18-Jährige starb vermutlich bei TikTok-Dreh. Der Suchtexperte des UKE, Rainer Thomasius, zu den Gefahren der sozialen Medien.
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- Halbe Million Kinder und Jugendliche sind mediensüchtig
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Es sind alarmierende Zahlen: Eine halbe Million Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 12 und 17 Jahren sind in Deutschland mediensüchtig. Das bedeutet: Sie zeigen ein Verhalten, das über die normale Mediennutzung weit hinausgeht. Ob soziale Netzwerke, Computerspiele oder Streaming-Dienste, ob Mädchen oder Jungen: In allen Bereichen hat die Nutzungsdauer erheblich zugenommen.
In aller Regel führt der Medienkonsum nicht zu einem Verhalten, das tödlich endet – so wie beim Unfall an den Bahngleisen in Allermöhe, wo ein junges Mädchen ein TikTok-Video drehen wollte und dabei zu Tode kam.
Tragödie der Zwillinge: Hamburger Experte warnt vor Macht der sozialen Medien
Dennoch warnen Experten vor der Macht der sozialen Medien, vor den virtuellen Welten in Computerspielen. Es liegt an Eltern, Schulen und der Politik, Kinder- und Jugendliche vor exzessivem Medienkonsum zu schützen, so Prof. Dr. Rainer Thomasius, ärztlicher Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) am Universitätsklinikum Eppendorf, im Gespräch mit dem Abendblatt.
Jedes Jahr kommen rund 1600 Kinder und Jugendliche ins Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am UKE, teils ambulant, teils stationär. Es geht dabei um Drogenmissbrauch, wie Alkohol oder Cannabis, und zu einem großen Teil mit 400 betroffenen Mädchen und Jungen im Alter zwischen 12 und 18 Jahren auch um medienbezogene Störungen.
Thomasius rechnet damit, dass diese Zahl aus dem vergangenen Jahr weiter ansteigen wird. Zu groß ist die Versuchung, sich in den sozialen Netzwerken, beim Spielen am Computer oder beim Streaming zu verlieren.
Hat die Jagd nach Likes zu dem tödlichen Videodreh geführt?
Fälle wie die der Zwillinge, die waghalsige Videos drehen und sie auf Plattformen wie TikTok veröffentlichen, sind Professor Thomasius aus seinem Klinikalltag nicht bekannt. Ein geringes Selbstbewusstsein, die Jagd nach Likes und Followern in Kombination mit einer emotionalen Instabilität, der Angst, etwas zu verpassen (im Englischen fear of missing out, kurz fomo) und der Suche nach extremen äußeren Reizen könnte zu dem tödlichen Videodreh auf den Bahngleisen geführt haben.
Mit einer Mediensucht muss das nichts zu tun haben. Mit der ungeheuren Macht und Faszination der sozialen Netzwerke wohl schon. Einer Studie des medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest (mpfs) zufolge haben junge Menschen von 12 bis 19 Jahren im vergangenen Jahr im Schnitt 204 Minuten, also knapp 3,5 Stunden, im Internet verbracht, und zwar in der Freizeit. Recherchen im Internet im schulischen Zusammenhang zählen dabei nicht mit.
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Pandemie ließ Internetnutzung bei Kindern stark ansteigen
Unterteilt in die einzelnen Altersstufen sind es bei den 12- bis 13-Jährigen 176 Minuten an einem Werktag, bei den 14- bis 15-Jährigen 194 Minuten, bei den 16- bis 17-Jährigen 210 Minuten und bei den 18- bis 19-Jährigen 233 Minuten, am Wochenende verbringen die Mädchen und Jungen nach eigenen Angaben noch mehr Zeit im Internet.
„Unsere eigene Studie kommt sogar zu noch höheren Werten“, sagt Rainer Thomasius. Gemeinsam mit der DAK-Gesundheit hat das Deutsche Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters 1221 Jugendliche im Alter von zehn bis 17 Jahren nach ihrem Nutzungsverhalten befragt. Ergebnis: Im Jahr 2021 verbrachten junge Menschen 139 Minuten täglich in den sozialen Medien, am Wochenende sind es demnach sogar 196 Minuten.
Mit Computerspielen beschäftigen sich vor allem Jungs 109 Minuten am Tag, 175 Minuten am Wochenende. Im Vergleichszeitraum von 2019, also noch vor den Lockdowns während der Corona-Pandemie, lagen die jeweiligen Nutzungszeiten 20 bis 60 Prozent niedriger.
Kinder werden in den Sog von Instagram, TikTok & Co. hineingezogen
Während des Lockdowns im April 2020 verbrachten Kinder und Jugendliche sogar zusammengerechnet 7,5 Stunden im Schnitt am Wochenende mit dem Spielen am Computer und in sozialen Medien. Nach den Lockdowns sei die Zeit im Internet zwar zurückgegangen, sie liege aber immer noch nicht wieder auf dem Vor-Pandemie-Niveau. Wie sich die Nutzungsdauer seit der Corona-Pandemie genau entwickelt hat, werden die Zahlen zeigen, die im März vorliegen.
Und viele Jungen und Mädchen werden so in den Sog von Instagram, TikTok, Snapchat in Computerspiele hineingezogen, dass sie süchtig danach werden. „Bei den 10- bis 17-Jährigen haben wir in einer repräsentativen Studie im Jahr 2021 auf Deutschland hochgerechnet 220.000 Behandlungsbedürftige mit einer Abhängigkeit von Computerspielen und 250.000 im Bereich Social Media festgestellt“, so Thomasius.
Hamburger Suchtexperte: Kinder nicht zu früh im Internet allein lassen
Von einer Sucht sprechen Experten dann, wenn folgende Faktoren vorliegen: Die Mädchen und Jungen haben keine Kontrolle mehr über Dauer und Intensität der Mediennutzung, schaffen es nicht oder kaum, diese zu beenden. Die sozialen Netzwerke oder das Computerspiel haben bei Süchtigen absolute Priorität, dabei gehen Freundschaften und soziale Kontakte immer mehr verloren. „Wer süchtig ist, macht immer weiter, auch wenn es negative Folgen hat, Freizeit und Schule werden mehr und mehr vernachlässigt“, so Thomasius.
Besonders gefährdet, Süchte zu entwickeln, sind Kinder und Jugendliche, die zu früh im Internet allein gelassen werden. Die Familie spielt dabei eine wichtige Rolle, so Rainer Thomasius. Geborgenheit, Wärme und Wertschätzung innerhalb der Familie seien umso wichtiger, fehlt dieses, kann das zu einem verminderten Selbstwertgefühl bei Mädchen und Jungen führen. Hinzu kommen psychische Belastungen wie Depressionen, Ängste, AD(H)S, die zur Entwicklung einer Suchterkrankung beitragen können.
UKE-Experte appelliert: Medienkompetenz an Eltern vermitteln
Experten wie Professor Thomasius appellieren daher eindringlich, noch stärker als bisher Medienkompetenz an Eltern zu vermitteln. Da seien Bildungseinrichtungen und die Politik gefragt. In Verantwortung stehen zudem in erster Linie die Anbieter von sozialen Plattformen und Computerspielen.
„Selbst- und fremdschädigende Verhaltensweisen müssen aus den Netzwerken entfernt werden, um nicht auch noch weitere Nachahmer anzustiften. Das ist auf politischer Ebene und auf EU-Ebene zu regulieren.“