Pinneberg. Neustart: Der russisch-stämmige Künstler bezieht sein neues Quartier in Pinneberg. Erste Veranstaltung in den Räumlichkeiten am 16. März.
Seine Farben mischt Nikolai Estis aus Pigmenten selbst an, eine Art Meditation und Inspiration. „Eine so lange Schaffenspause hatte ich noch nie“, sagt er. Er steckt voller Eifer. Gestern habe er endlich wieder einen Pinsel in der Hand gehalten. Einen Vogel hat er gemalt. Estis sitzt an seinem alten Arbeitstisch, der ihn schon seit 60 Jahren begleitet – erst in seiner Zeit in Moskau, dann in Pinneberg, Rellingen und Hamburg. „Meine Heimat ist das Atelier“, sagt Estis. Nun hat der russisch-stämmige Künstler, der als nicht systemkonformer Künstler in der Sowjetunion Verfolgung und Repression erfuhr, eine neue Heimat im Rübekamp 25 in Pinneberg gefunden. Er hofft, dort einen offenen Künstlertreff etablieren zu können.
Fast anderthalb Jahre dauerte die Suche. Im Sommer 2017 hatte er sein Atelier auf der Veddel aufgeben müssen. Die Stadt Hamburg hatte ihm die Räume jahrelang mietfrei überlassen. Estis zahlte lediglich die Nebenkosten und schenkte im Austausch der Stadt jedes Jahr zwei seiner Gemälde für das Archiv. Nach 15 Jahren war damit Schluss.
Nun also ein Neustart, wieder einmal. Die neuen Räume befinden sich etwas versteckt im Keller eines Ärztehauses. Estis’ Einzug hatte sich verzögert, weil ein Rohrbruch den Keller unter Wasser gesetzt hatte. Nun ist er trockengelegt, und seine Bilder hängen. Engel, Vögel, Türme von Babel, Figuren sind wiederkehrende Motive. Auch Skulpturen und Reliefs seiner Frau Lydia Schulgina haben ihren Platz. Die gebürtige Moskauerin war als Buchillustratorin in Russland bekannt geworden. Später fertigte sie unter anderem Skulpturen aus Papiermaché. Schulgina starb am 27. November 2000. Ihr wurde kürzlich ein neu geschaffenes Galeriemuseum in Rellingen (Hohle Straße 30) gewidmet.
Atelier in Moskau war heimlicher Künstlertreff
Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit stecken für Estis auch in seiner Malerei. Deshalb fällt es dem expressiven Maler schwer, sich von seinen Werken zu trennen. Selten verkauft er eines. Dabei mangelt es an willigen Käufern nicht. Es scheint, als bringe er es nicht übers Herz, ein Stück aus dem gemeinsamen Leben mit Schulgina in fremde Hände zu geben.
In der Sowjetunion war der sozialistische Realismus die ideologisch begründete Stilrichtung der Kunst. Wirklichkeitsnähe galt mehr als Abstraktion. Themen aus dem Arbeitsleben und der Technik des sozialistischen Alltags standen im Vordergrund. Der Moderne zugewandte Künstler gingen aus Angst vor politischer Verfolgung in die innere Emigration. Oder sie trafen sich heimlich. So in einer Nacht vor 60 Jahren in Estis’ Atelier auf dem Dachboden eines Hauses in Moskau. „Ich hatte meine Bilder auf Staffeleien gestellt“, erinnert sich der 81-Jährige, der als junger Mann zu den geächteten Dissidenten-Künstlern zählte. Hierher pilgerten Künstler, Dichter, Musiker, Mathematiker, Ärzte und Schauspieler aus dem ganzen Land, um über das Leben, die Kunst und die Liebe zu diskutieren, weniger über Politik.
Ein befreundeter Musiker griff spontan zu seinem Cello, improvisierte zu jedem Bild. „Daraus entstand die Idee einer musikalischen Bilderschau“. Dieser Art der Präsentation blieb Estis bis heute treu. „Die Leute lauschen der Musik und betrachten die Bilder viel intensiver, erspüren sie“, sagt Estis.
Bei einem dieser Aufenthalte lernte er die begabte Künstlerin Lydia Schulgina kennen, die später seine Frau wurde. „Sie war 20 Jahre jünger und hatte einen gut aussehenden Ehemann“, sagt Estis. „Aber sie wählte mich.“ Noch heute scheint er verblüfft über ihre Wahl. Später habe sie ihm erzählt, sie habe zuvor schon eine Ausstellung mit seinen Bildern gesehen und sich darüber in ihn verliebt. Sie wurde zu seiner wichtigsten Kritikerin. 1996 verließen Estis und Schulgina mit Sohn Alexander Russland für ein neues Leben in Pinneberg.