Pinneberg. Der in Russland geborene Maler Nikolai Estis verließ 1996 seine Heimat und ließ sich in Pinneberg nieder. Was er erlebte.

An den Wänden hängen die großen weißen Engelsfiguren aus Papiermaché seiner verstorbenen Frau Lydia Schulgina. Daneben hängen großformatige, imposante Malereien mit Engeln, Vögeln, Türmen von Babel und Figuren von Nikolai Estis. Kein Tageslicht dringt in die Räume. Das Atelier im Rübekamp in Pinneberg liegt im Keller.

Die Decke ist niedrig, darunter hängen dicke Wasserrohre. Einmal ist eins der Rohre geplatzt. Die Havarie für den in Russland geborenen Künstler verheerend – einige der Kunstwerke wurden beschädigt. Zum Glück waren Freunde schnell vor Ort und halfen, Schlimmeres zu verhindern.

Keller in Pinneberg dient Nikolai Estis bisher als Atelier

Seit 2019 nutzt der russisch-stämmige Maler die Räume. „Aber der Keller ist als Atelier nicht geeignet“, sagt Nikolai Estis. Er male in den Räumen ohne Tageslicht nicht mehr mit Farben auf Leinwand, beschränke sich auf Skizzen und Zeichnungen, die er zu Hause aufs Papier bringe.

Im Sommer 2017 hatte er sein 150 Quadratmeter großes Atelier auf der Veddel in Hamburg aufgeben müssen. Aus gesundheitlichen Gründen fiel es dem Pinneberger schwer, jedes Mal den weiten Weg dorthin auf sich zu nehmen. Die Saga und Pro Quartier hatten ihm die Räume jahrelang mietfrei überlassen.

Estis zahlte lediglich die Nebenkosten und schenkte im Austausch jedes Jahr zwei seiner Gemälde für das Archiv. Ein solches Arrangement kann er sich auch für eine neue Künstlerbleibe gut vorstellen. Oder er könne im Gegenzug kostenlose Malkurse anbieten.

Nikolai Estis Bilder auch in der Tretjakow-Galerie in Moskau zu finden

Die Räume auf der Veddel waren dank einer Glasfront lichtdurchflutet und ein Anlaufpunkt für vor allem russischstämmige Kulturschaffende und Intellektuelle. Er lud zu öffentlichen Kultursalons mit Musik, Lesungen und Kunstausstellungen. In Pinneberg ist das Atelier versteckt im Keller eines Ärztehauses, von außen nicht als solches zu erkennen. Der gesellige Maler würde sich etwas mehr Publikum wünschen.

Wenn man verstehen will, wie bedeutend seine Kunst ist, muss man schauen, wo man sie findet: unter anderem in der Staatlichen Tretjakow-Galerie in Moskau. Mit rund 140.000 Werken der Malerei, der Grafik und der Bildhauerei ist sie neben der St. Petersburger Eremitage eine der größten und berühmtesten Kunstsammlungen Russlands und bedeutend wie das Louvre in Paris.

Seine Werke sind auch im Puschkin-Museum für Bildende Kunst in Moskau, im Staatlichen Literaturmuseum in Moskau oder im Staatlichen Kunstmuseum Estland zu finden oder in privaten Sammlungen. Nikolai Estis wurde mit unterschiedlichen Stipendien und Preisen ausgezeichnet.

Nikolai Estis und Lydia Schulgina zogen 1996 von Moskau nach Pinneberg

1937 in Moskau geboren, erlangte er 1958 das Diplom der Moskauer Hochschule für Kunstgrafik. In den folgenden zwei Jahren leistete er Wehrdienst bei der Sowjetarmee. Danach nahm er wieder seine Arbeit als freischaffender Künstler auf. Er zählte zur Avantgarde – was in der Sowjetunion mehr Schimpfwort als Lob bedeutete.

Nikolai Estis und Lydia Schulgina wanderten 1996 mit ihrem gemeinsamen Sohn Alexander von Moskau nach Deutschland aus. Sie erhielten zunächst für zwei Jahre ein Ateliersstipendium in der Drostei in Pinneberg, wo sie ausstellten, zu Bilderschauen mit Musik einluden und Kontakte zu anderen Kunstschaffenden pflegten.

1999 zogen sie auf Initiative des Kulturausschusses der Gemeinde Rellingen und die Rellinger Kulturbeauftragte Silke Mannstaedt in die Kunst-Etage im Jugendhaus Rellingen. Schulgina baute dort eine Kunst-Etage für Kinder und Jugendliche auf und unterrichtete.

Nikolai Estis ist wieder auf der Suche nach einem Atelier

Im Jahr 2000 starb Lydia Schulgina mit nur 48 Jahren an Krebs. Die gebürtige Moskauerin, die in ihrer Heimat vor allem für ihre Kinderbuchillustrationen bekannt war, arbeitete bis zum Schluss an ihren Skulpturen aus Papiermaché und schuf in ihrem Todesjahr noch den Zyklus „Stimmen“.

Skulpturen seiner verstorbenen Künstlerin Lydia Schulgina während einer Ausstellung des Kunstkreises Schenefeld.
Skulpturen seiner verstorbenen Künstlerin Lydia Schulgina während einer Ausstellung des Kunstkreises Schenefeld. © Kathrin Wahrendorff

Ende 2018 neu geschaffenes Galeriemuseum in Rellingen sollte ihr Werk und Schaffen würdigen. Es sollte eine dauerhafte Ausstellung werden, die an Lydia Schulgina erinnerte. Doch der Vermieter meldete nach einem Jahr Eigenbedarf an, sodass die Ausstellung wieder schließen musste.

Nun ist Nikolai Estis wieder auf der Suche nach neuen Räumen und mehr Platz für das umfängliche Werk der beiden Künstlerleben. Außerdem hofft er, noch einige seiner Bilder aus Moskau retten zu können. „Die Stimmung in Russland ist sehr schlecht geworden“, sagt er in gebrochenem Deutsch. Er fürchtet, seine Bilder könnten verschwinden, konfisziert oder im Schlimmsten Fall zerstört werden.

Estis Atelier in Moskau war früher Treff für Kulturschaffende

Vieles erinnert ihn an die Repressalien, die er schon in den 50er-Jahren erleben musste. Als Jude war er in seiner Heimat nicht gerngesehen. „Ich trug schon den falschen Namen“, erinnert er sich. „Sie sagten: Estis, was soll das für ein Name sein. So heißt doch kein Russe.“

Das Gemälde von Nikolai Estis trägt den Titel „jenseits des Worts“.
Das Gemälde von Nikolai Estis trägt den Titel „jenseits des Worts“. © Privat

Zudem war seine expressive Kunst dem Regime ein Dorn im Auge. Sozialistischer Realismus war die ideologisch begründete Stilrichtung, die Kunst hatte wirklichkeitsnah auszusehen. Motive aus dem Arbeitsleben und dem glorifizierten sozialistischen Alltag standen im Vordergrund.

Künstler, Dichter, Musiker, Mathematiker, Ärzte und Schauspieler trafen sich heimlich in Nikolai Estis´ Atelier auf dem Dachboden eines Hauses in Moskau, um über das Leben, die Kunst und die Liebe zu diskutieren, weniger über Politik. Ein befreundeter Musiker griff spontan zu seinem Cello, improvisierte zu jedem Bild. „Daraus entstand die musikalische Bilderschau“.

Moderne Künstler wurden in der Sowjetunion verfolgt

Dieser Art der Präsentation blieb Estis bis heute treu. Denn die Musik öffne die Herzen der Betrachter, sagt er. Sie würden ihr lauschen und die Bilder auf sich wirken lassen, statt mit dem Kopf zu sehen und gleich zu fragen, was das eigentlich sein solle, was man da sehe.

Während der Sowjetzeit gingen viele Künstler aus Angst vor politischer Verfolgung in die innere Emigration. Und manchmal tauchten sie unter, aus Angst, verhaftet zu werden. Estis erinnert sich an eine Situation. Er suchte die Wohnung einer Künstlerkollegin auf.

Die Tür stand offen. Fremde durchwühlten die Sachen, Aquarelle und Zeichnungen lagen auf dem Fußboden. Die Männer trampelten mit schweren Stiefeln darauf herum. Entsetzt raffte Estis die Blätter vom Boden auf. Noch in der Wohnung wird ihm Gewalt angedroht, und er wird verhört. Am Ende kann er aber einige Zeichnungen retten, von denen er glaubhaft beteuert, dass sie sich nicht zu Geld machen ließen.

Nikolai Estis in Pinneberg: „Geschichte wiederholt sich“

Vieles an dem heutigen Regime in Russland erinnere ihn an die Repressalien von damals. „In den letzten Jahren ist die Freiheit der Kunst in Russland zunehmend unter Druck geraten“, sagt Estis. Was angeblich gegen die sogenannten traditionellen Werte Russlands verstoße, wird geahndet. „Geschichte wiederholt sich.“

So musste sich die Leiterin der Tretjakow-Galerie im Februar schriftlich beim Kreml rechtfertigen, weil sich ein Besucher über mehrere Werke beschwert hatte, die angeblich seine religiösen Gefühle verletzt hätten und seiner Meinung nach russische Staatsführer beleidigten. Danach musste die Direktorin Selfira Tregulowa gehen, weil sie dem Publikum zu viel moderne Kunst zugemutet hatte.

Zuletzt war Estis im März 2020 in Moskau, hatte in Museen ausgestellt. Zudem gab es einen Gedenkabend für Lydia Schulgina. Estis musste jedoch vorzeitig abreisen, weil die Pandemie hereinbrach. Er erwischte den letzten Flieger nach Hamburg, danach wurde der reguläre Flugverkehr eingestellt.

Seit Ukrainekrieg ist Einreise nach Russland nicht mehr möglich

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist an eine Rückkehr in die Heimat nicht mehr zu denken. Auch nicht für seinen Sohn Alexander Estis, der sich als Schriftsteller und Journalist schon mehrmals kritisch zum Krieg geäußert hat. „Ihm wurde die Einreise verboten“, sagt Nikolai Estis. Die Sorgen, wie es in Russland weitergeht, stehen ihm ins Gesicht geschrieben.

Wer bei der Suche nach einem Atelier helfen will, kann eine Mail an schicken. Die Räume sollten groß genug sein, Skulpturen und große Bilder trocken und sicher aufzubewahren.