Kiel. SPD, FDP, SSW und Unternehmer üben teils massive Kritik an der Arbeit des neuen schleswig-holsteinischen Kabinetts. Die Vorwürfe.
Dass die Opposition einer Regierung ein mieses Zeugnis ausstellt – geschenkt. Das ist Teil eines politischen Rituals. Dass aber auch die Unternehmer von einer CDU-geführten Koalition nicht wirklich angetan sind und das auch deutlich sagen, ist für den schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten und sein schwarz-grünes Kabinett durchaus ein Warnsignal.
Der Präsident der Vereinigung der Unternehmensverbände in Hamburg und Schleswig-Holstein verpackte dieser Tage seine Kritik an Daniel Günthers 100-Tage-Regierung im Norden charmant – in dem er die alte Jamaika-Koalition lobte.
Schwarz-Grün: SPD bezeichnet Start als "verpatzt"
Doch zugleich strafte Philipp Murmann damit Schwarz-Grün ab. Der Start vor fünf Jahren – damals noch mit der FDP in einer Drei-Parteien-Regierung – sei „wesentlich schwungvoller“ gewesen, lobte Murmann diese Woche. Um dann doch noch klarer zu werden: Das Energie-Spitzengespräch der Landesregierung sei zwar ein guter Anfang gewesen, „es muss aber mehr kommen, insbesondere weil der Bund nur mit Nichtergebnissen glänzt.“
Wer diese Kritik bestens nachvollziehen kann, ist Thomas Losse-Müller. Der Fraktionschef der SPD spricht von einem verpatzten Start der neuen Landesregierung. Der Oppositionsführer bemüht ein Bild aus dem Sport: „Schwarz-Grün hat das Auge nicht auf dem Ball. Statt selbst eine Antwort auf die Herausforderungen der Energiekrise zu geben, verweist die Landesregierung immer nur auf den Bund.“
„Ich kenne keinen Multiplikator, der zufrieden wäre"
Die Enttäuschung der norddeutschen Wirtschaft von den ersten 100 Tagen Schwarz-Grün ordnet Losse-Müller im Gespräch mit dem Hamburger Abendblatt so ein: „Ich kenne keinen Multiplikator, der zufrieden wäre. Viele Entscheidungen kommen zu spät – oder gar nicht.“ Als Beispiel nennt der Oppositionspolitiker den Umgang mit dem Industrie- und Chemiestandort an der Westküste des Landes: Gerade in der Energiekrise, unter der chemische Unternehmen massiv litten, müsste die Landesregierung alle geplanten Infrastrukturprojekte vorziehen.
„Große Chemiefirmen haben vor, in den Aufbau von Elektrolyseanlagen zur Gewinnung von Wasserstoff zu investieren. Um diese Firmen müsste sich die Regierung jetzt intensiv und persönlich kümmern. Und sie müsste die Förderprogramme für diese Firmen aufstocken. Aber nichts passiert.“
"Daniel Günther hat sich immer als Moderator gesehen"
Aus Sicht Losse-Müllers verkürze der Ukrainekrieg das Zeitfenster für die industrielle Transformation von 30 auf zehn Jahre. „Das kleine Saarland hat das erkannt. Die neue Landesregierung dort hat einen Transformationsfonds von drei Milliarden Euro aufgelegt. Auf Schleswig-Holstein umgerechnet wären das rund acht Milliarden Euro.“ Auch Unternehmer-Präsident Murmann fordert von der Landesregierung „dringend Klarheit über geplante Entlastungen und den wirtschaftspolitischen Kurs aus der Krise.“ Das sei in Zeiten existenzieller Bedrohungen dringend.
Losse-Müller wirft der Landesregierung im Gespräch mit dem Abendblatt vor, keine Ideen für die Zukunft Schleswig-Holsteins zu entwickeln. Der Koalitionsvertrag sei jedenfalls nicht mehr als ein Werk von 240 Seiten voller Prüfaufträge und Absichtserklärungen. „Ein bisschen liegt es daran, dass der Motor der Landesregierung weg ist – die FDP. Jetzt gibt es niemanden mehr, der eine aktive Rolle einnimmt und führt. Das macht Daniel Günther nicht. Und das hat er auch noch nie gemacht. Statt konzeptionell zu führen, hat er sich immer als Moderator gesehen“, kritisiert Losse-Müller.
Auch FDP übt Kritik
Diese Rolle eines Moderators kritisiert auch FDP-Fraktionschef Christopher Vogt scharf. Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) müsse „angesichts seines schwachen Kabinetts und der fehlenden Projekte seiner Koalition die Rolle des Moderators ablegen und Führung zeigen.“ Sonst drohten fünf verlorene Jahre, so Vogt.
Während der Fraktionschef des ebenfalls oppositionellen SSW, Lars Harms, von „100 verschenkten Tagen für Schleswig-Holstein“ sprach, stuft FDP-Politiker Vogt den Start der neuen Landesregierung gegenüber der Presseagentur DPA als „seltsam kraft- und mutlos“ ein und spricht von einem Fehlstart. „Das wäre in normalen Zeiten problematisch, in diesen Zeiten ist es fatal“, so Vogt.
Zusammensetzung von Günthers Kabinett kritisiert
Massive Kritik übt neben Vogt auch Losse-Müller an der Zusammensetzung von Günthers Kabinett. „Die neuen Minister:innen sind alle noch nicht in ihrem Amt angekommen. Wir hören aus den Verbänden und Kommunen schon erste Frustration gerade über Aminata Touré und Claus Ruhe Madsen, die nicht in die erforderliche Tiefe in ihre Politikfelder eingestiegen sind und die Mühen der Ebene scheuen.“ Die Grüne Touré leitet seit Sommer das Sozialministerium, der parteilose Däne Madsen verantwortet das Wirtschaftsministerium.
Losse-Müller spricht von einer „programmatischen Schwäche“, die auch in der Auswahl des Personals begründet sei. „Bei Frau von der Decken habe ich das Gefühl, dass sie vom Grundsatz her fähig ist als Ministerin, aber ihr fehlt jede politische Erfahrung im Gesundheitsbereich. Bei Herrn Madsen fehlt mir jede Art von wirtschaftspolitischer Strategie. Und ich habe auch Zweifel, ob Tobias Goldschmidt, der als grüner Energieminister für die Westküste zuständig ist, wirklich die Interessen der chemischen Industrie im Herzen trägt.“
Vorwürfe gegen Justiz-Staatssekretär Carstens
Eine Personalentscheidung, für die Losse-Müller und Vogt gar kein Verständnis haben, betrifft Justiz-Staatssekretär Otto Carstens. An dem konservativen CDU-Politiker arbeiten sich SPD und FDP seit Wochen ab. Carstens steht im Verdacht, für seine Doktorarbeit plagiiert zu haben. Nach in dieser Woche veröffentlichten Analysen eines Salzburger Wissenschaftlers und Plagiatsjägers könnte Carstens nicht nur bei Wikipedia, sondern auch bei einer anderen Doktorarbeit abgeschrieben haben. Zusätzlich wiegen die massiven Vorwürfe aus Opposition und Richterschaft gegen Carstens als Mitglied schlagender Verbindungen schwer.
„Noch vor einem Jahr hätte Daniel Günther einen Typen wie Carstens einfach rausgeschmissen. Da war er noch bemüht, das Boot auch in Richtung der Grünen in Ordnung zu halten“, sagte Losse-Müller zur Rückendeckung Günthers für den umstrittenen Staatssekretär.
Schwarz-Grün: Günther wehrt sich gegen Vorwürfe
„Wir merken ganz klar, dass sich die rechte CDU wieder formiert“, behauptet Losse-Müller. Günthers Plan sei eigentlich gewesen, sich mit Schwarz-Grün als „moderner Ministerpräsident zu etablieren und sich damit gegebenenfalls auch für die Bundesebene zu empfehlen. Das macht er jetzt bei Carstens nicht. Entweder aus Hochmut oder aber er will internen Ärger vermeiden, weil er Schwierigkeiten hat, seinen eigenen Laden unter Kontrolle zu kriegen“, kritisiert Losse-Müller, der das „Wegducken der Grünen in der Causa Carstens enttäuschend“ nennt.
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Daniel Günther hatte sich zuletzt gegen Vorwürfe dieser Art gewehrt. „Ich halte das für ziemlichen Klamauk, was da vonseiten der Opposition betrieben wird. Ich finde es übrigens auch völlig unangemessen, solche Dinge in einer solchen Art und Weise hochzuziehen, wo die Bürgerinnen und Bürger völlig andere Interessen im Moment haben“, sagte Günther der DPA.