Kiel. Schleswig-Holstein zieht Konsequenzen aus dem Angriff in einer Regionalbahn. Welche das sind und was die Opposition kritisiert.

Zehn Monate ist es jetzt her, dass ein Messerangreifer in der Regionalbahn von Kiel nach Hamburg zwei junge Menschen erstochen und vier weitere Fahrgäste zum Teil lebensgefährlich verletzt hat. Die schwarz-grüne Mehrheit in Schleswig-Holstein hatte schon zehn Tage nach der Tat einen Zehn-Punkte-Katalog für mehr Sicherheit präsentiert, die Länder Hamburg und Schleswig-Holstein haben in Ausschusssitzungen behördliche Fehler versucht aufzuarbeiten, der Prozess gegen Ibrahim A.wegen zweifachen Mordes und mehrfachen versuchten Mordes läuft. Was hat die Aufarbeitung gebracht? Wie geht es weiter? Eine Zwischenbilanz.

Die juristische Aufarbeitung der Bluttat, also der Prozess gegen den mutmaßlichen Messerstecher Ibrahim A. (34), nähert sich dem Ende. Rund 40 Verhandlungsrunden hatte das Landgericht Itzehoe ursprünglich für den Fall angesetzt. Die Prozesstage bisher waren geprägt von bewegenden Aussagen der Zeugen und Nebenkläger über die entsetzliche Brutalität des Angreifers, der immer und immer wieder auf seine Opfer einstach, und vom Leiden der Opfer bis heute. Ein Urteil gegen Ibrahim A., den staatenlosen Palästinenser, der seit 2014 in Deutschland lebt und immer wieder kriminell auffiel, wird schon in den nächsten Wochen erwartet.

Schleswig-Holstein: Nach Bluttat von Brokstedt wird Videoüberwachung ausgebaut

Hingegen ist die politische Aufarbeitung immer noch voll im Gange. Gegenüber dem Hamburger Abendblatt kündigt Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack am Mittwoch konkrete Schritte an, die Videoüberwachung in Zügen auszubauen und mehr Sicherheitspersonal in die Bahnen zu bringen.

So soll die Videokontrolle in den Zügen „deutlich großflächiger“ werden, sagte die CDU-Politikerin. Die neuen Akkuzüge werden jetzt nachträglich mit Technik zur Videoaufzeichnung ausgestattet. Diese Bahnen bedienen die Linien Kiel–Lübeck–Lüneburg, Kiel–Flensburg, Kiel–Husum, Husum–St. Peter-Ording, Bad Oldesloe–Neumünster, Neumünster–Heide und Heide–Büsum.

Über diese fest zu installierenden Videoanlagen hinaus sind auch Bodycams für Zugbegleiter angedacht, also Schulterkameras. Geplant ist ein Projekt gemeinsam mit der DB Regio. Sütterlin-Waack verweist zudem auf eine „Reihe von Zügen mit Kameras“, die schon auf den Strecken von Kiel nach Hamburg, von Kiel nach Lübeck oder bei der AKN unterwegs seien.

„Vor allem aber wollen wir mehr Ansprechpartner in die Züge bekommen“, sagte Sütterlin-Waack. Zur Finanzierung des zusätzlichen Sicherheitspersonals der Bahnunternehmen werde Wirtschaftsminister Madsen einen „siebenstelligen Betrag zur Verfügung stellen“, sagte dessen Kabinettskollegin.

Runder Tisch bei NAH.SH: Regelmäßige Sicherheitskonferenzen geplant

Künftig soll auch ein regelmäßiger runder Tisch bei NAH.SH zusammenkommen, um die getroffenen Maßnahmen zu überprüfen und weitere Schritte zu erarbeiten, kündigte Sütterlin-Waack gemeinsame Sicherheitskonferenzen von Innen- und Wirtschaftsministerium sowie dem schleswig-holsteinischen Verkehrsverbund an.

Als weitere Konsequenz aus dem Behördendesaster vor der Tat hatten Schleswig-Holstein und Hamburg schon mehrere gemeinsame Anträge in die Frühjahrstagung der Innenministerkonferenz eingebracht mit dem Ziel, die Sicherheit in Bus und Bahn zu erhöhen. Dabei ging es neben einer besseren Videoüberwachung um Waffenverbote und einen besseren Datenaustausch zwischen den Behörden. „Unsere Anträge wurden einstimmig angenommen“, sagt Sütterlin-Waack. Von solchen bundeseinheitlichen Regelungen verspricht sie sich, dass die Maßnahmen „tatsächlich auch Wirkung entfalten“.

Waffenverbot – Hamburg hat nicht abgewartet

Das Problem bundeseinheitlicher Regelungen: Es dauert in der Regel länger, 16 Bundesländer hinter einer Idee zu versammeln – und diese dann anschließend auf Bundesebene auch in Gesetze einfließen zu lassen. Hamburg ist deshalb vor wenigen Wochen vorgeprescht – und hat schon mal ein Waffenverbot für den Hauptbahnhof erlassen. Sütterlin-Waack kündigte gegenüber dem Abendblatt an, dem Beispiel unter Umständen folgen zu wollen: „Wenn dieses bundesweite Vorgehen absehbar noch einige Zeit dauern sollte, wollen wir zeitnah Maßnahmen in Schleswig-Holstein in dieser Richtung anstreben.“

Auch in einem weiteren Punkt denkt die Innenministerin an eine Vorablösung für Schleswig-Holstein. Es geht um den Vorschlag, bewaffnete Polizisten in Zivil kostenfrei mit Bus und Bahn fahren zu lassen. „Das ist unser erklärtes Ziel. Aus Sicht der Verkehrsbetreiber und aus polizeilicher Sicht ist insbesondere die Erkennbarkeit der Beamtinnen und Beamten zur Erhöhung des subjektiven Sicherheitsgefühls wichtig.“ Auch hier sieht Sütterlin-Waack den Vorteil einer bundeseinheitlichen Regelung, den sie auf der nächsten Innenministerkonferenz (IMK) thematisieren will. Nur: „Wenn wir auf Bundesebene nicht schnell eine Lösung finden, wollen wir – zumindest fürs Erste – eine Lösung für NAH.SH in Schleswig-Holstein anstreben“, sagt die Politikerin. „Leider geht es bei der bundesweiten Umsetzung nicht immer so schnell, wie ich mir das wünsche.“

Schleswig-Holstein und Hamburg: Kommunikationspannen vor der Tat

Der Messerangriff in der Regionalbahn hatte schonungslos offengelegt, wie schlecht oder gar nicht Behörden länderübergreifend miteinander kommunizieren. Informationspflichten wurden ignoriert. Hoch offizielle Mails landeten in Spamordnern oder im digitalen Nirwana von Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Ausländeramt der Stadt Kiel, Hamburger Justizbehörde oder der Justiz in Nordrhein-Westfalen. Oder aber Mitteilungen wie die über die Entlassung von Ibrahim A. aus Hamburger Haft gingen erst raus, nachdem der damals 33-Jährige längst die beiden jungen Menschen in der Regionalbahn getötet hatte.

Der Fall habe gezeigt, dass Deutschland beim Datenaustausch zwischen Behörden und Ländern vorankommen müsse, sagt auch Sütterlin-Waack. So hat die IMK ein länderübergreifendes einheitliches Verfahren zur Erfassung von ausländischen Mehrfach- und Intensivtätern (aMIT) gefordert. „Eine Identifizierung als aMIT muss bundesweit für Polizei, Ausländerbehörden und Justiz einsehbar sein“, sagt Sütterlin-Waack.

Sie fordert zudem schnellere Abschiebungen ausländischer Straftäter. „Ich habe mit meinen Länderkolleginnen und -kollegen beschlossen, sich dafür einzusetzen, bei aMIT alle polizeilichen und aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen auszuschöpfen, um priorisiert aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu ergreifen und durchzusetzen.“

Behördenversagen? Deutliche Kritik der Opposition an Aufarbeitung

Monatelang hatten die Innen- und Rechtsausschüsse von Hamburg und Schleswig-Holstein das Behördenversagen im Fall Ibrahim A. versucht aufzuarbeiten. Deutliche Kritik an dieser Arbeit kommt von der Opposition im Kieler Landtag. So spricht der SPD-Innenexperte Niclas Dürbrook von einer „ausgeprägten Kultur der gefühlten Nicht-Zuständigkeit in den beteiligten Behörden. Überall war man der Meinung, dass jemand anderes die Verantwortung für den Tatverdächtigen hätte. In der Folge hatte sie niemand so richtig.“

FDP-Innenexperte Bernd Buchholz sieht es ähnlich. Die Aufarbeitung der Fehler sei geprägt gewesen durch wechselseitige Schuldvorwürfe zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein, es fehlte aber eine gründliche gemeinsame Analyse. „Das gilt für alle Seiten. Für die Justizsenatorin in Hamburg genauso wie für die Integrationsministerin in Schleswig-Holstein und die Ausländerbehörde in Kiel.

Gegenseitige Schuldvorwürfe in Kiel und Hamburg

Sowohl das Kieler Sozialministerium als auch die Hamburger Justizbehörde hätten versucht, den Fokus auf die Versäumnisse auf der jeweils anderen Seite der Landesgrenze zu legen. „Das war mit Blick auf die Tat unangemessen, wurde im Laufe der Aufarbeitung aber glücklicherweise besser“, sagt Dürbrook. Am Ende sei eine schonungslose Aufarbeitung der Fehler gelungen.

Mit einem Zehn-Punkte-Plan für mehr Sicherheit in Bus und Bahn hatten CDU und Grüne in der Landesregierung umgehend auf die Tat reagiert. Für SPD-Mann Dürbrook blieb das Ergebnis aber „in weiten Teilen eine Luftnummer“. Zwar hätten sich Bund und Länder auf eine einheitliche Datenbank für Ermittlungen gegen Ausländer verständigt, die hoffentlich sehr zeitnah umgesetzt werde. Aber darüber hinaus? So habe Schwarz-Grün im Norden die Haushaltsmittel für die als Konsequenz geforderten Gewaltpräventionsambulanzen schon nach wenigen Wochen wieder um die Hälfte zusammengekürzt, kritisiert Dürbrook.

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FDP-Experte Buchholz lobt die vereinbarten gegenseitigen Unterrichtungspflichten über strafrechtliche Ermittlungsverfahren und die Schaffung elektronischer Funktionspostfächer in den Behörden, die auch bearbeitet würden. „Das war sicher richtig. Aber in Schleswig-Holstein gibt es – trotz positiver Erkenntnisse aus Hamburg – keine ,gemeinsame Ermittlungs- und Rückführungsgruppe für straffällig gewordene Ausländer‘ (GERAS). Das ist ein Fehler“, sagt Buchholz. In einer solchen Einheit müsste die Kompetenz gebündelt werden. Auch, um die völlig überlasteten Ausländerbehörden in Schleswig-Holstein zu entlasten. „Leider passiert aber nichts“, so der FDP-Politiker.