Pinneberg. Maiken Brathes neuestes Buch heißt „Tünde weiß alles“: Wie aus dem geplanten Krimi ein Entwicklungsroman mit Lokalkolorit wurde.
Was wäre, wenn ... mein zynisches Gewissen einfach mal die Klappe hält? Oder der piefige Nachbar letztlich nichts als eine gute Seele ist? Und von der eigenen Frau betrogen zu werden, sich als das Beste herausstellt, was einem passieren konnte?
„Was wäre, wenn“, das ist der Ausgangspunkt jeder guten Geschichte, geht es nach der Wahl-Elmshornerin, Autorin und Fotografin Maiken Brathe. Nach „Tilda“ und „Klaus muss raus“ hat die Norddeutschland-Verliebte nun ihren dritten Roman „Tünde weiß alles“ im Helmer Verlag veröffentlicht.
Neuer Roman aus Elmshorn: Maiken Brathe legt „Tünde weiß alles“ vor
Maiken Brathe ist kreativ, seit sie denken kann. Das früheste Geschreibsel fand seinen Platz in einem Schnellhefter, illustriert hat Brathe selbst. Denn die Ideen, die kreative Energie, die überbordende Inspiration, „das will alles raus, es will gemalt, fotografiert, geschrieben werden“, sagt sie. Nicht nur als Autorin und Fotografin, auch als bildende Künstlerin hätte sie sich gern einmal gesehen und als feministische Journalistin sowieso, am liebsten in Chile, erzählt Brathe.
Die Autorin stammt aus einem Akademikerhaushalt mit Leseratten-Mutter und musisch begabtem Vater. „Das ist ein Privileg, da mache ich mir gar nichts vor“, weiß sie. Die andere Seite der Medaille: Brathe erkrankte bereits als Kind an Rheuma und fristete viel Zeit in Klinikbetten, wo Literatur ihr Zerstreuung verschaffte. Literatur und das Was-wäre-wenn-Gedankenspiel, der Anfang jeder guten Geschichte – auch jener von Tünde Weiß, der Heldin aus Brathes jüngstem Werk „Tünde weiß alles“.
„Tünde weiß alles“ sollte ein Krimi werden – und endete als Entwicklungsroman
„Tünde habe ich wie im Rausch geschrieben“, erzählt die Autorin. Gerade einmal vier Monate hat es gedauert, den queeren Entwicklungsroman herunter zu tippen, wohingegen die Wahl-Elmshornerin an „Klaus muss raus“ knapp zehn Jahre lang gefrickelt hatte. Wieso sich das Buch mehr oder weniger von selbst schrieb? „Die Figuren machen einfach, was sie wollen“, meint Brathe.
Ursprünglich hatte sie „Tünde weiß alles“ immerhin als Cozy-Krimi, also gemächlicheren „Kuschelkrimi“, angelegt. Einer der Protagonisten sollte darin das Zeitliche segnen. Dann aber trat Schlagertrulla Libby auf – eine absolute Nervensäge, doch leider mindestens ebenso sympathisch wie naiv – und warf Brathes Geschichte über den Haufen.
Alle Tatmotive, Verstrick- und -ästelungen für den Kriminalroman waren bereits dingfest und wohlüberlegt, so die Autorin. Doch nix da. Diese verdammte und verdammt liebenswerte Libby, die „war eigentlich nur eine Randbemerkung – und hat sich dann zur heimlichen Hauptfigur entwickelt“, sagt Brathe.
Und flugs wurde aus dem geplanten Krimi ein Entwicklungsroman, denn Libby ist, was Protagonistin Tünde den Blick weitet und ihr hilft, die Dinge – allen voran sich selbst – einmal aus ganz anderer Perspektive zu betrachten.
Neuer Roman vom Maiken Brathe: Reichlich norddeutsches Lokalkolorit
„Tünde weiß alles“ spielt wie schon „Tilda“ und „Klaus muss raus“ dort, wo sich Brathe selbst am wohlsten fühlt, auf dem platten Land. Diesmal bildet eine herzzerreißend schrullige, aber auch scharf-beobachtende, mal tuschelnde, mal dichthaltende, fiktive Dorfgemeinschaft den Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Hier hilft jeder jedem, andererseits wissen alle alles. Und selbst wer schon seit 42 Jahren hier wohnt, ist im Zweifel noch „der Neue“.
Dorfkrug, Schweinebauer, Plattschnacker – Brathe versteht es, das norddeutsche Lokalkolorit greifbar zu machen und das, obwohl ihre Biografie weitaus mehr ist als „nur“ norddeutsch. Als Kind einer sauer- und münsterländischen Familie wuchs sie zwar in Uetersen auf, besuchte jedoch ein Internat in Nordrhein-Westfalen und brachte immer wieder Monate in der Garmisch-Partenkirchener Kinder-Rheumaklinik zu. So richtig „verliebt“ habe sie sich aber einzig und allein in das platte Land.
Elmshornerin schreibt über queere Liebe auf dem platten Land
Spannend in einem Setting zwischen einsamen Dorfstraßen, schweren Kristall-Aschern und antiken Lampenschirmen: Wie bereits die Vorgängerromane ist auch „Tünde weiß alles“ eine queere Geschichte, deren Protagonistin lesbisch ist. „Ich mag diese Diskrepanz zwischen Weltoffenheit und dem Mikrokosmos eines kleinen Dorfes“, sagt Brathe.
Alternative Beziehungsmodelle aufs literarische Tapet zu bringen, liegt ihr am Herzen, obwohl sie selbst in einer heterosexuellen Beziehung lebt. Allerdings gibt die Autorin ganz freimütig zu, dass für sie eher zweitrangig ist, ob sie ihr Leben an der Seite eines Mannes oder einer Frau verbringt. „Ich würde mich immer in einen Menschen verlieben“, sagt sie, „aber den Zuschlag hat eben ein Mann bekommen.“
„Es sollte kein Extraregal für queere Literatur geben“, sagt die Autorin
Darüber, dass sich queere Leserinnen und Leser bei ihr dafür bedanken, ihnen Sichtbarkeit zu verschaffen, ist die Elmshornerin zwar sehr glücklich. Hausieren geht Brathe aber nicht damit, dass ihre Werke queer gelesen werden können. Schließlich gehe es doch darum, Lebens- und Liebesrealitäten jenseits der Heteronormativität nicht als ungewöhnlich auszuweisen. „Es sollte kein Extraregal für queere Literatur geben“, findet die Autorin.
Ihren ersten Roman „Tilda“ hat die Elmshornerin im Übrigen als Hochzeitsgeschenk für eine sehr gute Freundin verfasst. Diese heiratete mit 78 Jahren ihre Traumfrau, „und sie ist bis heute immer meine erste Leserin“, sagt Brathe.
Elmshornerin Maiken Brathe will die „Graustufen buntfärben“
Sichtbarkeit und Sensibilisierung liegen der Autorin, die als „Rheumapromi“ jahrelang Essays und Glossen über die Krankheit geschrieben hat und bereits zum Thema Sterbebegleitung veröffentlichte, am Herzen. Ihre Figuren sind imperfekt, haben allesamt mit inneren Dämonen zu kämpfen. Sie leiden an Angststörungen und sind trotzdem nicht schwach, sitzen im Rollstuhl und werden dennoch begehrt, sie altern und können sich damit aussöhnen. „Ich möchte die Graustufen buntfärben“, erklärt Brathe ihr Ansinnen.
In „Tünde weiß alles“ legt sie den Finger tief in eine ihrer eigenen, mittlerweile aufgearbeiteten Wunden. Denn Tünde hadert – und das ist gelinde gesagt – schwer mit ihrem Körpergewicht und auch Brathe selbst war für lange Zeit essgestört. Wie es sich anfühlt, kaum in den Spiegel schauen zu können oder übergriffigerweise Diät-Tipps angetragen zu bekommen, hat sie in ihrem neuen Roman verarbeitet. „Es ist ganz viel Maiken in dem Roman“, gibt sie zu.
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Nach „Tünde weiß alles“ sind nun ein Hörbuch und ein Kurzgeschichten-Band geplant
Neben dem Hörbuch soll 2024 außerdem ein Kurzgeschichten-Band der Autorin im Adakia-Verlag erscheinen. Und die Inspiration reißt nicht ab: Einen Thriller zu schreiben, könnte Brathe sich vorstellen, einen Roman des fantastischen Realismus oder auch ein Drehbuch. „Da muss ich wahrscheinlich Zettelchen ziehen, was ich als Nächstes mache“, sagt sie schmunzelnd. Denn: „Da sind so viele Geschichten in mir. Die wollen raus und die wollen gelesen werden.“