Hamburg. „Besorgniserregend“ nennt Bildungsministerin Karin Prien die Ergebnisse beim großen Bildungsvergleich. Welche Probleme es gibt.

Frau Brückner hat es nicht leicht an diesem Morgen. Der bundesweite Katastrophenalarm auf Handys und über Sirenen lenkt gewaltig ab. Und dann konkurriert der Schnee auch noch mit der jungen Deutschlehrerin um die Aufmerksamkeit der Kinder. Nach der großen Pause muss sich Klasse 2c erst einmal wieder finden. Tom will neben Finn sitzen, Emma aber neben Tom (alle Vornamen geändert). Frau Brückner zeigt viel Geduld.

Wartet auf Nachzügler vom Pausenhof, beruhigt Mats, der seine Brote zu Hause vergessen hat („Ich habe solchen Hunger“), ermahnt Louis, der sich mehr für das Wetter vor dem Klassenfenster („Schnee, wie geil“) als für den Unterricht an der Tafel interessiert. Frau Brückner wartet und wartet. Und schließlich, als sich alle gefunden und beruhigt haben, zählt sie ihren Countdown runter. Es ist still geworden.

Schule Schleswig-Holstein: Bildungsvergleich fällt schlecht aus

„Guten Morgen, liebe Frau Brückner“, sagt die 2c, als die Lehrerin bei null angekommen ist. Die 2c der Grundschule Heidberg in Norderstedt – das sind Schüler, die motiviert, konzentriert und aufmerksam beim Unterricht mitmachen, Kinder, die Schwierigkeiten haben, sich einzubringen, Kinder mit Sprachdefiziten, Kinder, denen es schwerfällt, sich zu konzentrieren. Oder anders ausgedrückt: Die 2c ist eine ganz normale Klasse. Das Entsetzen in Schleswig-Holstein war groß, als vor ein paar Wochen die Ergebnisse des großen IQB-Bildungstrends auf dem Tisch lagen. Das ist ein Ländervergleich und soll die Frage beantworten, inwieweit die Grundschülerinnen und -schüler die nationalen Bildungsstandards erfüllen.

Das Ergebnis für Schleswig-Holstein war niederschmetternd: So nahm der Anteil der „Risikoschüler“ im Fach Mathematik seit der vorerst letzten Erhebung 2016 „signifikant“ zu. Zugleich sank bei den Viertklässlern der Anteil derer, die den Regelstandard erreichen. Das gilt nicht nur für Mathematik, sondern auch für Lesen und Rechtschreibung. Während sich die Hamburger Schülerinnen und Schüler gegenüber 2016 klar verbesserten, hat sich das Niveau nicht nur in Schleswig-Holstein, sondern auch bundesweit deutlich verschlechtert. Die Entwicklung nennt Bildungsministerin Karin Prien von der CDU „besorgniserregend“.

Methode soll Konzentration schulen

Jetzt treiben zwei Fragen die Bildungsexperten um: Warum ist es so weit gekommen? Und: Was hilft dagegen? Zurück an die Norderstedter Schule. Frau Brückner hat eine Mini-Theaterbühne auf dem Pult aufgebaut. Die nennt sich Kamishibai und ist so etwas wie ein Schaukasten für Märchenbilder. Die Lehrerin liest Astrid Lindgrens Geschichte vom Wichtel Tomte Tummetott. Während die Erzählung voranschreitet, wechseln die passenden Bilder im Schaukasten auf dem Pult. Sie zeigen den Bauernhof, Pferde, Schafe, den Wichtel. Die Geschichte fesselt die Kleinen, und die wissen, was von ihnen erwartet wird: Sie sollen zuhören und beobachten; sollen die Geschichte später nacherzählen und auch die Bilder in der richtigen Reihenfolge aufkleben. Die Methode schult Konzentration, Erinnerungsvermögen, Sprachschatz.

Ein Junge erinnert sich an die gehörten Worte. „Die Bäume werden gerodet“, wiederholt er. Aber was bedeutet das – roden?, will Frau Brückner wissen. Dass die Bäume fallen, erzählt der Zweitklässler, und dass es schlimme Brandrodungen gebe. Hier scheinen die Probleme, die der IQB-Bildungstrend aufgezeigt hat, weit weg zu sein.

„Wir haben unser pädagogisches Konzept"

Frau Brückner hat die Klasse im Griff, verschafft sich Aufmerksamkeit. „Wir haben unser pädagogisches Konzept, unsere Schul- und Klassenregeln“, sagt Schulleiterin Ingke Rehfeld. Die Königsklasse sei das erste Schuljahr, da lege man den Grundstein. Und je mehr feste Rituale und klare Grenzen da seien, desto einfacher sei es für die Kinder, sich daran zu halten und Ruhe zu bewahren, sagt Frau Rehfeld. „Wenn die Grundlage stimmt, kann man später die Zügel locker lassen“, sagt die Schulleiterin.

Zurück in den Unterricht von Frau Brückner, die mit Vornamen Sabine heißt. Sie animiert die Kinder, die Geschichte von Tomte Tummetott in ganzen Sätzen nachzuerzählen und für jeden Satz einen anderen Anfang zu finden. „Wir sehen uns als Sprachvorbilder und versuchen mit den Kindern in Bildungssprache zu sprechen“, sagt Schulleiterin Rehfeld.

Schule setzt auf den Bilderschaukasten

„Es war einmal …“ Frau Brückner lässt diesen Satzanfang nur einmal zu. Für die folgenden Sätze ist er tabu. Warum man unterschiedliche Satzanfänge verwenden sollte, will sie wissen. „Weil die Geschichte sonst langweilig wird“, weiß ein Siebenjähriger, während andere Kinder eher etwas verständnislos dreinblicken. Um individueller auf den Leistungsstand der Kinder eingehen zu können, wird die Klasse geteilt. Sabine Brückner übernimmt die eine Hälfte, ihre Kollegin Scarlett Baisch die andere. In der Norderstedter Grundschule – die Lehrerinnen beschreiben sie als einen „behüteten Raum“ – versuchen sie, immer wenn es der Lehrplan hergibt, dem Fachlehrer einen „Co-Teacher“ an die Seite zu stellen, um die Kinder individueller betreuen zu können.

Kamishibai-Einsteckbilder und -unterrichtsmaterial gibt es zu vielen Kinderbüchern, die sich für die Grundschule eignen. Mit dem Bilderschaukasten hat das Kollegium – 28 der 31 Lehrkräfte sind Frauen – sehr gute Erfahrungen gemacht. „Er dient der Konzentrationsfähigkeit, der Sprachförderung, dem Erinnerungsvermögen. Die Motivation der Kinder, mitzumachen, ist hoch. Sie sollen selber produzieren, selber erzählen“, sagt Schulleiterin Rehfeld. Darüber könne man die Kinder animieren, noch mehr zu lesen.

„Lesen kommt heute in vielen Familien zu knapp“

Denn: „Lesen kommt heute in vielen Familien zu knapp“, sagt die Schulleiterin. Ein Grund für das schlechte Abschneiden der Viertklässler im nationalen Bildungstest ist, dass in vielen Elternhäusern kaum noch oder gar nicht mehr mit Kindern gelesen wird. Die Gründe sind vielfältig. Jobs, die die Eltern auslaugen, fehlende Unterstützung durch einen Partner, Sprachdefizite, aber auch Bildungsferne im Elternhaus. Die Folgen: Statt für und mit den Kindern zu lesen, steigt deren Medienkonsum am Handy, Tablet oder Fernseher. Die Folgen müssen die Schulen ausbügeln. „Wir sehen die Spracharmut in vielen Elternhäusern als großes Problem“, sagt Ingke Rehfeld.

Defizite gibt es nicht nur in den Familien: Schulleiter in Schleswig-Holstein berichten von Kindern, die auch nach drei Jahren in der Kita kaum Deutsch können. Der Grund: Statt Deutsch sprechen die Kinder beispielsweise polnisch oder türkisch miteinander – und oft auch mit den Erzieherinnen, weil das die einzige Chance ist, sich zu verständigen. Bildungspolitiker fordern deshalb verbindliche Bildungspläne für die Kitas statt eines offenen Systems. Deutsch müsse die Sprache der Kita-Gruppen sein.

Kitaschließungen sorgen für Probleme

Nur ist sie das offensichtlich oft nicht. Mit Folgen für die Grundschulen: Die Kinder können sich untereinander häufig nicht richtig verständigen. Und so können sie auch ihre Probleme miteinander nicht verbal klären. „Sie möchten etwas erklären, aber der andere hört nicht zu, der versteht es nicht. Dann wird die körperliche Sprache genutzt, es kommt zu Auseinandersetzungen“, sagt Rehfeld.

Ein weiteres Problem haben die Kitaschließungen in der Pandemie den Schulen eingebrockt. Grundschulen berichten von der Zunahme von verhaltensauffälligen Erstklässlern, denen das soziale Miteinander der Kitazeit fehlt. „Wir haben Kinder in den Schulen, die sind, man kann nicht sagen unbeschulbar, aber schwierig zu integrieren“, sagt Rehfeld.

"Viele hier geborene Kinder sprechen kein Deutsch"

Bei den Einschulungsgesprächen mit den neuen Erstklässlern im Oktober und November würden „sehr viele Bedarfe in Richtung Sprache, Motorik, emotional-soziales Verhalten“ offenkundig, sagt die Schulleiterin. „Es ist erstaunlich, wie viele hier geborene Kinder fast kein Deutsch sprechen“, sagt die Schulleiterin. Diese Kinder kommen dann in eine sogenannte Sprint-Maßnahme. Sprint steht für sprachintensive Förderung und geht von Februar bis Sommer, liegt also vor der Einschulung. Vormittags sind Kinder dann in der Kita, nachmittags im verpflichtenden Sprint-Unterricht.

Die Hoffnung ist, dass diese Kinder in den letzten Monaten vor der Einschulung so viel Deutsch aufholen, dass sie es in eine reguläre Klasse schaffen. Hat der Nachmittagsunterricht aber nicht ausgereicht, die Defizite aus Elternhaus und Kita auszugleichen, kommen die Kinder in eine DaZ-Maßnahme. Vier der zwölf Grundschulen in Norderstedt sind DaZ-Schulen.

Karin Pahl-Pick eigentlich schon in Pension

DaZ steht für Deutsch als Zweitsprache. Die Grundschule Heidberg ist eine davon. Ingke Rehfeld hat genug Personal, ihre DaZ-Gruppe zu teilen. In der eine lernen überwiegend ukrainische Kinder Deutsch, die vor dem Krieg in ihrer Heimat schon zu Schule gegangen sind. In der zweiten Gruppe kümmern sich die Lehrkräfte um Kinder unter anderem aus Eritrea und Syrien.

Karin Pahl-Pick ist hier „Senior-Lehrerin“. Die Frau ist eigentlich in Pension, will aber helfen, den ukrainischen Mädchen und Jungs Deutsch beizubringen. Spielerisch. Mit einem selbst gebastelten Papp-Kubus würfeln die Schüler Personalpronomen aus, sollen sie dann deklinieren. Es geht beispielsweise um das Wort kochen. Der Würfel fällt auf „Du“. „Du kochst“, weiß Vladimir. „Das funktionierte heute gut“, sagt Lehrerin Pahl-Pick später.

Ukrainische Kinder leiden unter Zukunftsangst

Es gibt diese Tage, da klappt es besser. Aber dann kommen wieder die Rückschläge. Wenn Berichte aus der Heimat die Kinder nicht zur Ruhe kommen lassen. Wenn die Ängste um den Vater zu Hause überhandnehmen. Und auch wenn der Videounterricht auf Ukrainisch am Nachmittag zuvor die Kinder stark beansprucht hat. Morgens Unterricht in Norderstedt auf Deutsch, nachmittags virtuell in der Heimatsprache.

„Das ist richtig anstrengend, auch weil es so viele Stunden sind, die die Kinder lernen müssen“, sagt Frau Pahl-Pick. Aus Sicht von Schulleiterin Rehfeld kann es für den Unterricht schwierig sein, dass die ukrainischen Kinder nicht wissen, wie es weitergeht. Wie lange werden sie noch hierbleiben? Können oder müssen sie zurück? Fragen wie diese kratzen an der Motivation. Viele leiden unter Zukunftsangst. Für sie ist der DaZ-Unterricht eine Interimsgeschichte.

Immer Kinder sind psychisch auffällig

In der zweiten DaZ-Gruppe werden Flüchtlinge aus Eritrea und Syrien unterrichtet. Kinder, die, statt eine Kita besucht zu haben, Straßen- und Kriegserfahrung machen mussten. „Eigentlich wollen wir den Kindern an unserer Schule vor allem Deutsch und Mathematik beibringen“, sagt Ingke Rehfeld. „Wir haben hier viele Kinder, denen Lernen Spaß macht. Lernen ist etwas Schönes und stärkt das Selbstbewusstsein. Aber der sozialpädagogische Anteil unserer Arbeit wird immer größer. Das sollte der kleine Anteil sein, aber der wird größer“, sagt Pädagogin Rehfeld.

Schulen berichten von zunehmend psychisch erkrankten Eltern und psychisch auffälligen Kindern. Das emotional-soziale Verhalten, die Fähigkeiten zu lernen und die Sprachkenntnisse – die Voraussetzungen, die die Kinder mitbringen, waren eh schon extrem verschieden. Und auf all das „setzte“ sich die vergangenen Jahre das Virus mit Schulschließungen, Wechselunterricht und digitalen Einheiten. In der Pandemie hat Bildungsministerin Karin Prien einen entscheidenden Grund für das schlechte Abschneiden im großen Vergleich der Viertklässler ausgemacht.

"Die Lehrer haben Enormes geleistet"

Ingke Rehfeld glaubt, dass es ihrer Norderstedter Grundschule ganz gut gelungen ist, Defizite aus der Pandemie aufzuarbeiten. „Weitestgehend alle Kinder haben wir erreicht. Die Lehrer haben Enormes geleistet, weit über das hinaus, was man erwarten muss. Sie haben die Kinder angerufen, haben kleine Sessions gemacht über Videocalls, haben sich mit Kindern in kleinen Gruppen getroffen, haben Hilfe angeboten und Sprechzeiten. Das war großartig“, lobt die Schulleiterin.

Es gibt auch Schüler, die unterstützt von den Eltern schneller vorangekommen sind als im regulären Unterricht – vermutlich, weil sie keine Rücksicht auf Mitschüler nehmen mussten. „Aber es wurden auch Kinder abgehängt. Gerade Kinder mit Migrationshintergrund, wo die Eltern nicht so viel helfen konnten.“ Das größere pandemiebedingte Problem seien aber die Folgen für das Sozialverhalten. Rehfeld: „Kindern fehlte, mit anderen zusammen zu sein, Konflikte zu lösen, Freude zu teilen, Gemeinschaftserlebnisse zu haben.“

Experten schlagen 20 Maßnahmen vor

Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz hat jetzt ein Maßnahmenpaket vorgestellt, wie Grundschüler fit gemacht werden sollen für den Übergang auf die nächsthöhere Schule. Die Experten schlagen 20 Maßnahmen vor, um den Negativtrend bei den Mathematik- und Deutschkompetenzen umzukehren. Die ersten sollen schon in der Kita greifen. So soll die Erzieherausbildung stärker auf die Förderung sprachlicher, mathematischer und sozialer Kompetenzen ausgerichtet werden. Die Wissenschaftler empfehlen für Kinder von drei und vier Jahren flächendeckende Sprachtests und verbindliche Förderung bei Defiziten.

Dann sollen an der Grundschule mindestens sechs Stunden Deutsch und fünf Stunden Mathematik pro Woche unterrichtet werden. In „standardisierten Diagnoseverfahren“ sollte mehrmals pro Schuljahr überprüft werden, ob die Schüler die Mindeststandards erreichen. Die Kommission schlägt Konzepte zur Förderung „sozial-emotionaler Kompetenzen“ vor, verpflichtende halbjährliche Lern- und Entwicklungsgespräche mit den Eltern und die gezielte Förderung von Grundschulen mit vielen Kindern aus sozial schlechter gestellten Familien.

Schule Schleswig-Holstein: Prien sieht dringenden Handlungsbedarf

Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien, die scheidende Präsidentin der Kultusministerkonferenz, sieht nach dem IQB-Bildungstest und den Empfehlungen der KMK-Experten dringenden Handlungsbedarf. „Das Fundament für erfolgreiche Bildungsverläufe wird in der Kindheit gelegt. Wir müssen uns auf den Erwerb der basalen sprachlichen und mathematischen Kompetenzen deutlich konzentrieren.