Wesselburenerkoog. 1973 wurde die Anlage in Betrieb genommen. Jetzt läuft die Sanierung. Doch irgendwann ist auch für ein Jahrhundertbauwerk Schluss.
Es ist frisch an diesem Tag und windig. Dennoch wird reichlich Bier und Köm gereicht, dazu gibt’s Krabben und Hering und deftige Erbsensuppe, falls es etwas Warmes sein soll. Bunte Fähnchen flattern im Wind von Stärke sechs, während die Marinekapelle „Schleswig-Holstein, meerumschlungen“ intoniert. Gerührt applaudieren die Frauen in Dithmarscher Tracht, als der Ministerpräsident endlich die Gedenktafel enthüllt.
Es ist der 20. März 1973. Der Ministerpräsident heißt Gerhard Stoltenberg, und die Gedenktafel verspricht die „Abwehr von Sturmfluten, Sicherung der Vorflut, Erhaltung der Schiffahrt“, damals noch mit zwei f geschrieben. Vor 50 Jahren wurde das Eidersperrwerk offiziell in Betrieb genommen, nach mehr als sechs Jahren Bauzeit.
1973 ist das Jahr der ersten Ölkrise, der Watergate-Affäre, des Jom-Kippur-Kriegs. In Chile kommt Augusto Pinochet an die Macht, in Deutschland regiert Willy Brandts SPD gemeinsam mit der FDP. Gezahlt wird in D-Mark. Rund 170 Millionen Mark oder umgerechnet etwa 87 Millionen Euro hat das „Meisterwerk der Ingenieurkunst“ an der Mündung der Eider und der Grenze zwischen Dithmarschen und Nordfriesland gekostet.
Sanierung: 1973 wurde das Eidersperrwerk in Betrieb genommen
„18 Monate früher als vorgesehen wurde alles fertig und dabei nicht einmal der Kostenvoranschlag überschritten.“ So beschreibt es das Hamburger Abendblatt in der Ausgabe vom Tag nach der feierlichen Eröffnung. „Vater Staat hat sich ... mächtig ins Zeug gelegt. Die Bewohner an der Küste können jetzt sicherer leben.
Das größte europäische Küstenschutzwerk, der 4,8 Kilometer lange Eiderdamm, war seiner Bestimmung übergeben.“ Es sei alles menschenmögliche getan worden, „um den ,blanken Hans‘ daran zu hindern, bei einer neuen Sturmflut die Menschen, die hinter den Deichen unter dem Meeresspiegel leben, zu gefährden“, zitiert das Abendblatt Besucher.
Bei der Jahrhundertflut im Februar 1962 versanken nicht nur Teile von Hamburg im Wasser – auch an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste brachen Deiche, Ortschaften wurden überflutet, Menschen und Tiere starben. Eine der größten Naturkatastrophen in Norddeutschland legte die Schwachstellen in der Deichsicherheit brutal offen. Bund und Land reagierten.
Das Küstenschutzwerk sollte weitere Gefährdung vor Sturmfluten verhindern
Zunächst einmal testeten Ingenieure an einem Modell im Maßstab 1:66, ob ihre Idee von einem Sperrwerk der Superlative in der Eidermündung funktionieren könnte. Erst als sie sicher waren, dass sich die Idee auch umsetzen ließ, verbauten sie 55.000 Kubikmeter Beton und Spannbeton, 6000 Tonnen Stahl und 95.000 Tonnen Stein. Unter anderem.
Extrem vereinfacht haben Tausende von Ingenieuren und Handwerkern zunächst einmal eine künstliche Insel im Katinger Watt geschaffen, aufgeschüttet und durch einen Ringdeich geschützt. Was für den Bau des neuen Sperrwerks auf 800 Pfählen nötig war, wurde über eine provisorische 900 Meter lange Hochbrücke auf diese künstliche Insel geschafft.
Nach drei Jahren stand das Sperrwerk. Als nächstes zog die Bautruppe den südlichen Damm hoch. Zum Schluss flutete man die Bauinsel, brach den Ringdeich ab und baute die Behelfsbrücke zurück. Noch heute ist das 1973 fertiggestellte Eidersperrwerk ein beeindruckendes Bauwerk.
Zwölf Menschen arbeiten im Schichtdienst am Eidersperrwerk
Auch für Olaf Petersen. Und der arbeitet immerhin schon seit 31 Jahren hier. Der Techniker kommt ursprünglich aus der Nähe von Frankfurt. Über die Bundeswehr und ein paar Jahre auf See landete Petersen schließlich in Tönning.
Das Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt setzt am Eidersperrwerk zwölf Leute im Schichtdienst ein, Petersen ist ihr Chef. Sechs Nautiker sind darunter, drei Elektriker und drei Schlosser. Sie machen das, was hier anfällt, selbst die alte Hydraulik wird noch repariert, sofern es Ersatzteile gibt.
Aus dem rundum verglasten Tower am Sperrwerk, der bei starkem Wind leicht schwankt, überwachen Petersens Leute die Schiffe in der Nordsee, die Pegelstände, die Leuchtfeuer. Sie informieren über Wasserstände und drohende Sturmfluten.
Die Tore werden etappenweise gehoben, sobald die Flut kommt
Ab neun Meter hohem Wasser arbeiten sie hier sicherheitshalber zu zweit. „Wir schließen alle Schleusentore und koppeln uns vom Stromnetz ab. Stattdessen versorgen uns über ein Notstromaggregat, so dass Pumpen und Hydraulik immer funktionieren, auch wenn der Strom ausfallen sollte“, sagt Petersen.
Das Eidersperrwerk besteht aus zwei Reihen mit jeweils fünf 40 Meter breiten Flutschutztoren. Zwischen diesen beiden Stahltor-Reihen verläuft in einem Tunnel die gut 200 Meter lange Landesstraße in einem Tunnel, darauf können Besucher spazieren.
Extrem vereinfacht sind bei Ebbe die Tore geöffnet, damit das Wasser abläuft. Steht das Niedrigwasser auf beiden Seiten, also in Eider und Nordsee, etwa gleich hoch, fährt der Wachhabende die Tore auf 1,50 Meter runter. Bei Flut werden die Tore in Etappen gehoben, um die Strömungsgeschwindigkeit zu reduzieren und dafür zu sorgen, dass weniger Schlick und Segmente in die Eider gelangen.
Bevor eine Sturmflut aufläuft, wird die Eider über die Sielanlage entwässert
Bevor eine Sturmflut aufläuft, wird die Eider über die Sielanlage entwässert. Vereinfacht läuft sie leer. Danach werden beide Torreihen komplett heruntergefahren. „Die höchsten Fluten, die ich erlebt habe, waren nur wenige Zentimeter unter 10 Meter hoch“, sagt Petersen.
Mit einer Flut von zehn Metern werden auch die Grenzen der vorderen Torreihe erreicht. „Ab 10 Meter Höhe läuft die Welle über“, sagt Petersen. Allerdings bietet die hintere Reihe dann noch einen weiteren Meter Schutz.
„Es ist immer wieder erstaunlich. Meist sieht es von hier friedlich aus und ruhig. Man kann sich dann nur schwer vorstellen, welche Kraft und Gewalt bei einem Orkan hier einwirken“, sagt Petersen. Er erzählt von den spürbar gestiegenen Windgeschwindigkeiten im Lauf der Jahre, seit er am Sperrwerk arbeitet.
Bei Vollmond: Die Springtide ist am schlimmsten
„Mit den Wasserständen haben wir hingegen meistens Glück: Die Stromrichtung ist aus Südwest. Bei starken Stürmen dreht der Wind oft auf Nordwest und drückt die Hochwasser eher Richtung Hamburg.“ Am schlimmsten sei eine Springtide, wenn bei Vollmond der Wind stark gegen das ablaufende Wasser drücke. Das Wasser staue sich – und baue sich mit der nächsten Flut nochmals stärker auf.
Ingenieur Marco Bardenhagen, der auch für das WSA arbeitet, gibt dennoch Entwarnung: „Die Tore des Sperrwerks haben mit zehn beziehungsweise elf Metern Höhe sehr viel Luft, die genügt auch bei einem Anstieg des Wasserspiegels. Die Reserven reichen aus. Bei Sturmfluten schließen wir die Tore. Solange das Sperrwerk intakt ist, hält das die Sturmflut draußen.“
Eine „Allerheiligenflut“ gab es im Jahr 2006
Die Sturmfluten und Orkane mit Wind bis zu rund 150 Kilometer/Stunde hatten so harmlose Namen wie Xaver, Anatol, Sabine oder Tilo. Eine „Allerheiligenflut“ war 2006 auch einmal darunter. Das Eidersperrwerk hielt stand – aber nicht ohne Folgen. Nach mehr als 60 schweren Sturmfluten musste das Bauwerk zuletzt aufwendig saniert und die Technik automatisiert werden.
„Ein Wasserbauwerk wie das Eidersperrwerk ist auf rund 80 Jahre Lebensdauer ausgelegt. Aber das aggressive Milieu - Salzwasser, Druck, Wellenschlag, Wind – wirken extrem auf das Sperrwerk ein.“ Das sagt Ingenieur Marco Bardenhagen, der die Sanierungsarbeiten verantwortet. Deshalb habe man sich bei Halbzeit, also nach rund 40 Jahren, entschieden, alles in jahrelangem Aufwand instand zu setzen oder zu erneuern: Den Beton, die Stahltore, die Maschinentechnik.
Irgendwann ist eine weitere Sanierung nicht mehr wirtschaftlich
Im Beton hatten sich Risse gebildet. Das Salzwasser schädigte den Beton dann weiter, drang immer weiter in den Beton ein. „Dann wird es gefährlich“, sagt Bardenhagen. „Deshalb haben wir bei der Sanierung rund 30 Zentimeter abgestrahlt vom beschädigten Beton, eine zusätzliche Bewährung eingebaut und eine neue Betonschale davorgesetzt.“ Die großen, jeweils 250 Tonnen schweren Stahltore wurden vom Rost befreit.
Bolzen, Verbindungen und Schweißnähte wurden geprüft, ausgebessert oder erneuert und neu beschichtet. „Das setzen wir dieses Jahr fort“, sagt der Ingenieur. Dann wird das nächste Tor hochgefahren, verschwindet unter Gerüst und Planen, während die vier anderen Tore einer Reihe in Betrieb bleiben. Arbeiter in Schutzkleidung werden die asbestbelasteten und beschädigten Lackschichten dann abstrahlen. Kostenpunkt pro Tor: mehr als zwei Millionen Euro.
„Durch diese Instandsetzungen können wir das Bauwerk wieder zurück auf die ursprünglichen 80 Jahre Lebensdauer bringen – das wäre dann in etwa in den Jahren 2050 bis 2053 erreicht“, sagt Bardenhagen. Man könne solche Arbeiten beliebig oft wiederholen, sagt der Ingenieur.
„Aber es gibt natürlich Schäden, die irgendwann schwierig zu beheben sind. Im Moment haben wir die Lebensdauer wieder auf die 80 Jahre gehoben. Mit der nächsten Instandsetzung kann man wieder ein bisschen was rausholen. Aber irgendwann ist eine weitere Sanierung nicht mehr wirtschaftlich“, sagt Bardenhagen.
Was kommt nach dem Eidersperrwerk?
Und dann? Braucht es dann einer neuen „Meisterleistung der Ingenieurkunst“ wie Ende der 1960er Jahre? Und: Wer finanziert ein solches Bauwerk? Schleswig-Holstein? Der Bund? Zu welchen Teilen? Die Verhandlungen dürften sich Jahre hinziehen. Denen schließen sich dann Voruntersuchungen an und Standortfragen.
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Marco Bardenhagen: Man muss überlegen, wie ein neues Sperrwerk aussehen könnte? Ob es vor oder hinter dem alten errichtet werden könnte? Ob es überhaupt ein Sperrwerk sein muss oder ob man die Deichlinie stattdessen mit Beton schließt und ein riesiges Pumpwerk baut? „All diese Möglichkeiten müssen untersucht werden. Auch das dauert Jahre, so dass man grob im Jahr 2030 anfangen sollte mit den ersten Überlegungen, um dann um 2050 den Bau zu beenden“, sagt der Fachmann.
Dass Sturmfluten höher aufliefen, merke man „gar nicht oder ganz wenig. Was wir aber merken, ist, dass in den vergangenen 15 Jahren die Häufigkeit der Sturmfluten zunahm“, sagt Bardenhagen.
Sanierung: Minister weist bei der Einweihung auf Abschmelzung der Polkappen hin
Viel gravierender seien aber die starken Niederschläge im Binnenland und deren Folgen. „Wenn der Westwind gegen das Sperrwerk drückt, werden wir das Wasser nicht mehr los, dann kann die Eider nicht mehr entwässern.
Aus Eider und Treene gibt es dann einen starken Sediment-Sandeintrag. Dadurch nimmt das natürliche Gefälle ab, sodass die Entwässerung immer schlechter wird. Dieses Problem tritt vermehrt auf und wird gravierender“, beschreibt Ingenieur Bardenhagen die Problematik.
Noch einmal zurück zur Eröffnungsfeier. Dabei war auch Bundeslandwirtschaftsminister Josef Ertl. Der Ehrengast hat zwar kaum ein Wort von dem verstanden, was hier – auf Plattdeutsch – erzählt wurde. Aber der FDP-Politiker blickte vor 50 Jahren bereits auf das große Thema von heute: „Ernstzunehmende Wissenschaftler glauben, daß die Bedrohung durch zunehmende Abschmelzung der Polareise und durch säkulare Küstensenkung auf lange Sicht noch zunimmt.“