Elmshorn. Messerattacke von Brokstedt habe Lücke aufgezeigt. Gesundheitsministerin will nun helfen. Wendepunkt e.V. berät 1200 Hilfesuchende.

Das umfangreiche Angebot der Beratungsstelle Wendepunkt in Elmshorn für Opfer sexueller Gewalt soll jetzt erweitert und landesweit angeboten werden. Künftig sollen auch mittelbar Betroffene von Gewalttaten dort Hilfe erfahren. Dazu gehörten auch Opfer von Wohnungseinbrüchen oder sogenannten Enkeltricks.

Das kündigte die schleswig-holsteinische Gesundheitsministerin Kerstin von der Decken bei ihrem Besuch in der Elmshorner Beratungsstelle an. Mit 100.000 Euro im Jahr wird das neue Angebot vom Land finanziert.

Wendepunkt: Messerattacke von Brokstedt habe die Versorgungslücke aufgezeigt

„Der Messerangriff bei Brokstedt hat uns schmerzlich vor Augen geführt, dass es eine Lücke gibt: Menschen, die von Straftaten direkt oder auch indirekt betroffen sind, und anhaltend darunter leiden, konnten bislang auf kein spezialisiertes, psychologisches Beratungsangebot zurückgreifen“, begründete die Ministerin diese Initiative.

„Das wollen wir ändern.“ Es gebe in Schleswig-Holstein bereits ein ausdifferenziertes Netz von Hilfsangeboten. Diese reichten von den ehrenamtlichen Angeboten des Weißen Rings über eine Vielzahl von spezialisierten Fachberatungsstellen, die wie der Wendepunkt Opfer häuslicher oder sexualisierter Gewalt betreuten und sie auch Trauma-Ambulanzen berieten.

Auch Angehörige, Mitschüler und Augenzeugen brauchen professionelle Hilfe

Unmittelbar nach einem Ereignis wie in Brokstedt im August vergangenen Jahres seien Fachkräfte der psychosozialen Notfallversorgung vor Ort im Einsatz gewesen und hätten sich um die Betroffenen gekümmert, erklärt Wendepunkt-Leiter Dirk Jacobsen. Dort waren in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg zwei Menschen von einem offenbar psychisch kranken Mann mit einem Messer getötet und fünf weitere verletzt worden. „Doch was ist in den Tagen und Wochen danach?“, fragt der Wendepunkt-Chef.

Es habe sich herausgestellt, dass eine große Anzahl von Mitbetroffenen längerfristig Hilfe brauchte. Dazu gehörten außer den Verletzten auch Angehörige und Mitschüler der Opfer, Augenzeugen sowie Rettungskräfte. „Wir waren mit unserem Team vor Ort und haben psychosoziale und Trauma-spezifische Hilfe angeboten“, erklärt Jacobsen.

Wendepunkt-Chef Jacobsen: Das ist ein Meilenstein für die Opferhilfe

Es habe Fachberatungen gegeben und eine offene Sprechstunde sei gemeinsam mit den Regio Kliniken eingerichtet worden. Zukünftig soll der Wendepunkt bei derartigen Ereignissen nun landesweit zum Einsatz kommen, kündigte die Gesundheitsministerin an: und zwar telefonisch, per Video und bei Bedarf auch vor Ort. Erreichbar sei das Angebot unter der Rufnummer 04121/ 475730.

„Dieses neue Angebot für eine akute und mittelfristige psychosoziale Nachsorge nach Straftaten schließt eine Lücke im Versorgungssystem und ist ein Meilenstein in der Unterstützung von Opfern“, freut sich Wendepunkt-Leiter Jacobsen. Es werde einen signifikanten Beitrag leisten, um das Leben der Betroffenen zu verbessern. Denn nach einem traumatischen Erlebnis müssten die Betroffenen möglichst schnell professionelle Hilfe und eine psychosoziale Unterstützung erhalten. Das sei bei Kindern und Jugendlichen besonders wichtig, da sie sich noch in der Entwicklung befänden. „Wenn Menschen schnell geholfen werden kann, entwickeln sie sich gesünder.“

Das traumatische Erlebnis darf sich nicht festsetzen und Symptome entwickeln

Es gehe insbesondere darum, dass das traumatisch erlebte Ereignis sich nicht bei den Betroffenen festsetze und womöglich Krankheitssymptome entwickeln könnte, erläutert Sascha Niemann, einer der psychologischen Betreuer im Trauma-Zentrum beim Wendepunkt. Da es aber ein halbes Jahr dauern könnte, bis die Betroffenen einen Termin bei ihrem niedergelassenen Arzt bekämen, hingen viele in der Luft und würden mit ihrem Trauma alleingelassen.

„So bilden wir nun eine Brücke in der Versorgung. Wir helfen dann auch dabei, die Betroffenen bei Bedarf in die weiterführende Versorgung vor Ort einzubinden“, erklärt Niemann, der im Wendepunkt den Fachbereich Trauma-Zentrum und Beratung leitet.

Jedes Jahr wenden sich mehr als 1200 Menschen um Hilfe an den Wendepunkt

Das neue Angebot schließe noch eine weitere Lücke, erklärt Jacobsen vom Wendepunkt. Bisher stünde nur Opfern von Gewaltstraftaten diese professionelle Hilfe durch das Opferentschädigungsgesetz zu. Aber auch Straftaten ohne direkten Gewalteinsatz könnten für die Betroffenen Folgen haben – wenn es bei ihnen zum Beispiel nach einem Wohnungseinbruch zu Angststörungen käme oder sie als Opfer des sogenannten Enkeltricks anschließend Vertrauensprobleme entwickelten. „Auch für diese Betroffenen wird der Wendepunkt jetzt Sprechstunden einrichten“, kündigt Jacobsen an.

Die Beratungsstelle Wendepunkt hat reichlich Erfahrung bei der Betreuung von Opfern. Die Einrichtung besteht seit nunmehr 30 Jahren. Jedes Jahr wenden sich etwa 1200 Menschen um Hilfe an den Wendepunkt. 2021 waren es 1246, 2022 waren es 1236 Hilfesuchende. Für 2023 sind die Zahlen noch nicht ermittelt. Etwa die Hälfte von ihnen hatte Gewalt oder sexuellen Missbrauch erfahren oder ein traumatisches Erlebnis zu verarbeiten.

Ein Fall von sexuellem Missbrauch hat 1993 den Wendepunkt gründen lassen

Rund 200 Pädagogen und Erzieherinnen von Schulen, Kitas und Jugendhilfeträgern werden jedes Jahr fachlich ausgebildet. Und der Wendepunkt bietet Therapiemaßnahmen für sexuelle Straftäter an, damit diese nicht rückfällig werden, und engagiert sich vor allem im Raum Elmshorn –Barmstedt in der schulischen Gewaltprävention.

Auslöser sei ein „erschütternder Fall von sexuellem Missbrauch“ im Jahr 1990 gewesen, erinnerte die langjährige Leiterin des Wendepunkts, Ingrid Kohlschmitt, an die Anfänge. Damals erfuhren in einem Hochhaus am Ellerndamm in Elmshorn mehrere Kinder sexuelle Übergriffe durch einen Mitbewohner und trauten sich zunächst nicht, über ihre bedrückenden Erlebnisse zu sprechen. „Zu groß waren die Scham und die Angst“, so Kohlschmitt in ihrem Beitrag zum 25-jährigen Bestehen des Wendepunkts. Eltern fragten sich ebenso wie Lehrkräfte und andere Mitmenschen: „Warum haben wir nichts bemerkt?“ Zu dieser Zeit sei dieses Thema noch „hoch tabuisiert“ gewesen.

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Schulen und Kindergärten zeigten sich alarmiert und ratlos, berichtet Kohlschmitt. Sie ahnten, dass es mehr solche Fälle geben könnte. Und so habe sie als Vorsitzende des Vereins „Frauen helfen Frauen in Not“ dann ein Konzept für eine Beratungsstelle entwickelt. Es sollte Betroffenen geholfen, Eltern unterstützt, Fachkräfte fortgebildet werden. „Wir wollten das Unaussprechliche endlich aussprechbar machen, damit sich Betroffene offenbaren können.“ Daraus ist dann 1993 der Wendepunkt entstanden, der nun sogar landesweit im Einsatz sein wird.