Itzehoe/Brokstedt. Ibrahim A. ist angeklagt, in der Regionalbahn zwei Fahrgäste ermordet und vier schwer verletzt zu haben. Was eines der Opfer aussagte.
Von Minute zwei des Prozesses ist eine gewisse Angst greifbar. In Minute eins geht es um den Namen des Zeugen, sein Alter, seinen Job. Doch als der Vorsitzende Richter den Wohnort wissen will, droht die Situation zu eskalieren. Er lebe in einem Ort bei Itzehoe, mehr will der Mann mit den grauen Haaren, wir nennen ihn hier Udo M., nicht mitteilen. Dem Gericht sei die Adresse schließlich bekannt, er müsse also nicht laut und vor allen sagen, wo er wohne, so M. Nur zwei Meter entfernt, links von ihm, sitzt der Mann, der die Anschrift nicht hören soll: Ibrahim A. (34) staatenloser Palästinenser und bekannt geworden als der „Messerstecher von Brokstedt“.
Er soll aus Heimtücke Ende Januar in der Regionalbahn von Kiel nach Hamburg wahllos auf Fahrgäste eingestochen haben. Dabei starben zwei Fahrgäste unmittelbar, ein weiteres Opfer nahm sich im Sommer das Leben. Vier Menschen hat der Mann, der 2014 nach Deutschland gekommen und seither immer wieder kriminell aufgefallen ist, schwer verletzt und zum Teil „dauerhaft entstellt“, wie es Staatsanwältin Janina Seyfert in ihrem Eröffnungsplädoyer im Sommer formuliert hatte. Und so wirft die Anklage dem 34-Jährigen neben dem zweifachen Mord vierfachen versuchten Mord vor. Eines der Opfer: Udo M.
Staatsanwältin: Ibrahim A. stach fünfmal in Hals und Kopf
Der 62 Jahre alte Eisenbahner war an jenem kalten und trüben 25. Januar auf dem Weg nach Hause, als Ibrahim A. unvermittelt im Obergeschoss des Zweite-Klasse-Wagens auftauchte und sofort begann, zuzustechen. In einer Hand seine Tasche, die er immer dabeihat, in der anderen eine Plastiktüte, versucht sich M. irgendwie vor dem Angreifer zu schützen. Doch es hilft nichts, wie auch die Fotos der blutverschmierten Tüte, die am Mittwoch vor dem Itzehoer Landgericht gezeigt werden, schonungslos dokumentieren. Schwer verletzt gelingt es dem Eisenbahner noch, vor dem Angreifer aus dem Wagen zu flüchten – erst auf den Bahnsteig, dann weiter auf die Straße. Nüchtern und emotionslos hatte Staatsanwältin Seyfert am ersten Verhandlungstag im Sommer schon zusammengefasst, was M. erleiden musste: fünf Stiche in Hals und Kopf, einen Blutverlust von zweieinhalb Litern, Lebensgefahr.
Jetzt, am Verhandlungstag an diesem Mittwoch, erzählt Udo M. eher spröde und in knappen Worten, wie der Täter „sinnlos“ und „wahllos“ zugestochen habe, dass er „kaltblütig“ dabei gewirkt habe. Als sei es ihm egal gewesen, welches Körperteil er traf, Hauptsache, er traf. In M.s eigenen Worten klingt das knapper, nüchtern, selbst wenn er erzählt, wie „das Blut spritzte“, wie der Täter schweigend und mit „ernstem Gesicht“ zustach.
Passantin kümmert sich um verletzten Fahrgast
Als wolle er die simultane Übersetzung nicht hören, fummelt sich der Angeklagte – wieder im grünen Gefängnisoverall und gefesselt – den Kopfhörer aus dem Ohr, die Augen starr nach unten gesenkt. Nur kein Blick auf die Zeugen werfen. Das war auch bei vorangegangenen Prozesstagen schon so – als koste es Ibrahim A. zu große Überwindung, seine Opfer anzuschauen.
Eine Frau war es, die sich auf der Straße an jedem Januartag als Erste um Udo M. kümmerte. Mit einem Halstuch versuchte sie, die schlimmste Wunde, die am Hals, zuzudrücken, bis endlich Rettungskräfte kamen. Was dann folgt, in Kurzfassung: M. kam bei Bewusstsein, wie er sagt, in die Klinik nach Neumünster. Als er wieder aufwachte, lag er in Kiel auf der Intensivstation. Wie viel Zeit dazwischenlag – Udo M. weiß es bis heute nicht.
Richter spricht von Gedächtnisunsicherheiten
Eine weitere Operation folgte im Sommer, es dürfte nicht die letzte gewesen sein für Udo M. Krankgeschrieben war er bis Ende vergangener Woche, Blutverdünner muss er, nachdem Ärzte ihm einen Stent in den Hals setzen mussten, vermutlich lebenslang nehmen, und ob das rechte Auge nochmals komplett gesund wird, weiß niemand.
Letzte Woche, erzählt der 62-Jährige als Zeuge vor Gericht, sei er mal wieder mit der Bahn gefahren. Als er Schreie hörte und eine Schaffnerin, verfolgt von einem Fahrgast, durch den Zug eilte, war die Tat vom Januar sofort wieder präsent. „Hoffentlich passiert nichts“, habe er da gedacht. Passiert ist nichts auf der Fahrt, sagt Udo M. ruhig.
Prozess bis kurz vor Weihnachten terminiert
Immer wieder fragt der Vorsitzende Richter Johann Lohmann nach, versucht Brücken zu bauen zwischen den aktuellen Aussagen M.s und den Schilderungen Polizisten gegenüber einige Tage nach der Tat. Lohmann nennt das „Gedächtnisunsicherheiten“ und dass diese angesichts der Tat sehr naheliegend seien.
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Wie es ihm psychisch ergangen sei, will Lohmann von M. wissen. Er habe Angst, dass der Täter in „zehn Jahren wieder frei rumläuft“, erzählt das Opfer des Messerstechers. Es liegt auf der Hand, dass Udo M. vor allem deshalb zu Beginn der Verhandlung seinen Wohnort partout nicht nennen wollte und Ärger mit Lohmann riskierte.
Der Prozess wird fortgesetzt. Das Gericht hat Termine bis unmittelbar vor Weihnachten terminiert.