Mölln. 30 Jahre nach den rechtsradikalen Brandanschlägen in Mölln wird die Gedenkkultur mehr denn je hinterfragt.
"Erinnerung muss in erster Linie aus der Perspektive der Opfer und ihrer Angehörigen erfolgen. Häufig sind sie traumatisiert und haben ihr Vertrauen in den Staat und seine Institutionen verloren.“ Das sind Sätze, die Schleswig-Holsteins Ministerin für Soziales und Integration, Aminata Touré, so und so ähnlich in den vergangenen Tagen mehrfach gesagt hat. Anlass waren die rassistischen Brandanschläge in Mölln vom 23. November 1992, bei denen drei Menschen starben und neun weitere zum Teil schwer verletzt wurden.
Touré sprach am Mittwoch am Ort des Geschehens von einer „Wunde in der Geschichte des Landes“, die auch nach 30 Jahren nicht geschlossen sei. Doch warum ist das so? Warum braucht es aus Sicht vieler einen Paradigmenwechsel in unserer Gedenkkultur?
Gedenken in Mölln: Angehörige wurden kaum involviert
Keine Frage, die Stadt Mölln hat große Anstrengungen unternommen, um in gebührender Weise an die tödlichen Übergriffe zweier Neonazis auf zwei vorwiegend von türkischen Migranten bewohnte Häusern zu erinnern. Das Veranstaltungsprogramm war üppig, von der Pressekonferenz des Bürgermeisters Ingo Schäper über den Gedenkgottesdienst in der St.-Nicolai-Kirche und die Kranzniederlegung am Tatort in der Mühlenstraße bis zum Innehalten am Gedenkstein in der Ratzeburger Straße, wo früher das zweite attackierte Haus stand.
Doch waren die Angehörigen der betroffenen Familien in die Vorbereitungen angemessen involviert? Und waren sie in die zahlreichen Aktivitäten und Projekte im zeitlichen Umfeld der „offiziellen“ Gedenkfeiern eingebunden? Die schlichte wie bedrückende Antwort lautet: Nein!
Projekt über Erinnerungskultur wurde bisher nicht gezeigt
Dabei hätte es durchaus anders sein können. Doch der Umgang mit einer Initiative der beiden Stormarner Künstlervereine „STormarnART“ und „seven art“, der sich weitere Kunstschaffende aus dem Kreis Herzogtum Lauenburg, Hamburg und Niedersachsen angeschlossen haben, offenbart exemplarisch die nun deutlich artikulierten Defizite.
„Was uns alle einte, war das Bestreben, den Opfern der rassistischen Brandanschläge vom 23. November 1992 in Mölln eine Stimme zu geben“, sagt Janis Walzel, Initiatorin der Ausstellung „Perspektivwechsel“. Dabei sei es aber bei Weitem nicht nur um künstlerische Positionen zu Rassismus und rechter Gewalt gegangen. „Es geht auch darum, eine Erinnerungskultur zu hinterfragen, die Betroffenen und Hinterbliebenen oft nicht in ausreichendem Maße gerecht wird“, so Walzel.
Natürlich sollte dieses genreübergreifende Projekt, an dem sich neben vielen Malern auch zwei Filmemacher, ein Keramiker, zwei Autoren, drei Musiker und eine Sopranistin beteiligten, zuerst in Mölln gezeigt werden. Doch dazu ist es (bisher) nicht gekommen.
Eher Skepsis und Vorbehalte statt echtes Interesse und Entgegenkommen
Im Juni 2020 hat Walzel ihre Idee das erste Mal in Mölln vorgestellt. Und sogar einen konkreten Vorschlag unterbreitet, wo genau das Projekt gezeigt werden könnte. „Durch meine Teilnahme an der sehr erfolgreichen Ausstellung ,Fliehen – einst geflohen‘ im März 2019 im Stadthauptmannshof erschien mir dieser Veranstaltungsort wie geschaffen, sich dort auch mit den barbarischen Brandanschlägen auseinanderzusetzen“, so Walzel.
Doch ziemlich schnell sei klar geworden, dass diesem Projekt in der Eulenspiegel-Stadt eher mit Skepsis und Vorbehalten begegnet wurde statt mit echtem Interesse und konstruktivem Entgegenkommen. Dabei saßen seinerzeit alle wichtigen Entscheider der Stadt am Tisch: der inzwischen abgewählte Bürgermeister Jan Wiegels (CDU), der Chef des Möllner Museums Michael Packheiser, der Vorsitzende des Lauenburgischen Kunstvereins William Boehart und Vertreter des Vereins Miteinander Leben.
Eklat 2012: Angehörige fordern eine andere Gedenkkultur
Bei mehreren Gesprächen in Mölln schieben sich die Beteiligten der Stadt unterdessen immer wieder gegenseitig den Ball zu. Andrea Koop etwa, bis August Geschäftsführerin der Stiftung Herzogtum Lauenburg, die im Stadthauptmannshof residiert, teilt in einer Mail vom 18. Juni 2020 mit, der Vorstoß betreffe ein „sensibles Thema“, zu dem sich „vorrangig die Stadtverwaltung und der Verein Miteinander Leben“ äußern sollten. Bei einem Treffen mit Ex-Bürgermeister Wiegels erfährt Walzel schließlich den Grund für die offensichtliche Zurückhaltung.
2012 ist es bei der städtischen Gedenkveranstaltung zum 20. Jahrestag der Brandanschläge zu einem Eklat gekommen. Nachdem der damalige Ministerpräsident Schleswig-Holsteins, Torsten Albig (SPD), und Landtagspräsident Klaus Schlie (CDU) ihre Grußworte gesprochen haben und wieder in ihre Limousinen steigen wollen, kommt es zu einem folgenreichen Wortwechsel mit Angehörigen der Opferfamilien Arslan und Yilmaz, die bei dem Anschlag nahe Verwandte verloren hatten. Sie fordern im Kern eine andere Gedenkkultur unter stärkerer Beachtung und Einbeziehung der Opferfamilien.
„Gedenken ist nur authentisch, wenn es die Betroffenen einbezieht"
Vor allem Ibrahim Arslan, der die Anschlagsnacht als Siebenjähriger nur deshalb überlebt hat, weil ihn seine Großmutter Bahide in nasse Decken hüllte, wird in der Folge zum erbitterten Kritiker des institutionalisierten Trauerns. „Gedenken ist nur authentisch, wenn es die Betroffenen einbezieht. Alles andere ist Inszenierung“, wird zu seinem Mantra. „Wir sollten nicht wie Statisten und Gäste behandelt werden, sondern als Hauptzeugen des Geschehens“, fordert Arslan immer wieder, der bei dem Brandanschlag Schwester Yeliz, Cousine Ayse und Großmutter Bahide verloren hat.
Als man in Mölln vernimmt, dass die Künstlerinitiative um Janis Walzel in engem Austausch mit Ibrahim Arslan steht, der sich mit den Künstlern mehrfach getroffen hat, werden die Kontakte nach Mölln noch schwieriger. Bürgermeister Wiegels bietet zwar im Herbst 2020 den Historischen Ratssaal und die Gänge im Stadthaus an. Doch zu einer verbindlichen Vereinbarung kommt es nie.
Packheiser äußert sich zögerlich zur Kunstausstellung
Auch deshalb, weil Michael Packheiser, Chef des Möllner Museums und Vorstandsmitglied im Lauenburgischen Kunstverein, den Ball umgehend ins Rathaus zurückgespielt hat. Die Stadt müsse sich doch erst einmal selbst Gedanken machen, wie der Gedenktag 30 Jahre nach den Anschlägen gewürdigt werden soll, teilt er in einer Mail mit.
Eine Kunstausstellung könne sicher „ein Baustein“ in einem möglichen Jahresprogramm sein. Wegen der Einbeziehung eines gewissen „Herrn A.“ würde man aber „mit Sicherheit nicht über jedes Stöckchen springen“, so Packheiser wörtlich.
Plötzlich gibt es doch eine Ausstellung zum Thema im Stadthauptmannshof
Dem Präsidenten der Stiftung Herzogtum Lauenburg, Klaus Schlie, seinerzeit noch Präsident des schleswig-holsteinischen Landtags, ist die endgültige Absage am 8. Oktober 2020 nur noch einen unterkühlten Dreizeiler wert. „Es besteht keine Möglichkeit, die von Ihnen geplante Ausstellung in den Räumen des Stadthauptmannshof durchzuführen“, lässt er unmissverständlich wissen. Das hatte Ex-Geschäftsführerin Koop kurz zuvor damit begründet, die Stiftung veranstalte pro Jahr nur zwei dreiwöchige Ausstellungen, zumeist im März und September. Diese beiden Termine seien indes „über Jahre hinweg geblockt“ und weitere Zeitfenster ausgeschlossen, „um Zeit und Platz für andere Sparten“ zu haben.
Tatsache ist, dass seit 12. September im Stadthauptmannshof die Ausstellung „Was sind wir? Wo wollen wir hin? Mölln 30 Jahre nach Mölln“ des Lauenburgischen Kunstvereins (LKV) läuft. Sieben Künstler des Vereins und zwei Schulen präsentieren dort ihre Werke. Doch wer ist wir? Und warum ist es zu keiner Kooperation mit dem Projekt „Perspektivwechsel“ gekommen?
Ausstellungen sollte "anderen Beitrag" zum Gedenken leisten
„Wir hatten einfach einen anderen Ansatz, wollten eine andere Sichtweise einbringen. Weniger zurückblickend als vielmehr nach vorn schauend“, sagte der LKV-Vorsitzende William Boehart dem Abendblatt. Deshalb habe es für die Ausstellung auch keinen Kontakt zu Angehörigen der Opferfamilien gegeben.
Das war auch schon bei der Videoperformance „Die Kraft des Ringes | Licht in finsteren Zeiten“ am 18. September so. Mit der Projektion eines Ausschnitts aus dem im Jahr 1922 gedrehten Stummfilm „Nathan“ und freien abstrakten Videoinstallationen auf den historischen Fassaden des Marktplatzes sowie instrumentalen und vokalen Musikbeiträgen sollte ein „anderer Beitrag“ zum Gedenken an die Brandanschläge geleistet werden.
„Wir wollten nichts Plattes machen und einfach Motive von brennenden Häusern zeigen“, wird Boehart in einer Zeitung zitiert. Ob dies auch als Seitenhieb auf Werke in der Ausstellung „Perspektivwechsel“ zu verstehen ist, sagte er nicht. Er finde es allerdings schon bedauerlich, dass es zu keiner Zusammenarbeit mit deren Organisatoren gekommen sei. „Aber die letzten Entscheidungen sind woanders getroffen worden“, so Boehart.
„Hier wurde eine große Chance vertan, Brücken zu bauen"
Die Ausstellung „Perspektivwechsel“ ist dennoch umgesetzt worden. Vom 15. Mai bis 19. Juni war sie im Schloss Reinbek zu sehen, und seit vergangenem Sonntag kann sie bis 5. Februar 2023 nun auch in der Gedenkstätte Ahrensbök besucht werden. „Das einzige in Schleswig-Holstein erhalten gebliebene ehemalige KZ-Gebäude ist ein passender Ort, sich mit Rechtsradikalismus und rassistischem Terror auseinanderzusetzen“, sagt Sven-Michael Veit, Vorstandsmitglied des Trägervereins.
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Dass die Opferfamilien und deren Perspektive eine wichtige Rolle im Schaffensprozess gespielt hätten, sei wichtig und unverzichtbar. „Deshalb hätte diese Ausstellung ohne jeden Zweifel nach Mölln gehört, dem Tatort und Ausgangspunkt für die Kunstwerke“, so Veit.
„Hier wurde eine große Chance vertan, Brücken zu bauen, Gräben zu überwinden und zu versöhnen“, sagt Malerin Christiane Leptien stellvertretend für ihre Künstlerkollegen. Kunst könne Erinnerungen, Emotionen, Gedanken und Botschaften transportieren, um in einen Dialog zu kommen, ist Initiatorin Janis Walzel überzeugt. „Zumal das Thema rechtsradikale Gewalt nach den Anschlägen in Hanau, Halle, Kassel und München nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat“, so die Trittauerin.