Kiel. Pilotprojekt zur Bergung und Zerstörung von Weltkriegsmunition kurz vor dem Start. Bis zu 80 Millionen Euro sollen fließen.
Experten wie der Kieler Toxikologe Edmund Maser sprechen von einer „tickenden Zeitbombe“, wenn sie vor den Hunderttausenden Tonnen Munition auf dem Boden der Ostsee warnen. Bomben, Granaten, Minen, Torpedos – es gibt kaum etwas, was im Zweiten Weltkrieg nicht vor den norddeutschen Küsten versenkt worden ist. Und diese Munition rottet am Meeresboden vor sich hin.
Sie liegen zu lassen ist keine Lösung. Sie zu bergen aber ist kompliziert und kostet so viel, dass ein Bundesland wie Schleswig-Holstein damit überfordert wäre. Jetzt kommt Bewegung ins Thema: Im noch nicht beschlossenen Entwurf des Bundeshaushalts für das laufende Jahr sind 400.000 Euro als erste Zahlung angedacht. Der Bundestag muss nur noch zustimmen.
Ostsee: Bis zu 80 Millionen Euro für Pilotprojekt vorgesehen
Nur: Mit 400.000 Euro kommt man nicht weit. Das ist Kleingeld bei diesem Vorhaben. Mehr als sich davon Berater einzukaufen für eine Ausschreibung, ist nicht drin. Und so sollen in den Folgejahren bis zu 80 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt in das Pilotprojekt fließen. Genehmigt ist das Geld noch nicht.
In der Landesregierung ist man aber ausgesprochen zuversichtlich, dass das Geld von 2023 an fließen wird: Bei ihrem Besuch an der Küste hatte Bundesumweltministerin Steffi Lemke zuletzt darauf gedrängt, die dahinrostende Weltkriegsmunition rasch zu bergen. „Wir wissen, dass durch die Zerfallsprozesse schon jetzt Giftstoffe freigesetzt werden“, sagte die Grünen-Politikerin dem Abendblatt Ende Dezember.
In Kiel rechnet man mit einer Bewilligung bis Herbst
Aus Lemkes Ministerium hieß es am Freitag: „Seit Jahrzehnten liegen Munitionsaltlasten am Grund von Nord- und Ostsee, fortschreitende Korrosion gibt mehr und mehr Anlass zur Sorge. Wir müssen uns dieser Generationenaufgabe jetzt widmen, um noch die Chance zu haben, an priorisierten Orten die Schäden zu begrenzen.“ Und so rechnet man in Kiel, bis Herbst die 80 Millionen Euro (gestreckt über vier Jahre) für das Pilotprojekt vom Bundestag bewilligt zu bekommen. Dann hätte man Planungssicherheit.
So könnte es dann weitergehen: In einem ersten Schritt könnte der Bau einer Bergungsplattform europaweit ausgeschrieben werden. In Polen gibt es Firmen, die sich auf die Bergung und Entsorgung von Weltkriegsmunition spezialisiert haben, in Deutschland ist unter anderem ThyssenKrupp Marine Systems (TKMS) sehr weit mit der Entwicklung einer solchen Plattform. Fachleute gehen davon aus, dass bei einer Ausschreibung 2022 Mitte nächsten Jahres der Bauauftrag vergeben werden könnte. „In dem Fall könnte die Plattform Mitte 2025 mit ihrer Arbeit beginnen.“ Das sagt Claus Böttcher von der Sonderstelle „Munition im Meer“ im Kieler Umweltministerium.
Plattform wird in mehrere Segmente unterteilt
Aber was passiert auf dieser Plattform? Was wird mit den 80 Millionen Euro eingekauft? Laienhaft kann man sich das so vorstellen: Eine ferngesteuerte Maschine oder ein autonom agierender Roboter gräbt die Munition aus und befördert sie an die Wasseroberfläche. Ein Kampfmittelräumer identifiziert sie: Ist es eine Bombe? Eine Granate? Eine Mine? Wie viel Sprengstoff ist darin zu erwarten? Funktioniert der Zünder noch? Liegen diese Informationen vor, wird die geborgene Munition, sagen wir eine Bombe, auf die Plattform gebracht. Die ist zu diesem Zeitpunkt menschenleer. Die Bombe durchläuft automatisiert mehrere Schleusen, bevor sie in einer Spezialkammer zersägt und der Sprengstoff dort verbrannt wird.
TKMS hat dafür in der Theorie ein sehr aufwendiges Verfahren entwickelt, von dem die Experten im Kieler Umweltministerium überzeugt sind, dass es funktioniert: Die Plattform wird dabei in mehrere Segmente unterteilt. Kommt es beim Hantieren mit der Bombe zu einer Explosion, könnte das beschädigte Plattform-Segment einfach abgetrennt werden, der Rest der Plattform aber weiterarbeiten.
Computer und Roboter erledigen die Arbeit
Solche Plattformen gibt es nicht „von der Stange“. Zunächst muss ein Prototyp gebaut werden. Das macht das Projekt auch so teuer. Funktioniert aber dieser Prototyp, könnten die Plattformen 2 bis 5 – so viele sind für die Ostsee angedacht – schon deutlich günstiger produziert werden. Der nächste Vorteil dieser gestaffelten Planung: Plattform Nummer 1 soll alle Munitionstypen aufnehmen und entsorgen können. Die Plattformen 2 bis 5 aber sollen sich jeweils auf Munitionstypen spezialisieren – auf der einen werden Bomben entsorgt, auf der nächsten Granaten, auf der dritten Minen.
Durch diese Spezialisierung sinkt der Zeitaufwand pro Fundstück deutlich. Diese Plattformen werden übrigens von Schleppern oder mit eigener Motorkraft an die Stelle gefahren, wo die Munition entsorgt werden soll. Liegt die Plattform dort sicher verankert oder auf eigene „Füße“ auf den Meeresboden gestellt, verlassen die Arbeiter den Ponton und überlassen Computer und Roboter die Arbeit. Beobachtet werden die Arbeiten dann von Land oder von einem Patrouillenboot aus.
Sprengstoff bedroht Tier- und Pflanzenwelt
1,6 Millionen Tonnen Munition lagern vor den deutschen Küsten auf dem Boden von Nord- und Ostsee. Die Masse wird da auch liegen bleiben. „So um die 100.000 Tonnen müssen wir möglichst bald bergen“, schätzt Claus Böttcher. Dazu zählt die Munition, die belastet vom Salzwasser vor sich hin rottet und das Meer verschmutzt. Denn wenn die Ummantelung rostet, gelangt der Inhalt, also der Sprengstoff, ins Wasser und wird zur Bedrohung für die Tier- und Pflanzenwelt.
Das Umweltbundesamt spricht in einer Untersuchung zu den Inhaltsstoffen davon, dass „insbesondere TNT und seine Metabolite ... giftig, krebserzeugend und/oder erbgutverändernd“ seien. Was darüber hinaus vom Meeresboden verschwinden muss, ist die Munition, die die Schifffahrt be- oder den Bau von Offshore-Windanlagen verhindert“, sagt Claus Böttcher von der Abteilung Wasserwirtschaft, Meeres- und Küstenschutz im Umweltministerium.
Projekt könnte in Kolberger Heide starten
Die Experten in den Ministerien und Forschungseinrichtungen wissen recht genau, wo freigesetzte Schadstoffe unter anderem Fische und Muscheln gefährden. Seit 2009 ist die Landesregierung – von 2016 an wissenschaftlich unterstützt durch Geomar, also das Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung, die Universität Kiel und operativ durch die Marine – intensiv dabei zu erarbeiten und zu kartieren, wo Munition in welcher Tiefe und in welchem Zustand liegt. Dazu haben die Fachleute unter anderem historische Karten und Tagebucheinträge darauf ausgewertet, wo Munition verklappt wurde. Die Ergebnisse wurden mit künstlicher Intelligenz aufgearbeitet und im System https://amucad.org zentral dokumentiert.
Ein hochsensibles Gebiet ist die Kolberger Heide. Hier könnte auch das Pilotprojekt starten. Die Kolberger Heide ist eine in Teilen nur fünf Meter tiefe Sandbank am Eingang der Kieler Förde. In der Nähe der Badeorte Heidkate und Kalifornien und nur wenige Hundert Meter vom Ufer entfernt, dürfte so viel Munition versenkt worden sein wie an kaum einem anderen Ort vor der Küste des Landes.
Ostsee: Munitionsaltlasten müssen schnell geräumt werden
„Für die Küstenländer ist es von enormer Bedeutung, dass wir jetzt einen schnellen Einstieg in die Räumung der Munitionsaltlasten im Meer bekommen. Schleswig-Holstein steht bereit, seinen Beitrag für ein Sofortprogramm zur Bergung und Vernichtung von Munitionsaltlasten im Meer zu leisten“, sagt Umweltstaatssekretär Tobias Goldschmidt. Der Politiker der Grünen wird als neuer Umweltminister in Schleswig-Holstein gehandelt. „Ziel muss es sein, schon 2023 in einem ersten Pilotprojekt vor der schleswig-holsteinischen Küste in die Bergung von Altmunition einzusteigen.“
- „Tickende Zeitbombe“: Die versteckte Gefahr an der Küste
- Minenjagdboot "Homburg" kehrt nach Kiel zurück
- Sporttaucher stoßen vor Fehmarn auf mysteriöse Skulptur
Und was passiert nach Abschluss des Sofortprogramms? Staatssekretär Goldschmidt fordert „eine langfristige Strategie zur vollständigen und umweltfreundlichen Bergung der Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee“. Und das Bundesumweltministerium verweist auf den Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung. Der legt fest, dass „ein Bund-Länder-Fonds für die mittel- und langfristige Bergung eingerichtet und solide finanziert werden soll“.