Wedel. Die Wedeler Mediziner hatten auf ihrer Homepage eine ungewöhnliche Ankündigung gemacht. Nun werden die Ärzte übel beschimpft.
Mediziner aus dem Kreis Pinneberg sind zur Zielscheibe von Querdenkern geworden: Im Netz ist von "Anti-Menschen" die Rede, die "man auf einem Marktplatz zur Schau stellen" oder "denen man mal einen Besuch abstatten" sollte. Ein Bild zeigt eine betroffene Kinderärztin mit Teufelshörnern. Und nach einem diffamierenden Aufruf in sozialen Netzwerken wird die Praxis binnen kürzester Zeit mit Hunderten negativen Bewertungen bei Google überhäuft, es folgen Telefonterror und Mail-Bombardement.
Weil eine Kinderarztpraxis in Wedel angekündigt hat, nur noch geimpfte Patienten behandeln zu wollen, wird das Team im Internet zum Opfer von Hass und Hetze. Impfgegner und Querdenker bedrohen seither die Mediziner, haben einen bundesweiten Shitstorm gegen die drei Kinderärzte entfesselt. Inzwischen ermittelt die Polizei, Berufsverbände sind alarmiert.
Querdenker erbost wegen Ankündigung von Kinderarztpraxis
Ausgangspunkt der Bedrohungen ist ein Text auf der Webseite der Praxis. Seit dem 1. Oktober habe sich das Team neu aufgestellt: "Wir halten Impfungen für sinnvoll, um schwere Krankheiten mit möglichen bleibenden Schäden für die Gesundheit zu verhindern", heißt es im Begrüßungstext.
Und weiter: "In Zukunft sind die Impfungen der Kinder, beginnend spätestens im 6. Lebensmonat, die Voraussetzung für die Behandlung in unserer Praxis und für die ärztliche Begleitung."
Querdenker verbreiten Bild von Kinderärztin mit Teufelshörnern
Offenbar ein Affront für Impfgegner und die Querdenker-Szene. Denn am Montag teilte ein sogenannter Wildnispädagoge die Passage auf Twitter – und trat damit eine Kampagne los. In einem wenig später auf Telegram verbreiteten Eintrag wurde indirekt zur Abgabe negativer Bewertungen auf der Google-Seite der Kinderarztpraxis aufgerufen – nebst dem Bild einer Ärztin mit Teufelshörnern.
Dem Aufruf folgten etliche Impfgegner: Die schlechten Google-Rezensionen explodierten, sogar den Namen der Praxis hatten anonyme Hetzer bei Google manipuliert: "Kinder- und Menschenfeinde Wedel" war dort zwischenzeitlich zu lesen.
Querdenker-„Anwalt“ teilt Hetz-Beitrag mit Tausenden Followern
Spätestens als Markus Haintz, bekannt als "Querdenken"-Anwalt, den Aufruf unter seinen Tausenden Followern verbreitet, ergießt sich eine Welle von Anfeindungen über die Praxis. Haintz löschte den Beitrag zwar wenig später auf seinem Telegram-Kanal, aber da war es schon zu spät. Daran änderte auch ein Video nichts mehr, in dem er sich zwar für das Teilen des Beitrags entschuldigte, aber nicht beim Praxisteam: Er habe die Teufelshörner nicht gesehen, den Beitrag zu teilen, sei ein Fehler gewesen. Auch der ursprüngliche Verfasser nahm seinen Telegram-Post offline – ohne Entschuldigung.
Für die Polizei kam der Stein schon vorher ins Rollen. Demnach gab es eine Strafanzeige gegen die Inhaber der Kinderarztpraxis, die eine Frau aus Worms über das Online-Portal der Polizei gestellt hat. Darin wirft sie dem Praxisteam vorsätzliche Körperverletzung und unterlassene Hilfeleistung vor, weil die Behandlung ungeimpfter Kinder verweigert werde.
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Polizei: Täter könnten aus der Querdenker-Szene stammen
"Die Anzeige prüft die Staatsanwaltschaft Itzehoe", sagte Polizeisprecher Lars Brockmann am Donnerstag. Offenbar habe die Initiatorin sowie andere "Kritiker" den Fall in den sozialen Medien veröffentlicht und einen Shitstorm mit hasserfüllten Kommentaren und Drohungen mit ausgelöst. "Wir sind über Twitter darauf aufmerksam geworden", so Brockmann.
Inzwischen liege aber auch eine Strafanzeige einer Ärztin der betroffenen Praxis vor, die den Straftatbestand der Verleumdung berühre. "Die Ermittlungen laufen", sagt Brockmann. Die Beamten würden versuchen, die richtigen Namen der Personen herauszufinden, die sich an den Hasstiraden insbesondere bei Telegram beteiligt hätten. Laut Brockmann gebe es ein öffentliches Interesse an einer Strafverfolgung. Die Täter könnten aus der Querdenker-Szene stammen.
KV: "Anfeindungen und Bedrohungen sind widerwärtig"
Die Kassenärztliche Vereinigung Schleswig-Holstein (KVSH) verurteilt laut Sprecher Marco Dethlefsen die Drohungen gegen die Kinderarztpraxis in den sozialen Medien aufs Schärfste. "Wir lehnen jegliche Form von Diffamierungen, Hass-Kommentaren und Hetzkampagnen ab. Derartige Anfeindungen und Bedrohungen sind absolut widerwärtig sowie inakzeptabel und müssen strafrechtlich verfolgt werden."
Die KVSH habe leider keine Möglichkeit, Praxen physisch oder digital zu schützen. "Wir können betroffenen Praxen nur dringend empfehlen, Kontakt zur örtlichen Polizei aufzunehmen, um die Vorfälle zu melden und die Verfasser der Hass-Kommentare anzuzeigen."
Ärzte können frei entscheiden, welche Langzeitpatienten die aufnehmen
Gleichwohl habe die KVSH die Kinderarztpraxis in Wedel auf die gültige Rechtslage und vertragsärztliche Pflichten hingewiesen. Danach haben geimpfte und ungeimpfte Patienten gleichermaßen einen Behandlungsanspruch. Für akute Notfälle sei das richtig, bestätigt Jakob Maske, Bundessprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte.
Doch welche Langzeitpatienten eine Praxis aufnehme, könnten Ärzte frei entscheiden. Insofern sei es legitim, dass die Mediziner in Wedel auf ihre Impfbestimmungen hinweisen und Patienten danach auswählen. Laut Verbandssprecher gebe es gute Gründe, auf Impfungen zu bestehen – etwa den Schutz anderer Kinder.
Bundessprecher der Kinderärzte: "Unerträglicher Tabubruch"
Die Anfeindungen gegen die Wedeler Praxis nennt Maske einen "unerträglichen Tabubruch". Unterschiedliche Meinungen zu Impfungen seien normal, dürften aber nicht in Drohungen münden. "Dagegen muss deutlich vorgegangen werden", so Maske. "Hier ist der Gesetzgeber gefordert." Dabei sei die Wedeler Praxis kein Einzelfall. "Gerade in der Pandemie haben sich Übergriffe auf Kinderärzte gehäuft." Praxen mussten wegen Telefon- und E-Mail-Terror tagelang schließen.
Bastian Sue (39), stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Linken im Wedeler Rat, zeigt sich ebenfalls besorgt. "Wir haben Stadtverwaltung und Polizei informiert und der Arztpraxis unsere Solidarität und Unterstützung zugesagt", so Sue. Der Ratsherr ist so etwas wie der Social-Media-Experte seiner Fraktion und hatte frühzeitig Wind von dem Shitstorm bekommen. Laut seinen Recherchen kam kaum eine zurückverfolgbare Drohung gegen die Praxis aus Norddeutschland.
Shitstorm gegen Wedeler Kinderärzte erinnert an Fall aus Österreich
Der Fall in Wedel erinnere viele Beobachter an die österreichische Ärztin Lisa-Maria Kellermayr. Sie wurde monatelang von Impfgegnern attackiert und mit dem Tod bedroht, auch sie musste schließen. Wenig später fand man Kellermayr tot in ihrer Praxis – neben Abschiedsbriefen.
In der Wedeler Praxis hat nun offenbar ein grundsätzlicher Gesinnungswechsel stattgefunden. Zuvor praktizierte dort auch Alexander Konietzky. Seit Juli ist er ärztlicher Geschäftsführer des Vereins „Ärztinnen und Ärzte für individuelle Impfentscheidung“ – eine Vereinigung von eher impfskeptischen Ärzten, die sich gegen Impfpflichten einsetzen. Die betroffenen drei Ärzte in der Wedeler Praxis waren trotz mehrfacher Versuche bis Redaktionsschluss weder telefonisch noch per Mail für eine Stellungnahme zu erreichen.