Hamburg. Vor 60 Jahren brachen in Hamburg die Deiche. Seitdem wurden Milliarden investiert – doch der Klimawandel bringt neue Herausforderungen.
Hochwasserschutz ist wie ein Schneckenrennen. Nach der Hamburger Flutkatastrophe von 1962, bei der 315 Menschen starben, wurden über Jahre hinweg die Deiche und Schutzmauern verstärkt. Mit Erfolg: 14 Jahre später richtete die Sturmflut von 1976, die deutlich höher war, vergleichsweise geringe materielle Schäden an. Und: Niemand ertrank.
Aber das Schneckenrennen, das in Hamburg über Leben und Tod entscheidet, geht weiter. Und es wird immer schwieriger, es zu gewinnen. Denn die Wasserstände der Elbe steigen – wegen des Klimawandels, aber auch wegen der Elbvertiefung, mit der die Stadt den Hafen retten will.
Sturmflut 1962: Wie kann Hamburg sich vor Hochwasser schützen?
Schon 2019 erklärte Umweltweltsenator Jens Kerstan (Grüne): „Wir müssen unsere Deiche weiter erhöhen. Doch ein Drittel Hamburgs werden wir vor Pegelanstiegen von vier Metern nicht durch Deiche schützen können, dafür fehlt uns die Fläche. Wollen wir nicht ein Drittel der Stadt aufgeben, werden wir in der Elbmündung ein Sperrwerk bauen müssen.“ Vier Meter Anstieg in den kommenden 250 Jahren – dieses Worst-Case-Szenario (Annahme für den schlimmsten Fall) hat der Weltklimarat in seinem Bericht geschildert.
Für Hamburg wäre das eine Katastrophe. Hochwasserrisiko-Karten zeigen schon heute, dass im Fall eines extremen Hochwassers, eines sogenannten Jahrhundertereignisses, besonders die Hamburger Gebiete südlich der Elbarme, aber auch Wilhelmsburg und Veddel, Bergedorf sowie die Vier- und Marschlande überflutet werden würden. Auch die an die Binnenalster angrenzenden Stadtteile wären betroffen. Neuwerk würde in der Nordsee versinken.
Hochwasserexperten beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit dem Thema
Was könnte helfen? Ein Sperrwerk in der Elbmündung? Die Idee ist reizvoll. Die Tore des Werkes stehen meistens offen, Schiffe können passieren. Nur bei einer Sturmflut werden sie geschlossen.
Neu ist diese Idee nicht. Hamburgs Hochwasserexperten haben sich schon vor Jahrzehnten mit dem Thema beschäftigt. 1985 hatte der Senat eine „Unabhängige Kommission Sturmfluten“ einberufen, die sich eingehend mit verschiedenen Möglichkeiten des Hochwasserschutzes beschäftigte. Ähnliche Kommissionen hatte es auch schon früher gegeben. 1989 wurde der Abschlussbericht vorgelegt.
Kurz- und langfristig: Wie kommt man mit gestiegenen Wasserständen klar?
Ein immer wiederkehrender Satz fällt auf: „Angesichts der zu beobachtenden Entwicklung ist die bisherige Bemessung der Hochwasserschutzanlagen in Hamburg als nicht mehr ausreichend anzusehen.“ Die Aussagen der Vorgängerkommissionen seien „überholt“. Der Bemessungswasserstand müsse angehoben werden – für St. Pauli von 6,70 Metern über Normalnull auf 7,30 Meter. Als Bemessungswasserstand bezeichnet man den höchsten aus langjähriger Beobachtung ermittelten Hochwasserstand.
Wie kommt man mit den gestiegenen Wasserständen klar? Kurzfristig, empfahl die Kommission, müssten die Deiche erhöht werden. Langfristig müsse ein Sperrwerk her – entweder im Raum Finkenwerder oder in Höhe von Brokdorf. Beide könnten innerhalb von 25 bis 30 Jahren gebaut werden.
Die Kommission hatte es sich mit der Entscheidung nicht leicht gemacht. Die Vertreter der Parteien, der Hafenwirtschaft und der Gewerkschaften lehnten die Lösung vehement ab. Sie befürchteten, ein Sperrwerk könnte die Schifffahrt behindern und damit dem Hafen schaden. Nur mit einer Stimme Mehrheit kam die Sperrwerksempfehlung durch. Experten vom Strom- und Hafenbau (heute HPA) hatten da schon durchgerechnet, was ein Sperrwerk in Höhe Finkenwerder kosten würde: rund 2,5 Milliarden D-Mark. 27 Meter hoch müsste es sein, die Durchfahrtsbreite wurde mit 400 Metern berechnet.
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Sicherheit vor der Flut: Sperrwerk nur im Bereich der Elbmündung sinnvoll
Gut 20 Jahre später war dann schon wieder alles anders. Denn die EU hatte 2007 eine Richtlinie über die Bewertung von Hochwasserrisiken erlassen. Dabei sollte nun ausdrücklich auch der Klimawandel berücksichtigt werden. Im Ergebnis musste Hamburg seine Bemessungswasserstände erneut anheben. Für St. Pauli ging es von 7,30 Metern über Normalnull auf 8,10 Meter. Von einem Sperrwerksbau war nun nicht mehr die Rede. Der geplante Standort Finkenwerder kam nicht mehr in Betracht. Dort war zwischenzeitlich das Finkenwerder Loch zugeschüttet und das Airbus-Gelände erweitert worden.
In einem Bericht zum Hochwasserschutz hieß es 2012: „Niedersachsen und Schleswig-Holstein werden nur dann einen Nutzen von einem Sperrwerk haben, wenn es im Bereich der Elbmündung angeordnet wird.“ Ohnehin schütze eine „mit Deichen verbundene Schleuse vor der Elbmündung“ besser vor einem beschleunigten Meeresspiegelanstieg. Vorteil: Diese Option halte den Zugang zum Hafen offen. „Ein erster Meinungsaustausch mit Vertretern der Europäischen Kommission fand im Oktober 2010 statt“, heißt es in dem Bericht.
Elbvertiefungen sorgen für Anstieg des Pegels in Hamburg
Dieser erste war offenbar auch der letzte Meinungsaustausch. Ein Deich mit Schleuse in der Nordsee müsste mehrere Kilometer lang sein – ein gigantischer Bau, der nicht recht in die Zeit passen will. Die Folgen für die Umwelt wären wohl erheblich. Denn Naturschutzverbände kritisieren das Vorhaben scharf. Paul Schmidt vom BUND sagte dazu: „Die Idee ist völlig absurd.“ Wenn die Stadt ernsthaft Sorge habe, dass der Meeresspiegel für sie zum Problem werden könne, müsse sie zuallererst aufhören, die Elbe zu vertiefen. „Man darf nicht die Sicherheit der Menschen gegen die Interessen der Hafenwirtschaft ausspielen.“ Bereits die letzten Elbvertiefungen hätten für einen deutlichen Anstieg des Pegels in Hamburg gesorgt.
Das Forum Tideelbe, das sich für den Erhalt des Flusses und seiner Lebensräume einsetzt, sieht das ähnlich. Das Gremium hatte über Bauten in der Elbmündung beraten, die den Tidehub abschwächen könnten. Es ging nicht um ein Sperrwerk, sondern um einen Damm. Er sollte verhindern, dass mit der Flut immer wieder Schwebstoffe in die Elbe hineingespült werden, die dann mit Baggern aus dem Flussbett geholt und anschließend in der Nordsee abgekippt werden müssen. Der Damm, der den Mündungstrichter einengt, führt allerdings zu gefährlichen Veränderungen der Fließgeschwindigkeit des Stromes – mit unabsehbaren Folgen für die Natur.
Sturmflut: Fernbedienung von Schleusen und Schöpfwerken für mehr Sicherheit
Also doch kein gigantisches Bauwerk in der Nordsee? Kerstan blieb bei seiner Äußerung, ergänzte sie aber. „Hamburg selbst hat die Fragen eines Sperrwerkes für die Zeit nach dem bis 2050 laufenden Bauprogramm als potenzielle Alternative aufgebracht, wenn jetzt nicht entschieden gehandelt wird, um den Meeresanstieg zu begrenzen. Selbstverständlich gilt es, die Option Sperrwerk von 2050 an mit den Nachbarländern zu prüfen.“
Bis dahin wird herkömmlich gebaut. In diesem Frühjahr sollen zunächst die Bauarbeiten am Klütjenfelder Hauptdeich fortgesetzt werden, wie die Umweltbehörde mitteilte. Weitere Maßnahmen, um die Deichlinie am südlichen Elbufer und in Wilhelmsburg zu verstärken, seien in Planung. Dabei geht es um die Hauptdeiche in Harburg, Cranz, Neuenfelde, Buschwerder, Pollhorn, Reiherstieg, Kreetsand, Moorwerder und Obergeorgswerder.
Außerdem sollen kleinere bauliche Maßnahmen umgesetzt werden, um die Sicherheit weiter zu verbessern. Dazu gehören die Fernbedienung von Schleusen und Schöpfwerken, aber auch der Neubau von Stemmtoren und von Antriebs- und Steuerungstechnik, etwa an den Sperrwerken Vering- und Schmidtkanal. Die Umsetzung all dieser Maßnahmen soll bis 2026 beginnen. Das Schneckenrennen geht zunächst offenbar weiter.
Der fünfteilige Doku-Podcast über „Die Flut“ erscheint am Mittwoch, 16. Februar: Kostenlos anhören auf abendblatt.de/podcast/flut, in den Abendblatt-Apps „Podcast“ und „E-Paper“ und auf den gängigen Podcast-Plattformen.