Kiel. Schleswig-Holstein fördert die neue Technik mit 43 Millionen Euro. Hamburger Reederei macht bei Projekt zu Schiffsrouten mit.
Sie operiert in Kliniken, erstellt Therapiepläne für Erkrankte, berechnet die optimale Schifffahrtsroute, hilft beim Schweißen in Werften, prüft Bau- oder Förderanträge, genehmigt Anwohnerparken, schreibt Texte. Diese sie – das ist die Künstliche Intelligenz. Immer stärker verändert ihr Einsatz unser Leben. Wie sie das tut? Das lässt sich am Beispiel Schleswig-Holsteins erzählen. Warum sie eingesetzt wird? Auch bei der Antwort auf diese Frage taugt das nördlichste Bundesland als Beispiel.
Künstliche Intelligenz, räumt Dirk Schrödter ein, sei nicht ganz leicht zu erklären. Dabei ist der Mann vom Fach: Schrödter ist der Digitalisierungsminister und KI-Experte in Daniel Günthers Kabinett. Künstliche Intelligenz sagt er, sei der Versuch der Nachbildung von menschlicher Intelligenz durch eine Maschine mithilfe einer Vielzahl von Daten, aus denen sie Muster ableite und lerne. Ziel sei, Erkenntnisse und Handlungsanleitungen für die Zukunft zu generieren. Anschaulicher wird es jetzt:
Schleswig-Holstein sieht Vorteile Künstlicher Intelligenz
Die Partner haben dem Projekt den Namen Rasmus gegeben. Partner, das sind die Hamburger Reederei Bernhard Schulte, das Geomar in Kiel, die Uni Kiel und das Startup TrueOcean. Geld kommt vom Land. Die Idee von „Rasmus“ ist, durch die Optimierung von Schiffsrouten Abgase zu minimieren und Treibstoff zu sparen.
Schiffe blasen weltweit fast 800 Millionen Tonnen Kohlendioxid jährlich in die Atmosphäre. Das sind immerhin knapp drei Prozent aller CO2-Emissionen. Die Reedereien stehen zunehmend unter Druck, Ozeane möglichst effizient zu überqueren, um so Emissionen und Treibstoffkosten zu reduzieren. „Das ist auch im Fokus der Charterer“, sagt Lennart Swoboda, „Head of Autonomy“, bei Bernhard Schulte. „Durch eine Reduktion von Schadstoffen und Treibstoffkosten entstehen Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Anbietern.“
CO2-Ausstoß und Treibstoffverbrauch könnten sinken
Bislang lassen die Reedereien das vorhersehbare Wetter und bekannte Ozeanströmungen – so fahren Kapitäne nicht gegen den Golfstrom über den Atlantik – in ihre Routenplanung einfließen. Damit minimieren sie bei Stürmen die Risiken für Schiff und Fracht und sparen zugleich Treibstoff. Die Idee des „Rasmus“-Projekts ist, darüber hinaus kleinere und nicht stetige Strömungen vorherzusagen und ebenfalls in die Routenplanung zu implementieren. „Die Auswirkungen dieser Mikroströmungen zu analysieren ist neu und interessant“, sagt Lennart Swoboda.
Arne Biastoch ist Wissenschaftler am Geomar in Kiel und einer der Projektpartner. Er sagt, dass der Nordatlantik stärker durch zeitlich befristete Wirbel geprägt sei als durch eine stationäre Strömung von A nach B. Diese Wirbel seien die Äquivalente der Hoch- und Tiefdruckgebiete mit recht geringen Geschwindigkeiten von 5 bis 10 Stundenkilometern. „Das ist aber trotzdem nicht vernachlässigbar. Denn wenn Schiffe diese Strömung nutzen können, kann das Treibstoffverbrauch und CO2-Ausstoß minimieren“, sagt Biastoch.
„Wir haben uns verschiedene Routen angeguckt.“
„Unsere Grundidee ist, für solche Strömungen ähnlich verlässliche Vorhersagen treffen zu können wie bei einer Wetterprognose“, sagt der Kieler Wissenschaftler. So würden nicht nur der Vorteil des Golfstroms genutzt, sondern auch die zeitlich und räumlich befristet auftretenden Strömungen. Der Treibstoffverbrauch – und damit der CO-Ausstoß – ließe sich mit Hilfe einer durch Künstliche Intelligenz optimierten Routenplanung immerhin um bis zu 8 bis 10 Prozent verringern, sagt der Ozeanexperte.
„Wir haben uns verschiedene Routen angeguckt. Zum Beispiel Szenarien von Miami in den englischen Kanal. Hier ließen sich laut unserem Modell bei einer sechstägigen Fahrt bis zu 12.000 Euro Treibstoffkosten sparen“, sagt Biastoch. Der Professor für Ozeandynamik am Helmholtz-Zentrum beschäftigt sich hauptsächlich mit Ozeanzirkulation und der Rolle des Meeres im Klimageschehen.
Noch ist „Rasmus“ ein theoretisches Projekt in Kooperation mit dem Geomar und den anderen Partnern. Durch Workshops, Fragebögen und Telefonate hat die Reederei Bernhard Schulte Input aus seiner Praxis gegeben, der fließt ein in die Algorithmen. Das Projekt geht jetzt in die Abschlussphase. Noch im ersten Quartal ist ein gemeinsamer größerer Austausch aller Projektpartner geplant. Dann muss sich entscheiden: Will man das Projekt, das bislang vom Land Schleswig-Holstein unterstützt wird, weiterführen?
„Bis zur Marktreife vergehen natürlich einige Jahre“, sagt Arne Biastoch. Die große Frage sei jetzt, wie man die Algorithmen auf die Brücken der Schiffe und in die geschlossenen Systeme der Navigationsgerätehersteller implementieren könne? Das Geomar kassiert noch bis Mitte des Jahres Fördergelder aus dem Projekttopf. Aktuell suchen Wissenschaftler Biastoch und sein Kollegen eine Anschlussfinanzierung.
Zusagen über knapp 43 Millionen Euro aus Landesmitteln
Schleswig-Holstein fördert die Entwicklung von KI systematisch. Dazu gehört die Finanzierung neuer Professuren an den Hochschulen des Landes. Geld gibt es zudem für erfolgversprechende Startups. Über einen „KI-Transfer-Hub“ berät das Land Unternehmen, denen Forschungskapazitäten für eigene KI-Projekte fehlen und bringt sie mit dem Knowhow von Universitäten zusammen.
„Daraus entstehen oft Projekte, deren wir Anschub wir finanzieren“, sagt Dirk Schrödter, der zugleich Chef der Kieler Staatskanzlei ist. Schleswig-Holstein fördert inzwischen mehr als 80 Projekte. Zusagen über knapp 43 Millionen Euro aus Landesmitteln sind an Projekte gegangen. Hinzukommen rund 17 Millionen Euro aus einem europäischen Förderprogramm. „Insgesamt haben wir beinahe 60 Millionen Euro in den letzten zweieinhalb Jahren in KI-Projekte investiert“, sagt Schrödter.
Die Investitionen seien kein Selbstzweck. „Wir wollen damit das Leben der Menschen verbessern, vereinfachen oder auch durch Wertschöpfung Arbeitsplätze schaffen“, sagt der Digitalisierungsminister. Weil die Landesmittel begrenzt sind, investiert Schleswig-Holstein vor allem in den Bereichen, in denen man Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Bundesländern sieht. „Das betrifft die Erneuerbaren Energien, die Medizin und die maritime Wirtschaft“, sagt Schrödter. Er sieht diverse Einsatzmöglichkeiten:
Beispiel Bürgernahe Verwaltung:
Hier biete die KI ein „riesiges Potenzial für Automatisierung und Algorithmisierung von Prozessen“, sagt Schrödter. Durch „Chat Bots“ könne man die Verwaltung rund um die Uhr erreichbar machen. Auch ließen sich mit Hilfe von KI Prozesse innerhalb der Verwaltung automatisieren. Beispiel Anwohnerparken. Noch werden die Anträge analog bearbeitet. „Aber dieser Genehmigungsprozess könnte auch völlig ohne menschliches Zutun durchlaufen – inklusive der Ausstellung des Ausweises“, sagt der Digitalisierungsminister.
Beispiel Medizin:
Statt nur auf die Kenntnisse erfahrener Operateure zu setzen, hilft Robotik im OP. Vereinfacht ausgedrückt geht das so: Programmierer füttern den Computer mit vorhandenen Daten, zum Beispiel, wie Schnitte richtig angesetzt werden. Auch lassen sich durch Bilderkennung Tumore leichter herausarbeiten und Krebstherapien zielgerichteter ansetzen. Dirk Schrödter ist sicher: „Die KI kann aus einer Menge von Gesundheitsdaten lernen und Vorschläge für individualisierte Therapien zielgerichteter ausarbeiten, weil persönliche Merkmale und Erfahrungsdaten aus Behandlungen besser kombiniert und berücksichtigt werden.“
Beispiel Energieversorgung:
Hier soll die KI beispielsweise prognostizieren, wie hoch die Energieverbräuche an welchem Tag sein werden. Diese Daten werden kombiniert mit Wetterinformationen: Wie stark wird der Wind an jenem Tag sein? Solange die Grundlast mit Atom- und großen Kohlekraftwerken sichergestellt wurde, konnte das noch ziemlich egal sein. Je weniger große Kraftwerke aber am Netz sind und je mehr Strom über Windräder produziert wird, desto wichtiger sind solche Berechnungen.
Die Landesregierung im Norden hofft, durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz zur Netzstabilität beizutragen. „Natürlich ist es schwieriger, mit Windkraft die Grundlastversorgung sicher zu stellen. KI-Algorithmen können uns Hinweise geben, wie wir solche Stabilitäten erreichen“, sagt Dirk Schrödter. So unterstützt das Land ein KI-Projekt, bei dem ein virtuelles Kraftwerk die Energieversorgung analysiert: Wie wird das Netzverhalten sein? Wo muss gesteuert werden?
Beispiel Erneuerbare Energien:
Schleswig-Holstein hat ein Projekt aufgesetzt, wo KI über einen schnellen Algorithmus die Anträge für Windenergieanlagen gleich bei der Einreichung der Unterlagen prüft. Ist die Anlage genehmigungsfähig oder ist sie es nicht? Die KI erkennt, ob der Antrag vollständig ist oder logische Brüche aufweist. „So kommen wir zu schnelleren Genehmigungsverfahren. Wenn wir das verbinden mit einem voll automatisierten Antragsverfahren, bauen wir innerhalb der Verwaltung Arbeitsschritte ab, die Prozesse werden schneller“, sagt Schrödter. „Das ist Planungs- und Genehmigungsbeschleunigung par excellence.“
Beispiel Arbeit auf der Werft:
Schrödter spricht von einem „spannenden Projekt, dass das Land mit Thyssen Krupp Marine Systems (TKMS) und der Fachhochschule Kiel zur Optimierung von Schweißnähten an Schiffen aufgesetzt habe: Wie muss die Schweißnadel gehalten werden? In welchem Winkel? Wo muss nachgearbeitet werden? Während der Arbeiter schweißt, erhält er Hinweise, wie genau die Schweißnaht geführt werden muss, um Fehler zu verhindern.
Beispiel Munition im Meer:
Bei der Bergung von Weltkriegsgranaten und -bomben aus dem Meer lässt sich durch die Analyse von Bilddaten mithilfe von KI ermitteln, wo genau die Sprengkörper liegen. Über eine Plattform soll dann ein autonom fahrender Roboter die Munition bergen und entschärfen.
„Wir achten sehr auf die Anwendungsorientierung, wenn wir Projekte unterstützen. Unser Ziel ist es, Wertschöpfung und Arbeitsplätze zu generieren. Deshalb sind wir sehr stark an der Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Wissenschaft unterwegs“, sagt Schrödter. „Wir schauen aber über die Felder hinaus, in denen wir als Land Wettbewerbsvorteile haben. Ein gutes Beispiel ist das Schreiben mit KI.“ Schrödter nennt den aktuellen Hype um chatGPT als Beispiel. „Schon mehr als ein Jahr vor diesem Hype haben wir als Landesregierung ein entsprechendes Projekt an der FH Kiel unterstützt“, sagt er.
Schrödter eine neue Debatte über Datenschutzvorgaben an
Fachleute betonen, dass KI nur so gut funktioniere, wie genügend Daten zum Anlernen zur Verfügung stünden. Deshalb plant die Landesregierung, die „Datensilos der öffentlichen Verwaltung aufbrechen, um das, was wir an Daten zur Verfügung haben, auch verfügbar zu machen. Das wollen wir im Sinne des Open Data zur Verfügung stellen auf Plattformen“, sagt Schrödter. Dazu brauche es aber einen Kulturwandel innerhalb der Verwaltung. „Wir brauchen eine neue Kultur des Datenteilens, des Datennutzens.“
Und so regt Schrödter eine neue Debatte über Datenschutzvorgaben an: „Warum funktioniert etwas bei uns nicht, ist aber in Estland oder Dänemark erlaubt? Wir müssen dazu kommen, dass unter denselben EU-Rechtssystemen auch dieselben Datenschutzvorgaben gelten und wir nicht strenger sind.“ Als Beispiel nennt er das Landeskrankenhausgesetz.
Das sei deutlich strenger als beispielsweise das in Hessen. Bestimmte Daten, über die die Uniklinik UKSH oder die Krankenhäuser verfügten, dürften nicht für Forschungszwecke genutzt werden, weil Patienten ihre Einwilligung nicht gegeben hätten. Mit den völlig anonymisierten Daten könnte man aber arbeiten, um bessere Forschungsergebnisse zu erzielen, Therapien zu verbessern und zu individualisieren, sagt Schrödter. Er hat ein Narrativ für Schleswig-Holstein entwickelt, das Datenschützern kaum gefallen dürfte: „Bei dieser Wortneuschöpfung werde ich immer schief angeguckt: Wir brauchen Datennutz bei uns.“
Opposition kritisiert zu geringe Investitionen
Grundsätzliches Lob für die Förderung Künstlicher Intelligenz kommt auch aus der Opposition. Laut SPD-Fraktionschef Thomas Losse-Müller sei Schleswig-Holstein dank seiner KI-Strategie „weiter als viele andere Bundesländer.“ Um aber wirklich voranzukommen seien deutlich größere Investitionen – Losse-Müller spricht von 500 Millionen Euro – und auch ein Kulturwandel nötig.
„Wir beklagen überall einen dramatischen Nachwuchsmangel. Auch in der Verwaltung. Doch das Potenzial, das die Künstliche Intelligenz gerade hier bietet, wird nicht genutzt.“ So gebe es in den Ministerien keinen Verantwortlichen, die die vorhandenen Daten aufbereiten, so dass man KI anwenden könnte, kritisiert Losse-Müller. Sein Beispiel: „Wir zählen die Schülerzahlen immer noch händisch.“ Losse-Müller warnt vor Insellösungen in einzelnen Städten – zum Beispiel zur intelligenten Verkehrssteuerung. Statt vielen lokalen Smart-City-Förderprogrammen brauche es ein System für das ganze Land.
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Um die Forderung Losse-Müllers nach Investitionen von 500 Millionen Euro einordnen zu können, muss man den schleswig-holsteinischen Landeshaushalt betrachten. Der sieht in diesem Jahr Ausgaben von insgesamt 16 Milliarden und Investitionen von 1,6 Milliarden Euro vor.
Er könne nachvollziehen, dass Menschen Respekt gegenüber KI hätten und distanziert seien, sagt Schrödter. „Aber man muss keine Angst haben und sich stattdessen immer vergegenwärtigen, dass praktisch jeder Mensch jeden Tag schon mit KI umgeht, beispielsweise dann, wenn er sein Smartphone einschaltet.“ Darin – zum Beispiel über die Suchmaschine – stecke künstliche Intelligenz, die über Algorithmen und technische Verhaltensweisen das Leben leichter mache.