Kiel. 100.000 Tonnen Munition verrotten allein auf dem Meeresboden vor der schleswig-holsteinischen Küste. Jetzt soll die Bergung beginnen.

Tobias Goldschmidt gilt im Kieler Kabinett als keiner, der zu wilden Übertreibungen oder emotionalen Zuspitzungen neigt. Nüchtern und sachlich klingt es, wenn der schleswig-holsteinische Umweltminister Probleme wie den Zustand der Ostsee analysiert. Nüchtern und doch dramatisch.

„Die Ostsee erwärmt sich in Rekordtempo, es gibt kaum Rückzugsräume für die Tier- und Pflanzenwelt, alte Munition setzt giftige Substanzen frei, Nährstoffe führen zu Sauerstoffmangel und Eintrübung des Wassers.“ Eines dieser vielen Probleme soll nach Jahren der Vorbereitungen und Gespräche in diesem Sommer angegangen werden: die systematische Bergung von in der Ostsee verrottender Weltkriegsmunition.

Küste Schleswig-Holsteins: Bombensuche in der Ostsee – „Wir müssen endlich loslegen“

Startschuss könnte nach Abendblatt-Informationen noch im August sein. „Endlich“, heißt es dazu bei Politik und Wissenschaft. Goldschmidt nennt die Bergung von Granaten, Patronen, Minen, Torpedos und Sprengfallen, aus denen zum Teil hochgiftiges TNT austritt, ein „Generationenprojekt“.

„Wir gehen von rund 100.000 Tonnen Munition aus, die in der Ostsee vor der schleswig-holsteinischen Küste liegen“, sagt Alexander Bach, Referent in der „Sonderstelle Munition im Meer, Sedimentmanagement und Schadstoffbekämpfung“ des Kieler Ministeriums. Mit jedem Tag, der ins Land geht, ohne dass die Munition geborgen wird, steigt die Gefahr. „Wir müssen endlich loslegen“, fordert Goldschmidt.

Suche nach Weltkriegswaffen: „Tickende Zeitbombe“ auf dem Grund der Ostsee

Seit Jahren ist das Problem bekannt, Experten sprechen längst von einer „tickenden Zeitbombe“: Auf dem Boden von Nord- und Ostsee verrottet Munition aus dem Zweiten Weltkrieg. Je länger die alten Granaten und Bomben im Wasser liegen, desto größer wird die Gefahr einer ungewollten Detonation. Denn die schützenden Metallhüllen verrosten, zudem wird der Sprengstoff schlagempfindlicher.

Das nächste Problem ist, dass durch die Korrosion Schadstoffe freigesetzt werden – auch bei der Bergung, sollte die Munitionshülle zerbrechen. Das Umweltbundesamt warnt in einer Untersuchung zu den Inhaltsstoffen „insbesondere vor TNT und seinen Metaboliten“. Die seien „giftig, krebserzeugend und/oder erbgutverändernd“.

Granaten im Meer: Wo genau startet das Pilotprojekt?

Dass das Pilotprojekt in Kürze startet, ist sicher, nur könnte sich Bundesumweltministerin Steffi Lemke, eine grüne Parteifreundin von Tobias Goldschmidt, auch für einen Standort an der mecklenburg-vorpommerschen Ostseeküste entscheiden.

Was Goldschmidt aber optimistisch stimmt: Schleswig-Holstein hat ordentlich vorgearbeitet. Die Kolberger Heide nahe Laboe – allein hier wurden schätzungsweise 50.000 Tonnen Weltkriegsmunition versenkt – ist umfassend kartiert und untersucht. Das gilt auch für andere Regionen im nördlichsten Bundesland wie bei Pelzerhaken oder Haffkrug.

„Das Bundesumweltministerium entscheidet über den Standort. Aber wir haben viel wissenschaftliche Vorarbeit geleistet haben. Auch sind wir bereit, uns an den Kosten zu beteiligen“, wirbt Goldschmidt für ein Pilotvorhaben vor der Küste seines Landes. „Wir hoffen auf eine positive Entscheidung in den nächsten Wochen“, sagt der grüne Politiker.

Blindgänger in der Ostsee: 100 Millionen für Pilotprojekt bewilligt

Das Verfahren, für das der Bundestag erst einmal 100 Millionen Euro bewilligt hat, ist zweigeteilt. In Phase eins wird die Munition von einem Bagger oder einer Unterwasserraupe geborgen, dann per Schiff und weiter über Land zur Entsorgung nach Munster gekarrt. Dort, in einer Spezialfirma, können bis zu 50 Tonnen Munition pro Jahr entsorgt werden. Ziel dieser Projektphase ist, ferngesteuert möglichst mehrere Munitionsteile auf einmal vom Grund der Ostsee zu bergen.

So wollen die Ministerien in Kiel und Berlin testen, wie schnell man tatsächlich die Munition nach oben holen kann. Bislang wird jede Bombe oder Granate einzeln geborgen, zum Beispiel vor dem Bau eines Offshore-Windparks. Ziel ist jetzt, möglichst viel Munition auf einmal nach oben zu holen.

Der Hintergrund: Die Sprengkörper liegen teilweise auf einem regelrechten Haufen und sind verklebt. „Bislang hat sich niemand getraut, diese Haufen auseinanderzufügen. Es ist wichtig, das jetzt zu lernen und zu nutzen“, sagt Alexander Bach. „Wir wollen vermeiden, Taucher runterzuschicken, weil das eine große Gefährdung für sie darstellen würde. Deswegen wollen wir den höchstmöglichen Technologisierungsgrad und möglichst ferngesteuert arbeiten.“ Für diese erste Phase des Projekts sind Kosten von 30 Millionen Euro kalkuliert.

Fachleute sprechen von einem „Generationenprojekt“

Parallel wird die Entwicklung und der Bau einer mobilen schwimmenden Entsorgungsanlage noch in diesem Jahr ausgeschrieben. Die Dimension dieser Plattform richtet sich danach, wie viel Munition in welchem Zeitraum in der beschriebenen Testphase pro Tag nach oben geholt werden kann. So soll verhindert werden, dass die Plattform zu groß oder zu klein dimensioniert wurde.

Wie lange es dauert, die 100.000 Tonnen Sprengkörper aus der Ostsee zu bergen, kann niemand seriös sagen. „Aber wir werden das mit Sicherheit nicht mit einer einzigen Plattform hinbekommen. Das wird zu wenig sein, um zügig voranzukommen“, sagt Tobias Goldschmidt.

Laut Bundesumweltministerium soll die Plattform bis Ende 2024/Anfang 2025 gebaut sein und dann in die Erprobung und Optimierung gehen. „Von 2026 ist die Überführung in eine Langfristaufgabe vorgesehen“, heißt es im Behördendeutsch des Bundesumweltministeriums zum Zeitplan. Auch in der Berliner Behörde ist von „Generationenaufgabe“ die Rede.

20.000 Tonnen Altmunition allein in der Lübecker Bucht

Unter anderem der Bundesverband Meeresmüll warnt vor den korrodierenden Munitionsresten. „Sie vergiften mit hoch gefährlichen Chemikalien Meer, Tiere und Menschen und stellen eine Bedrohung für den Tourismus und die Fischerei dar.“ Der Verband begleitet gemeinsam mit dem Kieler Geomar und dem Institut für Toxikologie und Pharmakologie der Christian-Albrechts-Universität das Vorhaben von Bord des Forschungsschiffs „Aldebaran“ aus.

Bei der ersten von drei Forschungsfahrten haben Wissenschaftler jetzt in der Lübecker Bucht große Mengen Weltkriegsmunition entdeckt. Allein in diesem touristischen Hotspot könnten rund 20.000 Tonnen giftiger Altlasten auf dem Meeresboden liegen, schätzt Jens Greinert vom Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung.

Ziel der vom Bundesverband Meeresmüll organisierten Fahrten ist, die „ökologische Bedrohung durch die inzwischen stark angerostete Munition ̈zu ermitteln.“ An Bord arbeiten Wissenschaftler mit modernen Unterwasserrobotern, Sonar- und Kamerasystemen und erfahrenen Forschungstauchern.

In der Nordsee dürften 1,3 Millionen Tonnen liegen

Experten in Wissenschaft und Behörden gehen davon aus, dass vor der deutschen Nordseeküste sogar 1,3 Millionen Tonnen liegen, das meiste davon vor Niedersachsen. „Dort ist die Bergung noch komplizierter, aber gleichzeitig für den Wasserkörper etwas weniger dringend“, sagt Alexander Bach aus dem Kieler Umweltministerium. Denn in der Ostsee liegen die Sprengkörper frei auf dem Meeresboden, in der Nordsee sind sie von Sedimenten bedeckt.

Und so steht erst einmal die Bergung von Granaten und Torpedos in der Ostsee an. Tobias Goldschmidt, der die Küstenregion dort am liebsten zu einem „Nationalpark Ostsee“ mit weitreichenden Einschränkungen erklären würde, sagt: „Die alte Munition setzt giftige Substanzen frei. Deshalb brauchen wir einen großen Kraftakt für die Ostsee – und die Munitionsbergung ist dafür ein wichtiger Baustein.“