Schleswig-Holstein. Im schleswig-holsteinischen Küstengebiet verrottet massenhaft Munition. So gelangt TNT ins Wasser. Was sind Lösungsansätze?

Die Gefahr ist bekannt. Und sie steigt mit der Zeit, wenn auch nicht von Flut zu Flut: In Nord- und Ostsee rotten vor den Küsten der norddeutschen Bundesländer gleich 1,6 Millionen Tonnen konventionelle Munition aus dem Zweiten Weltkrieg vor sich hin. Hinzu kommen noch Tausende Tonnen chemischer Kampfstoffe. Wie viel Senfgas, Sarin oder Phosgen es ist, weiß niemand so ganz genau. Die schleswig-holsteinische Landesregierung macht jetzt bei den Koalitionsverhandlungen in Berlin Druck, zumindest ein Pilotprojekt zur Bergung der explosiven Altlasten finanziert zu bekommen.

Denn: „Die Munition liegen zu lassen ist keine Lösung. Wir müssen sie bergen und entsorgen“, sagte Umweltminister Jan Philipp Albrecht (Grüne) dem Abendblatt. Experten sprechen von einer „tickenden Zeitbombe“. Bomben, Granaten, Minen, Torpedos – auf dem Meeresboden vor Schleswig-Holstein liegt so ziemlich alles herum, was die Waffenindustrie vor rund 80 Jahren in der Lage war, zu produzieren.

Nord- und Ostsee: Vergrabene Munition bedroht die Umwelt

Warum die Weltkriegsmunition gefüllt mit TNT oder Quecksilber dort liegt? Weil Soldaten die Sprengkörper in Massen versenkt haben. Deutsche, die verhindern wollten, dass sie den Alliierten in die Hände fiel und die Siegermächte, die mit sichergestellter Munition nichts besseres anzufangen wussten, als sie zu versenken. Und das rächt sich allmählich.

Denn die Ummantelung, also der Bombenkörper, rostet, der Inhalt, also der Sprengstoff, gelangt so ins Wasser und wird zur Bedrohung für die Tier- und Pflanzenwelt. Das Umweltbundesamt spricht in einer Untersuchung zu den Inhaltsstoffen der Sprengkörper davon, dass „insbesondere TNT und seine Metabolite ... giftig, krebserzeugend und/oder erbgutverändernd“ seien. Und dass auch Schwermetalle wie Quecksilber „in die Meeresumwelt gelangen“, wenn die Metallhülle verrottet.

„Marine Diversität kann negativ beeinflusst werden“

Der Leiter des Instituts für Toxikologie und Pharmakologie im Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Prof. Edmund Maser, ist alarmiert: „Sind die Metallkörper erst einmal komplett verrostet, kann man sie nicht mehr mit den magnetometrischen Detektionsverfahren im Wasser oder im Sediment finden. Zweitens, lösen sich ohne ,schützende‘ Metallhülle die Substanzen verstärkt im Wasser und werden verstärkt von marinen Organismen aufgenommen. Das kann die marine Diversität negativ beeinflussen, zur Abnahme der Populationen führen und letztendlich auch den Menschen gefährden, wenn er Seefrüchte
verzehrt, die stark mit TNT belastet sind.“

Das Problem ist Experten seit Jahren bekannt. Wurde die Gefahr zu lange ignoriert? „Zunächst ja“, sagt Umweltminister Albrecht. „Aber wir haben uns seit 2009 intensiv bemüht, wissenschaftlich zu erarbeiten und zu kartieren, wo genau Munition in welcher Tiefe und in welchem Zustand liegt.“ Wir, dass sind die Landesregierung, das Geomar, also das Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung, die Uni Kiel und die Marine.

Miesmuscheln als Versuchsobjekte versenkt

„Dazu haben wir unter anderem historische Karten und Tagebucheinträge ausgewertet, wo Munition verklappt wurde. Das wurde aufgearbeitet, unter anderem mit künstlicher Intelligenz“, sagt der grüne Umweltminister. „Aktuell laufen Forschungsprojekte zu bereits ausgetretenen Schadstoffen“, so Albrecht. Daran beteiligt sind Wissenschaftler des Geomars und des toxikologischen Instituts von Edmund Maser.

Taucher hatten in seinem Auftrag Miesmuscheln in Netzen im sogenannten Versenkungsgebiet Kolberger Heide abgelassen. Nach drei Monaten wurden sie geborgen und in Masers Labor auf den Gehalt von TNT und ähnlichen sprengstofftypischen Verbindungen analysiert. Prof. Maser: „Wir haben direkt an rostenden Ankertauminen und zudem bei größeren und kleineren Brocken von frei liegendem TNT (Schießwolle) untersucht. In den Muschelgeweben an der frei liegenden Schießwolle haben wir ca. 50-mal mehr TNT gefunden, als an den rostenden Ankertauminen.“ Offensichtlich verhinderten die rostenden Metallhüllen noch eine übermäßige Freisetzung der Substanzen.

Munition bergen, entschärfen und sprengen

Die Kieler Landesregierung weiß wie die der anderen Küstenländer um die Dringlichkeit. „Man muss davon ausgehen, dass die Munition immer weiter verrostet. Wir müssen prioritär handeln und so schnell wie möglich anfangen, die besonders kritische Munition zu bergen“, fordert der grüne Umweltminister. Dazu werden zunächst einmal rund 100 Millionen Euro für ein Pilotverfahren gebraucht. Die Finanzierung soll jetzt über die laufenden Koalitionsverhandlungen in Berlin angeschoben werden.

Geplant ist, eine Neuentwicklung des Rüstungskonzerns ThyssenKrupp Marine Systems einzusetzen. Von der „weitgehend automatisch arbeitenden Entsorgungsplattform direkt auf dem Meer“ (Albrecht) werde die Munition unter anderem mit Spezialbaggern geborgen, dann entschärft oder gesprengt. „Derzeit bemühen sich Bundesregierung und Küstenbundesländer um das Budget von 100 Millionen Euro, um die erste Plattform experimentell betreiben zu können“, sagt der Umweltminister. Laut Toxikologe Maser sei alles da, was für eine Bergung nötig sei: „die wissenschaftlichen Erkenntnisse, das technische Know-how, sowie der Wille von allen, endlich loszulegen bevor es zu spät ist“. Es fehlt bislang das Geld.

Besonders viel Munition in der Kolberger Heide vergraben

Die Gesamtkosten für die Bergung aller Altlasten im Meer lassen sich noch nicht abschätzen. „Erst auf Grundlage der Erfahrungen aus dem Betrieb der ersten Plattform wird man die Kosten seriös kalkulieren können“, sagt Al­brecht. Aber so viel steht schon fest: Schleswig-Holstein wird das nicht allein finanzieren können. Landesregierung und Wissenschaftler wie Maser sehen den Bund in der Verantwortung.

Starten könnte das Pilotprojekt in der durchkartierten Kolberger Heide. Das ist eine in Teilen nur fünf Meter tiefe Sandbank am Eingang der Kieler Förde. Hier, ganz in der Nähe der Badeorte Heidkate und Kalifornien und nur wenige Hundert Meter vom Ufer entfernt, dürfte so viel Munition versenkt worden sein wie an kaum einem anderen Ort vor der Küste des Landes. Für Prof. Maser ist klar: „Gerade die großen Versenkungs­gebiete wie die Kolberger Heide müssen so schnell wie möglich geräumt werden. Denn es ist zu befürchten, dass das weitere Durchrosten der Metallkörper dazu führt, dass mehr dieser toxischen und krebserzeugenden Substanzen in die marine Umwelt gelangen.“