Hamburg. Das Königliche Ballett Kopenhagen wird „Othello“ und eine weitere Choreographie nicht mehr aufführen. Die Hintergründe des Eklats.
Enthält John Neumeiers gefeierte Ballett-Choreographie „Othello“ rassistische Elemente? Diese Frage bewegt derzeit die dänische Kulturszene – und hat einen Eklat ausgelöst. Einmal mehr zeigt sich: Der Grat zwischen einer Wahrung der Kunstfreiheit und einer gebotenen Berücksichtigung aktueller postkolonialer und identitätspolitischer Diskurse ist schmal.
John Neumeiers Tänzer sollten Affenlaute von sich geben
Das ist geschehen: Bereits im Mai hatte, in Neumeiers deutscher Heimat weitgehend unbemerkt, der Ballettmeister des Königlichen Balletts Kopenhagen, Nikolaj Hübbe, Neumeiers „Othello“ aus dem Programm genommen. Ursprünglich sollte das Stück am 5. November in der dänischen Hauptstadt über die Bühne gehen.
Doch wie unter anderem der Dänemark-Korrespondent der „Frankfurter Rundschau“ berichtet, hätten sich Tänzerinnen und Tänzer des Königlichen Balletts geweigert, die Choreografie wegen einer als unangemessen empfundenen Krieger- und Stammestanz-Szene aufzuführen, bei der die Tänzer Affenlaute von sich geben und sich in Affen-Manier auf den Kopf schlagen müssen.
John Neumeier lehnte Änderungswünsche ab
Hübbe bat Neumeier um Änderungen am „Othello“, die dieser jedoch ablehnte. Nach der Streichung des „Othello“ aus dem Programm, einigte man sich auf den „Sommernachtstraum“ als Ersatz. John Neumeier reiste im November noch zu den Endproben nach Kopenhagen.
Der Konflikt gipfelt nun darin, dass das Königliche Ballett John Neumeier die Zusammenarbeit für diese Spielzeit komplett aufgekündigt hat. Vorausgegangen war eine offenbar sehr emotionale Aussprache mit der Compagnie. Bei den Proben zum „Sommernachtstraum“ sei es zu Reibungen gekommen, ist aus dem Theater zu hören. Nicolaj Hübbe habe Neumeier am Ende die Tür gewiesen.
Neumeier verteidigte sein Konzept vor dem Ensemble
Auf Abendblatt-Anfrage verweist John Neumeier darauf, dass das Zerwürfnis eine Folge seines Versuchs gewesen sei, „offen und ehrlich“ erstmals seine Haltung zur Absetzung seines Balletts „Othello“ darzulegen. Hierfür habe er eine Probe zum „Sommernachtstraum“ genutzt. Diese sei, so erklärt er, die erste Gelegenheit gewesen, vor dem gesamten Ensemble zu sprechen.
Er habe sein Konzept verteidigt: „Ich habe im Wesentlichen gesagt, dass ich zwar Einwände gegen die Bemalung des Körpers eines Tänzers zur Darstellung einer Rolle verstehen kann, dass ich aber nicht an eine Zensur der choreographischen Form aufgrund der negativen Fehlinterpretation der betreffenden Bewegung durch einen Einzelnen glaube. Im Zweifelsfall ist es wichtig, die Absicht des Autors (d. h. des Choreografen) zu berücksichtigen und zu verstehen.“
Und weiter: „Ich erläuterte mein Konzept und den dramaturgischen Zweck des ,Wilden Kriegers’ im Kontext des Balletts und beschrieb und demonstrierte physisch meine Recherchen über afrikanische Jagdtänze, die zur Gestaltung dieser Rolle verwendet wurden.“
Ende der freundschaftlichen Beziehungen
Danach seien die Proben aus seiner Sicht harmonisch weitergelaufen. Bis er am 16. November eine E-Mail erhalten habe, dass das Königliche Dänische Ballett eine Einladung an Neumeier anlässlich des 50. Jubiläums des Hamburg Balletts zurücknehme und auch die Produktion „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“ nicht wieder aufnehmen werde.
„Leider scheint meine lange, harmonische, fruchtbare und freundschaftliche Beziehung zu diesem Ensemble, die vor 60 Jahren begann, als ich 1963 bei der großen Lehrerin Vera Volkova am Königlichen Theater studierte, derzeit nicht mehr zu bestehen“, erklärt Neumeier sichtlich betroffen dazu.
Rassismus-Vorwurf: Alles nur ein Missverständnis?
Das Echo in den dänischen Medien ist groß. Mehrere Ballett-Kritiker verweisen darauf, dass John Neumeiers Choreografie „Othello“ ein antirassistisches Stück sei und auch die genannte Szene ebendiese Aussage unterstütze. Zudem sei der 83-Jährige in Dänemark seit Jahrzehnten ein hoch geschätzter Choreograf, ein Publikumsliebling, der stets ein volles Haus garantiere.
Ist also alles ein gewaltiges Missverständnis? Nikolaj Hübbe rudert inzwischen öffentlich zurück. In der dänischen TV-Sendung „Kulturell“ erklärte er, dass er selbst die „Othello“-Choreografie nicht als rassistisch empfinde und John Neumeier keinesfalls Rassismus unterstelle. Hübbe räumt ein, dass die „Othello“-Absage vielleicht übereilt war. „Aber wenn sich die jungen Kräfte beim Tanzen unwohl fühlen, muss ich mich dem stellen.“
Solotänzerin Elbo: Schluss mit "Retraumatisierung"
Damit meint Hübbe unter anderem die Solotänzerin Astrid Elbo, die die Desdemona in Neumeiers „Othello“ auch bereits in der Nijinsky-Gala in Hamburg getanzt hat. „Kolleginnen und Kollegen, die nicht wie ich weiß sind, müssen jeden Abend die Diener- und Sklaven-Rollen tanzen“, so Elbo. Bezogen auf den „Stammestanz“ in „Othello“, erklärt sie, dass mit dieser „Retraumatisierung“ Schluss sein müsse.
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Die Entscheidung in Kopenhagen, die jahrzehntelange Arbeitsbeziehung mit John Neumeier vorerst zu beenden, fällt in eine Zeit allgemeiner Nervosität unter Kulturinstitutionen. In einer Atmosphäre, in der schon eine missverständliche Nuance in einer Inszenierung einen Shitstorm in den Sozialen Medien auslösen kann, ringen die Theater und Balletthäuser um eine klare Haltung im Umgang mit dem klassischen Repertoire und seinen kulturellen Stereotypen in heutiger postkolonialer Zeit. Das hat allerdings bisweilen wenig differenzierte Konsequenzen.