Hamburg. Die Viertklässler aus dem Norden haben beim nationalen Bildungsvergleich enttäuscht. Warum das so war und was jetzt passieren muss.

Das Ergebnis des IQB-Bildungstrends war alarmierend. Über die Ursachen, die Konsequenzen und die Unterschiede in der Schulpolitik von Hamburg und Schleswig-Holstein spricht die Kieler Bildungsministerin Karin Prien (CDU) im großen Abendblatt-Interview.

Hamburger Abendblatt: Frau Prien, hat Sie das schlechte Ergebnis der schleswig-holsteinischen Grundschüler im nationalen Bildungstest überrascht?

Karin Prien: Zunächst einmal war ja für alle Kultusminister klar, dass, nachdem die Testung unmittelbar nach dem zweiten Lockdown vorgenommen wurde, es schlechte Ergebnisse werden würden. Deshalb haben einzelne Bundesländer im Kreis der Kultusministerkonferenz gefordert, auf den Test zu verzichten. Zum Beispiel Mecklenburg-Vorpommern hat am Ende auch nicht mitgemacht. Das habe ich von Anfang an für falsch gehalten. Man muss sich den Realitäten stellen. Aber klar ist, dass sich die auch im OECD-Vergleich sehr langen Schulschließungen in Deutschland stark ausgewirkt haben. Und das gilt besonders für unsere Grundschüler, die noch nicht eigenverantwortlich lernen können. Insofern haben mich die Ergebnisse nicht überrascht. Aber das macht sie ja keinen Deut besser. Und sie bleiben eine zentrale Aufgabe für alle Bundesländer. Fest steht für mich: Flächen­deckende Schulschließungen wie im Corona-Lockdown zur Pandemiebekämpfung darf es so nicht mehr geben.

Die Schülerinnen und Schüler in Hamburg hatten genauso unter den Folgen der Schulschließungen und des Distanzunterrichts zu leiden. Aber sie haben im Vergleich im IQB-Test deutlich besser abgeschnitten.

Prien: Die Hamburger Ergebnisse sind nicht so schlecht wie die in manchen anderen Bundesländern. Hamburg macht bestimmte Dinge seit vielen Jahren konsequent richtig. Das hat begonnen in der Amtszeit der CDU-Senatorin Dinges-Dierig. Richtig gut ist insbesondere die stark datengestützte Schul- und Unterrichtsentwicklung und die sehr viel konsequentere und frühere Sprachförderung in Kita und Vorschule. In Schleswig-Holstein ist das Ergebnis des IQB-Bildungstrends eher durchmischt. Wir haben zum Beispiel im Bereich des Zuhörens besonders gute Ergebnisse, aber in den anderen Kompetenzbereichen entwickeln wir uns mit negativem Trend. Das ist Entwicklung, die wir nicht hinnehmen werden.

Auch wenn die schleswig-holsteinischen Kinder gute Zuhörer sind – in Mathematik, Rechtschreibung und Lesen sind die Leistungen „besorgniserregend“, wie Sie es formuliert hatten.

Prien: Richtig.

Sie haben die Pandemie als einen Grund ausgemacht. Welche Gründe gibt es noch?

Prien: Die Schülerschaft verändert sich in ganz Deutschland, auch in Schleswig-Holstein. Wir haben einen massiven Zuwachs in den letzten zwölf Jahren bei Kindern mit Migrationshintergrund. Und insgesamt verändert sich auch das Leben in den Familien. Digitale Medien spielen eine größere und in der Kindheitsentwicklung auch frühere Rolle. Eltern lesen weniger vor, Eltern haben weniger Zeit für ihre Kinder. All diese Themen wirken sich aus und müssen in der Schule und in der Kita stärkere Berücksichtigung finden. Auf die gestiegene Heterogenität müssen wir noch bessere Antworten geben.

Ist Hamburg bei der Digitalisierung der Schulen und des Unterrichts weiter als Schleswig-Holstein?

Prien: Beim Einsatz von digitalen Medien in der Schule sind Hamburg und Schleswig-Holstein eher gleichauf, da gibt es keinen signifikanten Unterschied. Hamburg ist aber deutlich weiter bei den verpflichtenden Lernstandserhebungen in jedem Jahrgang, bei den Auswertungen dieser Erhebungen und bei den daraus resultierenden Konsequenzen. Also bei der Frage, welche individuelle Fördermaßnahmen es für den einzelnen Schüler gibt. Hamburg erhebt den Lernstand seit vielen Jahren durchgehend verpflichtend an den Schulen. Wir arbeiten in meinem Ministerium derzeit einen umfassenden Handlungsplan basale Kompetenzen aus, der unter anderem diese Ansätze auch in Schleswig-Holstein weiter in den Fokus rücken wird.

Sie hatten nach der Vorlage des IQB-Bildungstrends verpflichtende Tests für alle Viereinhalbjährigen in Schleswig-Holstein und ein Kitapflichtjahr bei großen Defiziten gefordert – zur Empörung Ihrer grünen Kabinettskollegin Aminata Touré.

Prien: Das wird in Hamburg seit vielen Jahren gemacht.

Aber diese verpflichtenden Tests kommen bei Ihnen nicht.

Prien: In Schleswig-Holstein gibt es bereits jetzt einen Test vor der Einschulung. Gemacht wird der, wenn die Kinder mit den Eltern zu den Einschulungsgesprächen kommen. Wir wollen diese Diagnostik ausweiten und prüfen gemeinsam mit dem Sozialministerium und dem Gesundheitsministerium, wie und wann wir diese Diagnostik früher ermöglichen können. Dabei wollen wir uns besonders auf die Kitas im Einzugsbereich unserer Perspektivschulen, also in besonders herausfordernden Lagen, konzentrieren. Auch wollen wir die Sprachförderung deutlich verbessern. Das Kabinett hat sich darauf verständigt, die vom Bund abrupt eingestellte Sprachförderung im Sprachkita-Programm mit einem eigenen Landesprogramm aufzufangen.

Solche Tests ergeben aber kaum Sinn, wenn sie ohne Konsequenzen bleiben.

Prien: Ganz klar. Hamburg macht es richtig, wenn es sagt, dass alle Viereinhalbjährigen mit besonderem Sprachförderbedarf verpflichtend eine Sprachförderung besuchen müssen. Ich halte das für den richtigen Weg. Wir werden jetzt in Schleswig-Holstein mit den beteiligten Ministerien und mit unserem Koalitionspartner darüber sprechen, welche weiteren Schritte wir machen können.

Das heißt, das Thema verpflichtendes Kitajahr für Kinder mit größeren Sprachdefiziten ist noch nicht vom Tisch?

Prien: Es ging ja nie um ein verpflichtendes Kitajahr, sondern es ging um verpflichtende Sprachfördermaßnahmen. Das ist ein Unterschied. Dass wir Maßnahmen brauchen für Kinder mit erhöhtem Sprachförderbedarf – daran besteht kein Zweifel. Da gibt es auch keinen Dissens. Wir fördern jetzt Kinder im Halbjahr vor der Einschulung, die in einer Sprintmaßnahme sind. Da gibt es eine gezielte und auch verpflichtende Fördermaßnahme. Die Frage ist nur, ob und wie wir früher anfangen müssen mit der Förderung.

Woran liegt es, dass Kinder nach drei Jahren Kita nicht Deutsch sprechen?

Prien: Wir haben inzwischen auch viele Erzieherinnen und Erzieher mit Migrationshintergrund, die sich mit den Kindern teilweise in ihrer Herkunftssprache unterhalten und eben nicht durchgehend Deutsch sprechen. Auch in der Zusammensetzung der Kitagruppen ist es teilweise unvermeidbar, dass Kinder die meiste Zeit des Tages nicht Deutsch sprechen müssen. Auch bei der Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher müssen wir noch mehr darauf achten, dass am Ende verlässliche Bildungsstandards für die Kinder auch schon in der Kita stehen.

Sie haben die Perspektivschulen in sozialen Brennpunkten angesprochen. Die wollen Sie ausbauen und zusätzlich um neu zu schaffende Perspektivkitas ergänzen.

Prien: Wir wollen unser Perspektivschulprogramm für Schulen in herausfordernden Lagen ausweiten. Dazu arbeiten wir an einem Konzept zur besseren Förderung von Kindern mit schwierigen Startbedingungen im Umfeld von Perspektivschulen bereits in den Kitas.

Wie ist denn, in etwa, die Zeitschiene für diese Perspektivkitas und auch für das Screening der Kinder?

Prien: Wir wollen im nächsten Jahr mit Experten intensiv darüber beraten. Parallel starten dann die Beratungen für das Startchancen-Programm des Bundes. Realistisch wird man sowohl das Startchancen-Programm als auch das erweiterte Perspektivschulprogramm frühestens ab dem Schuljahr 2024/25 umsetzen können.

Eine Konsequenz haben Sie aus dem schlechten Abschneiden der Kinder beim Bildungstest schon gezogen ...

Prien: Wir stellen den Grundschulen seit 2018 zwei zusätzliche Unterrichtsstunden zur Verfügung. Zunächst galt die Auflage, sie möglichst für Mathematik und Deutsch zu verwenden. Jetzt müssen sie zwingend dazu genutzt werden.

Gilt das für alle Schulen oder nur dort, wo die Grundschüler besonders schlecht abgeschnitten haben?

Prien: Das gilt überall! Denn wir haben ja nicht nur immer mehr Kinder, die den Mindeststandard nicht erreichen. Wir haben auch immer weniger Kinder, die den Regelstandard erreichen. Und wir haben immer weniger Kinder, die im Spitzenbereich unterwegs sind. Also werden wir nicht nur sogenannte Risikoschüler fördern, sondern die basalen Kompetenzen aller Schülerinnen und Schüler verbessern. Wir müssen das eine tun, ohne das andere zu lassen. Schleswig-Holstein bietet im Vergleich zu Hamburg deutlich weniger Unterrichtsstunden in der Grundschule an. Wir haben Nachholbedarf. In der Kultusministerkonferenz beraten wir zurzeit, eine Mindeststundenzahl für Grundschulen in Deutschland festzulegen. Die wird dann Schleswig-Holstein perspektivisch erreichen müssen.

Schon vor Beginn von Putins Angriffskrieg in der Ukraine und der massenhaften Flucht aus dem Land war die Zahl der Schüler, die in „Deutsch als Zweitsprache“ an allgemeinbildenden Schulen unterrichtet werden, schon auf 27.000 stark gestiegen. Jetzt kommen noch einmal rund 6800 ukrainische Schüler hinzu. Reicht das Angebot aus, das Sie jetzt an dieser Stelle zur Verfügung stellen?

Prien: Wir orientieren uns an der Zahl der Schüler und stocken die Anzahl der Lehrkräfte sukzessive bedarfsgerecht auf. Wir haben 264 zusätzliche DaZ-Stellen zur Verfügung gestellt und zusätzlich mehr als 160 ukrainische Lehrkräfte eingestellt. Wir passen die Anzahl der Lehrkräfte dem Bedarf an.

Welche Entwicklung erwarten Sie vor dem Hintergrund sinkender Zahlen von Kindern mit deutscher Muttersprache und steigender Zahlen von Zuwandererkindern?

Prien: Insgesamt steigen in den nächsten zehn Jahren die Schülerzahlen, erst danach sinken sie wieder. Und ja, die Zusammensetzung der Schülerschaft wird noch heterogener. Heterogenität bedeutet in diesem Fall, dass es auch mehr Schülerinnen und Schüler mit Sprachförderbedarf sein werden. Darauf müssen wir angemessen reagieren, damit alle Kinder die Mindeststandards erreichen und darüber hinaus einen möglichst erfolgreichen Bildungsweg gehen können.

Die Zahl der Kinder mit Sprachförderbedarf wird steigen – mit welchen Konsequenzen?

Prien: Sprachförderbedarf wird in vielen Familien steigen, nicht nur bei Zuwandererkindern. Bei denen müssen wir versuchen, die Eltern, insbesondere die Mütter, möglichst früh zu erreichen und zu motivieren, schnell Deutsch zu lernen. Nur dann können sie ihre Kinder im weiteren Entwicklungs- und Bildungsweg gut unterstützen. Deshalb gehört zu einer klugen Politik auch, die Angebote für Eltern auszuweiten. Umso mehr Deutschland ein Einwanderungsland ist, umso mehr müssen wir möglichst früh Sprachförderung betreiben. Frühe Sprachförderung ist das Fundament für alles, was dann auf dem weiteren Bildungsweg folgt. Das, was wir bei der frühen Sprachförderung versäumen, müssen wir später teuer und aufwendig nachholen.