Husum. Wattwanderung mal ganz anders: Im Dunkeln, begleitet von unheimlichen Sagen und Gedichten rund um die Nordsee.

Die letzten Strahlen der Wintersonne lassen den Schlick silbrig glänzen. Eine kleine Menschengruppe trotzt in der Dämmerung der Kälte des Abends und dem Nordseewind. Sie hat sich zu einer ganz besonderen Wanderung aufgemacht: Die Unerschrockenen wollen das Watt zu später Stunde erkunden, sich von Sagen und Gedichten rund um die Nordsee in ferne Zeiten entführen lassen und ihre Sinne herausfordern – auf einer lyrischen Nachtwanderung der Schutzstation Wattenmeer. „Tagsüber sieht man sich das Watt nur an, doch wenn es dunkel wird, kann man ganz andere Per­spektiven einnehmen“, sagt Lena Philipp, 18. Sie macht ein Freiwilliges Ökologisches Jahr (FÖJ) in der Schutzstation. Gemeinsam mit ihrem FÖJ-Kollegen Johannes Horsch führt sie die Gruppe nun hinter den Deich in Lundenbergsand bei Husum, zu Salzwiesen und Schlick. Die Gruppe ist um diese Zeit fast allein mit der Natur.

Am Haff nun fliegt die Möwe,

Und Dämmrung bricht herein;

Über die feuchten Watten

Spiegelt der Abendschein.

Johannes Horsch trägt vor, wie Theodor Storm den „Meeresstrand“ in seinem gleichnamigen Gedicht vor über 160 Jahren beschrieb. Die Natur scheint kaum verändert: Hinter den Salzwiesen liegt das weite Wattenmeer, Weltnaturerbe und Lebensraum unzähliger Tiere. „Etwa zwölf Millionen Vögel besuchen das Watt pro Jahr“, erzählen die Wattführer. Die Vögel nutzen den Rastplatz im Schlick auch als Futterquelle, denn viele fliegen von der Nordseeküste nonstop in ihr Winterquartier in Südeuropa oder sogar an der Südspitze Afrikas. Unter ihnen der Knutt: Der kleine Strandläufer schlägt sich den Magen hier so lange mit Wattwürmern und anderen Kleintieren voll, bis er sein Körpergewicht verdoppelt hat. Dann macht er sich auf die Reise.

Graues Geflügel huschet

Neben dem Wasser her;

Wie Träume liegen die Inseln

Im Nebel auf dem Meer.

Der Horizont verschwimmt im graublauen Abendhimmel. Wer will, kann nun längst versunkene Städte und Inseln in der Weite der Dämmerung erahnen. Lena Philipp erzählt von der ersten und zweiten „Großen Manndränke“, verheerenden Sturmfluten im 14. und 17. Jahrhundert: „Damals ist massiv viel Landfläche im Meer versunken.“ Auch die legendäre Stadt Rungholt ging unter: Es hieß, die Menschen dort seien mit der Flut für ihre fehlende Gottesfürchtigkeit bestraft worden. Die große Handelsstadt blieb lange Zeit ein Mythos, bis der Schlick ihre Überreste zutage förderte. „Das Watt kann Dinge konservieren“, sagt die junge Wattexpertin. „Archäologen wird hier nie langweilig.“ Heute ist klar: Die Stadt Rungholt gab es wirklich. Und Lena Philipp verrät: Noch immer soll man weit draußen in der Nordsee die Kirchenglocken der versunkenen Stadt hören können.

Doch gerade pfeift vor allem der Wind in den Ohren. Die FÖJ-ler führen die Gruppe hinein in die Salzwiese. Dort kommen die Teilnehmer dem Watt so nah wie möglich: ganz aufs Watt hinaus zu gehen wäre im Dunkeln zu gefährlich. Hier draußen schließen alle für einen Moment die Augen und lauschen: Was hören sie dort?

Ich höre des gärenden
Schlammes

Geheimnisvollen Ton,

Einsames Vogelrufen –

So war es immer schon.

Wovon Theodor Storm einst schrieb, schwingt auch heute noch durch die Luft: Möwen kreischen gegen den Wind, Austernfischer rufen sich etwas zu. Ein großer Gänseschwarm lässt sich im Halbdunkel nieder. Nur den „geheimnisvollen Ton“, das sogenannte Wattknistern, hören die späten Besucher heute nicht: Die Schlickkrebse, die das leise Blubbern erzeugen, scheinen zu schlafen.

Stattdessen ist ein anderes Geräusch umso deutlicher: das Rauschen der Windräder hinter dem Deich. „Daran merkt man, wie nah der Mensch dem Nationalpark Wattenmeer ist“, sagt Lena Philipp. Er bedroht das Zusammenspiel von Watt und Tieren. Scheucht er zum Beispiel den Vogel Knutt zu heftig auf, startet dieser vorzeitig in Richtung Süden – ohne sich die nötigen Fettreserven angefuttert zu haben. Der Strandläufer verhungert dann.

Die Wattführer packen jetzt eine Kiste mit Strandgut aus, das sie den Teilnehmern hinter deren Rücken in die Hände legen. Sie sollen sich ganz auf ihren Tastsinn konzentrieren. Mit klammen Händen befühlen sie die Gegenstände. Was könnte das sein: eine zerknüllte Brottüte, eingerolltes Schilf? „Das ist der Laichballen einer Wellhornschnecke“, verrät Lena Philipp.

Noch einmal schauert leise

Und schweigt dann der Wind;

Vernehmlich werden die
Stimmen,

Die über der Tiefe sind.

Die Dunkelheit hat sich inzwischen endgültig über den Deich gelegt. Die kleine Gruppe stemmt sich gegen den rauen, kalten Wind. Johannes Horsch liest ein letztes Gedicht vor. „Abends herrscht am Watt eine ganz besondere Atmosphäre“, sagt er mit leicht rot gefrorener Nase. Urlauberin Susanne Juckel, die aus dem Spreewald an die Nordsee gekommen ist, stimmt ihm trotz der Kälte zu: „Und alleine, ohne Tour, würde man sich wahrscheinlich nicht hierhin aufmachen.“ Mithilfe der jungen Führer durften die Teilnehmer den Nationalpark an diesem Winterabend mit allen Sinnen erspüren.

Wer eine Nacht am Watt mit den Mitarbeitern der Schutzstation in der Dämmerung und nachts erleben will – zum Beispiel bei Husum oder auf den Nordseeeinseln –, kann ­sich anmelden unter:
www.schutzstation-wattenmeer.de