Kiel. Der Ex-Parteichef fordert ein stärkeres sozialpolitisches Profil seiner Partei im Norden. Wie das gelingen kann, sagt er im Interview.

Er war einer der einflussreichsten Sozialdemokraten der letzten 20 Jahre und eines der bekanntesten Gesichter der Parteilinken: Ralf Stegner, der „Rote Rambo“ von Kiel, der keinem Konflikt auch innerhalb seiner Partei aus dem Weg gegangen ist. Seit Herbst 2021 macht er als Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis Pinneberg Politik in Berlin. Jetzt meldet sich der Ex-Landeschef – besorgt um den Zustand der schleswig-holsteinischen SPD – zurück in der Debatte um die Zukunft seiner Partei im Norden.

Stegner reagiert damit auf Kritik des Meinungsforschers Manfred Güllner. Der Forsa-Chef hatte nach erneuten Verlusten bei den Kommunalwahlen der SPD im Hamburger Abendblatt empfohlen, die „Altlasten des Stegner’schen extremen Links-Kurses entsorgen“. Was der Kritisierte dazu sagt – Ralf Stegner im Interview:

SPD verliert bei Kommunalwahlen erneut deutlich – Stegner wehrt sich gegen Kritik

Hamburger Abendblatt: Herr Stegner, welche „linken Altlasten“, wie Forsa-Chef Manfred Güllner es nannte, haben Sie der SPD in Schleswig-Holstein hinterlassen?

Ralf Stegner: Ich habe eine Partei hinterlassen, die Konzepte entwickelt hat zur Sozial-, Steuer, Friedens- und Energiepolitik. In der Regel waren das Konzepte, denen die Bundespartei später gefolgt ist. Zu den „linken Altlasten“ gehört auch, dass wir regelmäßig mit der Union um Platz 1 gekämpft haben und nicht mit den Grünen um Platz 2. Wir haben immer Direktmandate geholt, und wir lagen selbst bei den schlechtesten Wahlen immer ein paar Prozente über dem Bundesschnitt der SPD. Insofern hat Herr Güllner von Forsa ein bisschen zu wenig auf die Zahlen und Fakten geschaut und ein bisschen zu sehr seine Vorurteile bedient.

Dann gucken wir auf die Zahlen: Die Ergebnisse der Europawahl 2019, der Landtagswahl 2022 und der Kommunalwahl 2023 waren mit jeweils unter 20 Prozent für die SPD extrem schlecht. Bei der Bundestagswahl 2021 lag die SPD in Schleswig-Holstein bei 30,1 Prozent. Kann die SPD im Norden nur „Bundestag“?

Nein. Wenn man unsere Nachbarn in Hamburg, Niedersachsen, Bremen und Mecklenburg-Vorpommern betrachtet, sieht man, dass wir auch im Norden mehrheitsfähig sein können. Wir waren in Schleswig-Holstein immer dann erfolgreich, wenn wir mit einem klaren, unverwechselbaren und sozialpolitischen Profil aufgetreten sind.

SPD zu technokratisch? „Klares, unverwechselbares und sozialpolitisches Profil“ nötig

Das heißt, unter Ihrer Nachfolgerin fehlt der SPD dieses klare sozialpolitische Profil?

Ich kommentiere die Arbeit meiner Nachfolgerin nicht. Es wäre weder guter Stil noch hilfreich, als Vorgänger die Arbeit der amtierenden Landesvorsitzenden öffentlich zu bewerten. Aber im Kommunalwahlkampf ist der SSW unter dem Versprechen angetreten, für ein bezahlbares Leben zu sorgen. Das steht in der Tradition der 160-jährigen SPD-Geschichte. Dieser Slogan hätte zu uns gepasst. Die Kommunalwahlergebnisse waren ein Schlag ins Kontor. Aber ohne den Anti-Grünen-Trend der letzten Wochen hätten wir vermutlich sogar noch hinter den Grünen gelegen – wie bei der Landtagswahl, wo wir kein einziges Direktmandat geholt haben. Das gab es noch nie. Dass wir nirgendwo in Schleswig-Holstein vorne liegen, sondern hinter der CDU, den Grünen oder sogar dem SSW auf Platz 2 oder Platz 3, das kann eine Volkspartei nicht zufriedenstellen. Wir müssen aufpassen, dass sich das nicht zum Strukturproblem auswächst wie in Landesverbänden im Süden und Osten Deutschlands.

Die SPD in Schleswig-Holstein scheint auf grüne Themen zu setzen, auf Klimaschutz und Energiewende. Müsste sich die Partei nicht breiter aufstellen?

Die SPD in Schleswig-Holstein war immer grüner als anderswo. Wir haben den Atomausstieg schon beschlossen, als es die Grünen noch gar nicht gab. Jetzt müssen wir die Klimaneutralität hinbekommen. Aber Aufgabe der SPD ist dabei, dafür zu sorgen, dass das bezahlbar ist, dass sich die Menschen nicht fürchten müssen. Die Menschen sorgen sich: Kann ich die Miete bezahlen? Reicht die Rente? Ist meine Arbeit sicher? Dazu kommen die großen Themen Umwelt und Frieden. Darauf müssen wir Antworten geben.

Aber genau das macht doch der SPD-Fraktionsvorsitzende im Landtag, Thomas Losse-Müller.

Das stimmt. Trotzdem ist es meine Beobachtung, dass wir die Menschen überfordern, wenn wir ihnen in technokratischer Weise und in allen Details darstellen, was jetzt zu tun ist. Wir müssen als Volkspartei mit Leidenschaft und klarer Sprache kommunizieren. Die Leute müssen verstehen, was wir wollen. Manchmal sind wir zu vornehm oder zu technokratisch unterwegs. Die Menschen sind nicht lange am Stück erreichbar, deshalb brauchen Parteien klare, verständliche Botschaften. Wir dürfen niemals die einfachen Inhalte der Populisten übernehmen, aber wir dürfen denen keinesfalls die einfache Sprache überlassen.

SPD muss sich auf klassische Themen konzentrieren: Rente, Pflege, Arbeit, Miete

Wie sehr sorgt Sie der Zustand der schleswig-holsteinischen SPD nach Wahlen mit Ergebnissen unter 20 Prozent?

Ich habe für die Partei 16 Jahre im Landtag gesessen, zwölf Jahre im Kabinett als Staatssekretär und Minister, war Partei- und Fraktionschef. Natürlich berührt mich ganz stark, was hier passiert. Ich wünsche mir eine SPD, die wieder vorne dabei ist. Dafür brauchen wir praktikable Antworten auf die Probleme. Die Leute müssen wieder das Gefühl bekommen, sich in den ganz wichtigen Fragen auf die SPD verlassen zu können.

Und wie wollen Sie die Menschen wieder erreichen?

Wichtig ist Unterscheidbarkeit. Ich war immer ein großer Fan eines robusten und harten Wettbewerbs unter demokratischen Parteien. Dabei müssen wir aufpassen, dass wir nicht Themen in den Vordergrund stellen, für die wir nicht gewählt werden. Wenn man sich die SPD als ein Kaufhaus vorstellt, dann müssen im Schaufenster Rente, Pflege, Arbeit, Miete stehen. Kulturelle Themen, die spalten und nicht verbinden, müssen wir auch besetzen. Aber, um im Bild zu bleiben, im fünften Stockwerk anbieten, oben unterm Dach. Wir sind als SPD immer für die materielle Gleichstellung von Frau und Mann gewesen, die Konservativen sind es nicht. Aber wenn wir zulassen, dass aus eher kulturellen Themen wie der Gendersprache öffentliche Debatten entstehen, gewinnen nicht wir, sondern die Konservativen, weil die Menschen mutmaßlich andere Sorgen haben.

SPD nach Stimmenverlusten: „Die Lage ist bedrohlich“

Sie leiden an Ihrer Partei und der Parteiführung?

Ich leide daran, wenn wir viel schlechter abschneiden, als das unsere ehrenamtlichen Mitglieder verdient haben. Aber ich versuche zu vermeiden, durch öffentliche Ratschläge zur Last zu werden für diejenigen, die jetzt Verantwortung tragen. Man muss fair und solidarisch sein, aber ich neige nicht zur Beschönigung. Deshalb: Die Lage ist bedrohlich für uns.

Ist Frau Midyatli die richtige Person an der Spitze der Partei?

Amtsinhaber schulden ihren Vorgängern Respekt, und umgekehrt gilt, dass man da keine Noten verteilt. Das entscheidet der Parteitag, der seine Führung wählt. Ich bin da befangen. Aber Fakt ist: Daniel Günther ist schlagbar. In seiner eigenen Stadt Eckernförde hat er bei der Kommunalwahl wegen der desolaten Krankenhauspolitik eins auf die Rübe bekommen. Er ist zu besiegen.