Heide/Kiel. Staatsanwaltschaft ermittelt gegen sechs Jugendliche. Haupttäterin und Opfer haben sich versöhnt. Bildungsministerin bewertet den Fall.

  • Ein 13 Jahre alten Mädchen wird in Heide schwer misshandelt
  • Die Schülerin wird stundenlang beleidigt und geschlagen
  • Auch Zigarettenasche und Cola wird über dem Opfer ausgeschüttet
  • Die Tat wird gefilmt und verbreitet sich rasend schnell im Internet
  • Unter Verdacht stehen vier Mädchen und zwei Jungen zwischen 14 und 17 Jahren
  • Gegen die Jugendlichen wird wegen gefährlicher Körperverletzung ermittelt
  • Wie die Staatsanwaltschaft und Schleswig-Holsteins Bildungsministerin den Fall bewerten

Sie misshandelten das Mädchen stundenlang. Beleidigten sie, schlugen sie, kippten Cola über ihr aus, aschten auf sie. Immer und immer wieder. Doch für die 13 Jahre alte Schülerin aus Heide in Dithmarschen war das Martyrium noch lange nicht vorbei, als ihre jungen Peiniger nach der tat am 21. Februar 2023 längst wieder zu Hause bei Mama und Papa waren.

Deren Filme über die Misshandlung ging viral. Zigtausendfach geklickt und weitergeleitet, machte es die Runde im weltweiten Netz – mit Folgen für Opfer und für Täter. Für das Opfer ging die Misshandlung virtuell weiter, das Mädchen ist heute noch in Behandlung. Und im Netz brachen sich Hass und Hetze Bahn gegen die Täter und deren Familien. Diese Geschichte kennt nur Verlierer.

13-Jährige misshandelt: Ermittlungen gegen sechs Mädchen und Jungen

Inzwischen hat die Polizei den Fall zu Ende ermittelt und an die Staatsanwaltschaft abgetreten. Die hat ein Ermittlungsverfahren gegen insgesamt sechs Jugendliche eingeleitet. Der Vorwurf gegen die vier Mädchen und zwei Jungen im Alter zwischen 14 und 17 lautet auf gefährliche Körperverletzung.

Außen vor, wenn der Fall am Ende der Ermittlungen vielleicht vor einem Jugendgericht verhandelt wird, ist die Haupttäterin. Die ist, wie das Opfer, 13. Und damit strafunmündig. Die beiden Mädchen, vor der Tat enge Freundinnen, haben sich längst wieder versöhnt.

Die Tat in Heide war nicht der klassische Mobbingfall

Was hier Ende Februar in Heide passiert ist – und vor allem: warum – ist bis heute nicht ganz geklärt. Sicher ist: Es ist nicht der klassische Mobbingfall, bei dem eine Außenseiterin wochenlang gequält wurde. Es gab nicht das eine brutale „Monster“ ohne jeden Skrupel. Vielleicht war es eher eine spontane Tat nach einem Streit mit großer Dynamik. Eine Tat unter Jugendlichen mit Förderbedarf und psychischen Störungen.

Am Ende eines möglichen Prozesses könnte das Jugendgericht die Täterinnen und Täter zu Sozialstunden verpflichten, zu einem Täter-Opfer-Ausgleich, zu sozialen Trainingskursen oder Auflagen. Theoretisch möglich wäre auch eine Jugendstrafe. Wie auch immer: Im Mittelpunkt stünde auf jeden Fall der Erziehungsgedanke, sagt Oberstaatsanwalt Peter Müller-Rakow von der zuständigen Staatsanwaltschaft in Itzehoe. Auch am Montag, den 17. April 2023, dauerten die Ermittlungen und die Befragungen der sechs verdächtigen Jugendlichen an.

Im Hamburger Abendblatt sprach zuvor die schleswig-holsteinische Bildungsministerin Karin Prien (CDU) über den Fall, die Konsequenzen, Hass im Netz und über die Frage, ob eine Strafunmündigkeit bei Kindern unter 14 noch zeitgemäß ist.

Mädchen in Heide misshandelt – Karin Prien im Interview

Hamburger Abendblatt: Frau Prien, wie geht es der 13-Jährigen, die von vier Mädchen und zwei Jungs schwer misshandelt wurde?

Karin Prien: Das Mädchen ist nach wie vor in Behandlung. Zurzeit sind Ferien, das entspannt die Situation. Die Schule tut alles dafür, dass das Mädchen danach wieder zurück in den Unterricht kommen kann.

Soll sie zurück in ihre alte Klasse, in die alte schulische Umgebung?

Die Täterinnen und Täter kommen von verschiedenen Schulen. Eines der Mädchen besucht dieselbe Schule wie das Opfer. Wichtig ist: Beide Mädchen haben sich inzwischen ausgesprochen, es ist zu einer Versöhnung und zu einem Ausgleich gekommen. Die Belange des misshandelten Mädchens hat die Schule besonders im Blick.

Was kann man sich unter diesem Ausgleich vorstellen?

Zu dem Einzelfall kann und will ich nichts sagen. Grundsätzlich kann ich sagen, dass der Täter-Opfer-Ausgleich ein moderiertes Verfahren ist. Unser Landesinstitut bietet den Lehrkräften und Sozialarbeitern dazu auch Fortbildungen an und gibt ihnen Material an die Hand.

Die strafmündigen Täter waren zu sechst. Was ist mit ihnen passiert?

Zunächst ist es an der Polizei, in diesem Verfahren zu ermitteln. Insbesondere ist es aber Aufgabe des Jugendamtes, hier aktiv zu werden. Darüber hinaus werden die Schulen, Schulsozialarbeit und Schulpsychologen tätig – wenn sie denn über Fälle wie diesen informiert werden. Ich sage ganz bewusst: Wenn die Schulen davon Kenntnis erlangen. Denn dieser Fall hat wieder einmal gezeigt, dass der Informationsfluss zwischen Jugendhilfe, Schule und Polizei nicht optimal verläuft.

Sprechen Sie von dem Vorfeld der Tat?

Sowohl vom Vorfeld, als auch vom Nachgang. Offiziell weiß die Schule, die zwei der Mittäter besuchen, gar nichts von der Identität der Täter. Die Polizei hat sie nicht darüber informiert. Jedenfalls nicht offiziell. Das sind wirklich die Probleme. Der Datenschutz ist hier ein Problem.

Man spricht nicht miteinander, tauscht sich nicht aus?

Aus meiner Sicht reicht die Kommunikation zwischen den beteiligten Stellen nicht aus. Das hat häufig datenschutzrechtliche oder ermittlungstechnische Gründe. Eine Lehre aus Heide ist, dass wir darüber nachdenken müssen, wie wir die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Institutionen und Akteuren verbessern.

Was stellen Sie sich vor? Digitale Plattformen, sodass alle Akteure Zugriff auf alle Daten zu einem Fall haben?

Nein. Es geht um Gespräche, um Fallkonferenzen, in denen die verschiedenen Behörden sich gemeinsam mit den Problemen einzelner Jugendlicher befassen. Persönlichkeitsrechte müssen geschützt werden. Die Öffentlichkeit muss ihr Informationsbedürfnis zurückstellen.

Sie haben nach der Misshandlung des Mädchens in Heide angekündigt, die Präventionsangebote überprüfen zu wollen. Was ist dabei herausgekommen? Reichen die Maßnahmen aus, die möglich sind?

Wir haben ein umfassendes Angebot zur Gewaltprävention und Konfliktbearbeitung an den Schulen. Das hat sich anerkanntermaßen bewährt. Die Fälle von Jugendgewalt sind seit 2007 bundesweit rückläufig. Der Anteil der Jugendlichen, die wegen Gewaltdelikten polizeilich registriert wurden, hat sich von 2007 bis 2015 halbiert: Von 100.000 Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren waren 2007 noch 1086 einer Gewalttat verdächtig, 2021 waren es 552. Was wir aber aktuell sehen und was auch Praktiker immer wieder berichten, ist, dass sich die Jugendgewalt in jüngere Jahrgänge verlagert, Täter und Opfer werden jünger. Was wir auch sehen, ist, dass mehr Mädchen Gewalt ausüben und erleiden. Und wir sehen natürlich den Einfluss der sozialen Medien, durch die sich solche Taten in Windeseile im ganzen Land verbreiten. Jeder Klick bedeutet eine neue Rechtsverletzung zulasten der Opfer. An den drei Stellen müssen wir ansetzen.

Was heißt das konkret?

Erstens müssen wir mehr forschen. Stimmt es wirklich, dass immer mehr Jüngere, bisher nicht strafmündige Kinder, Gewalt ausüben und auch Opfer von Gewalt werden? Stimmt es tatsächlich, dass mehr Mädchen an einem Trend beteiligt sind? Und was müssen wir zusätzlich tun, um unsere vielen Anstrengungen im Bereich der Medienerziehung noch zu verbessern, um so diese Verbreitung von Straftaten zu verhindern? Zu diesen Themen würde ich auch eine große Anhörung im schleswig-holsteinischen Landtag begrüßen.

2020 und 2021 waren die Jahre mit Unterrichtsausfall und Lockdown. Wenn man die Zahlen zur Jugendgewalt vergleichen will und diese beiden besonderen Jahre außen vor lässt, drängt sich der Vergleich von 2022 mit dem Vor-Corona-Jahr 2019 auf. Dabei fällt auf, dass nach Jahren des Rückgangs die Zahl der Gewaltdelikte wieder angestiegen ist. Sehen Sie einen Zusammenhang mit der Pandemie?

2020 und 2021 waren die Zahlen nochmals stark rückläufig – weil die Kinder und Jugendlichen in ihren Freiheitsrechten beschränkt waren und schlicht nicht rauskonnten. 2022 beobachteten wir im Vergleich zu 2019 sehr wohl einen Anstieg, bundesweit und auch in Schleswig-Holstein. Dieser Anstieg ist signifikant stärker bei den bis 14-Jährigen. Ob das ein Trend ist, werden wir erst in ein, zwei Jahren wissen. Aber schon die ersten Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass die Entwicklungsstörungen in Folge der Schulschließungen, aber auch dadurch, dass sich Freunde und Altersgenossen nicht treffen durften, dazu geführt haben, dass sich Kinder und Jugendliche andere Ventile suchen. Wir schulden es unseren Kindern und Jugendlichen genau hinzuschauen, was die Pandemie mit ihnen gemacht hat und immer noch mit ihnen macht. Wir müssen Maßnahmen entwickeln, um denjenigen zu helfen, die nachhaltig unter den Folgen der Pandemie leiden. Der Jugendforscher Klaus Hurrelmann sagt, dass rund zehn Prozent so stark betroffen sind, dass sie dringend einer psychologischen oder psychotherapeutischen Begleitung bedürfen. Hier bedarf es erweiterter Therapieangebote.

Der Fall von Heide war kein Mobbing über Wochen oder Monate, sondern offensichtlich eine eher spontane Tat. Gab es hier überhaupt eine Chance, früher aufmerksam zu werden und rechtzeitig einzuschreiten?

Das vermag ich nicht abschließend zu beurteilen. Ich will aber noch mal diesen Punkt betonen: Wir müssen unsere verschiedenen Unterstützungs- und Hilfesysteme für Jugendliche und Familien einschließlich Schule, Schulsozialarbeitern, Lehrkräften miteinander ins Gespräch bringen. Wenn es Schwierigkeiten bei einzelnen Kindern gibt, dann müssen alle Beteiligten an einen Tisch. Wir müssen als Politik Antworten geben, wie wir über die unterschiedlichen Zuständigkeiten hinweg zu einer besseren Zusammenarbeit kommen. Und dann müssen wir die Ressourcen, die wir im System haben, besser einsetzen. Denn die Schulen sind heute viel stärker als früher an der Erziehung beteiligt und schon lange nicht mehr nur Bildungseinrichtungen im Sinne von Wissensvermittlung, sondern sie sind gemeinsam mit den Eltern für Erziehung und Bildung verantwortlich.

In Heide war das Opfer weiblich und vier der sechs Täter/-innen waren Mädchen. Welche Erklärung haben Sie dafür, dass vermehrt Mädchen zu Täterinnen und Opfern werden?

Diese Frage können unser Innen- und unser Justizministerium, aber auch unsere Jugendforscher und Kriminologen bisher nicht ausreichend beantworten. Forschung und Politik müssen sich das genau anschauen. Vielleicht hat es mit sozialen Medien zu tun, vielleicht mit Corona. Aber noch wissen wir zu wenig darüber, als dass wir jetzt schon vorschnelle Schlussstriche ziehen dürfen.

Was genau war die Misshandlung in Heide und die darüber ins Netz gestellte Aufnahme: ein Einzelfall oder ein extremer Fall von vielen?

Es ist leider nicht der einzige Fall dieser Art. Es ist ein besonders brutaler Akt gewesen, auch deshalb, weil er im Anschluss über Wochen in den sozialen Medien verbreitet worden ist und dadurch natürlich die Verletzung des Opfers immer wieder aufs Neue stattgefunden hat. Die öffentliche Wahrnehmung ist im Moment, dass es eine ganze Menge solcher Fälle gibt, in denen Kinder anderen Kindern Gewalt antun und sie im Extremfall wie in Freudenberg oder Wunsiedel sogar töten. Aber ich bleibe dabei: Wir wissen nicht, ob wir es mit einem Trend zu tun haben oder mit mehreren Einzelfällen, die sich jetzt gehäuft haben. Das müssen wir ermitteln.

Einige Täter von Heide waren nicht strafmündig. Reichen die erzieherischen, pädagogischen und schuldisziplinarischen Möglichkeiten, die sich bei unter 14-Jährigen auftun?

Ich schließe eine Änderung bei der Strafmündigkeit nicht völlig aus. Wir müssen uns mit der Frage beschäftigen, ob eine frühere Strafmündigkeit ein wirksames Mittel wäre. Ich bin mir da nicht so ganz sicher. Pädagogische Maßnahmen und Aspekte der Resozialisierung müssen hier im Vordergrund stehen. Aber vielleicht müssen wir dazu kommen, dass zwar die grundsätzliche Strafunmündigkeit bei unter 14-Jährigen weiter gilt, wir aber in Einzelfällen, wenn die entsprechende Reife vorhanden war, auch Ausnahmen machen können. Aber auch hier ist für mich entscheidend: Ist das nach wissenschaftlichen Erkenntnissen ein wirksames Mittel?

Die Täter filmten die Misshandlungen der 13-Jährigen. Tausendfach wurde der Film auf sozialen Medien im Internet geteilt. Die Sequenz der brutalen Erniedrigung des Mädchens ging von Kinderhand zu Kinderhand. Diese sozialen Medien kann man sich ja gern wegwünschen. Man kann sie für überflüssig oder schädlich halten. Aber sie sind da. Die Frage ist, wie man Regeln für ein soziales Verhalten auch in sozialen Medien findet.

Ich teile die Einschätzung, man kriegt den Geist nicht mehr in die Flasche. Die sozialen Medien sind da, und es kann nur darum gehen, den Umgang damit zu regulieren, etwa für jüngere Kinder. Wir müssen den Eltern stärker vermitteln, wie sie den Umgang ihrer Kinder mit sozialen Medien regulieren können und müssen. Über Einstellungen auf dem Smartphone oder auf Endgeräten kann man zum Beispiel den Zugang zu pornografischen Seiten oder Gewaltvideos verhindern. Da gibt es noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Neben der Schule tragen Eltern hier eine große Verantwortung. Etwa im Zusammenhang mit der Gewalttat von Heide wäre es natürlich auch Aufgabe der Eltern gewesen, dafür Sorge zu tragen, dass ihre Kinder dieses Video nicht verbreiten. Aber die Schule ist natürlich genauso verantwortlich. Die Landesmedienanstalten müssen ihre Anstrengungen nochmals verstärken.

Bei drei bis fünf Prozent der deutschen Kinder und Jugendlichen gehen digitale Medien inzwischen mit einem pathologischen Nutzungsverhalten einher. Braucht es klarere Regeln für diese Plattformen?

Ich würde mir auch in Deutschland etwa eine Debatte wünschen, wie wir mit TikTok umgehen, und zwar aus vielerlei Gründen. Nicht nur, dass China über TikTok einfach Datensätze über uns und unsere Kinder einsammelt. Wir müssen uns mit der Frage auseinandersetzen, inwieweit man den Gebrauch von TikTok zumindest regulieren kann. In den USA gibt es Bestrebungen TikTok ganz zu verbieten. Unsere Innenministerin hat sehr schnell ausgeschlossen, das auch in Deutschland zu machen.

Und wie sehen Sie das als stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU?

Wir brauchen eine gesellschaftliche Debatte über TikTok, sowohl unter dem Aspekt, in welchem Umfang eine chinesische Firma Daten über uns sammeln darf, als auch, welche Auswirkungen TikTok auf die Lernfähigkeit und die sozialen Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen hat. Nach der wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesen Fragen müssen wir überlegen, wie weit Regulierung zumindest für jüngere Kinder und Jugendliche möglich ist.

Haben Sie eine Erklärung dafür, wo dieser Hass und diese Hetze herkommen, die sich im Internet bei Jugendlichen und bei Erwachsenen Bahn bricht?

Dazu gibt es viele Theorien. Sicherlich hat das etwas mit der Anonymität im Netz zu tun. Die Polarisierung gesellschaftlicher Debatten spielt eine Rolle genau wie die Entwicklung unserer Medienlandschaft. Wir alle wären gut beraten, uns da zu disziplinieren. Es ist ja so einfach, ständig übers Ziel hinauszuschießen und andere auch persönlich anzugreifen, statt die sachliche Debatte zu suchen. Politiker – und generell Erwachsene - sind da als Vorbilder gefragt.

Sie haben es ja selbst erlebt und wurden im Netz massiv angegangen…

Und ich werde es bis heute auch noch. Das hört nicht auf. Für die Weiterentwicklung unseres demokratischen Systems ist von entscheidender Bedeutung, dass wir das kulturell angehen und nicht nur strafrechtlich. Am Ende müssen Zivilgesellschaft, Politik und Medien gemeinsam daran arbeiten, dass unsere demokratische Kultur nicht ständig weiter erodiert.