen Leitkultur“ in ihr Grundsatzprogramm schreiben. Was empfinden Sie, wenn Sie das hören?

Ich ärgere mich total. Die Debatte lenkt davon ab, was eigentlich gemacht werden müsste. Löst eine „deutsche Leitkultur“ ein Kita-Problem? Löst sie den Wohnungsmangel? Das ist nur Wasser auf die Mühlen der Rechten. Wir bräuchten aber einen Zusammenschluss der demokratischen Parteien angesichts der Umfragewerte der AfD. Solche Kulturdebatten grenzen Menschen aus und machen sie zu Schuldigen für all das, was nicht funktioniert. Das ist gefährlich und wird der CDU auch nicht nützen.