Quickborn/Itzehoe. NS-Verbrechen seien viel zu spät vor Gericht gekommen. Opferanwälte fordern 97 Jahre alte Angeklagte auf, ihr Schweigen zu brechen.

Immer wieder wandten sich die Vertreter der Nebenklage am Dienstag ganz direkt an Irmgard F.. Und immer wieder forderten sie die ehemalige KZ-Sekretärin aus Quickborn auf, das ihr zustehende letzte Wort in dem Verfahren für eine Erklärung zu den Geschehnissen in Stutthof zu nutzen. Dass die 97-Jährige diese Gelegenheit noch ergreift, darf bezweifelt werden. Bisher hat sie während des 14-monatigen Prozesses stoisch geschwiegen – auch die direkte Ansprache der Nebenkläger schien an ihr abzuprallen.

KZ Stutthof: Anklage fordert zwei Jahre Haft auf Bewährung

Nach dem Plädoyer der Staatsanwältin, die vorige Woche für die Angeklagte eine zweijährige Jugendstrafe auf Bewährung wegen der Beihilfe zum heimtückischen und grausamen Mord in mehr als 10.000 Fällen gefordert hatte, haben als nächstes die Anwälte der Nebenklage das Wort. 28 Stutthof-Überlebende oder Personen, die dort nahe Angehörige verloren haben, sind dem Verfahren als Nebenkläger angeschlossen. 30 waren es zu Prozessbeginn am 30. September 2021. Einige sind zwischenzeitlich dazukommen, mehrere während des Verfahrens verstorben.

15 Rechtsanwälte vertreten die Nebenkläger, zehn sind regelmäßig im Verfahren dabei und wollen Schlussvorträge halten. Sechs kamen nun zu Wort – darunter auch Christine Siegrot, die ihren Redebeitrag zur Justizschelte nutzte. Der späte Zeitpunkt des Prozesses gegen Irmgard F. sei ein Beleg dafür, „dass die deutsche Justiz versagt hat“. Die 1958 gegründete Zentralstelle zur Aufklärung der NS-Verbrechen in Ludwigsburg habe die Aufgabe gehabt, die Ermittlungen zu bündeln und voranzutreiben. „Gebündelt wurde, aber nicht vorangetrieben.“

KZ-Prozess: Viele Nebenkläger während des Verfahrens verstorben

Bedauerlich sei auch, dass zwar die Vorermittlungen gegen Irmgard F. 2016 abgeschlossen waren, die Anklage jedoch erst 2021 erfolgte. „Auch in unserem Verfahren sind viele Nebenkläger verstorben.“ Die Angeklagte habe in der Schaltzentrale einer Mordmaschine gesessen und sei auch in der Lage gewesen, die von ihr abgetippten Befehle und Listen inhaltlich zu erfassen. „Eigentlich würden sich die Nebenkläger eine deutlich höhere Freiheitsstrafe erhoffen, die dann nicht mehr vollstreckt wird. Das ist aber in unserem Rechtssystem nicht möglich.“

Markus Horstmann zeichnete noch einmal das Verhalten von Irmgard F. nach, die am ersten Verhandlungstag ihr Heil in der Flucht gesucht hatte und nutzte für sie Begriffe wie „widerspenstig, unwillig, kratzbürstig“. Die 97-Jährige habe, als sie sich dem Verfahren dann gestellt habe, dieses aufmerksam verfolgt, geistig rege und wach gewirkt. „Häufig war an ihrem Gesicht aber auch die Frage abzulesen, was das Ganze hier alles soll.“ Er habe längst die Hoffnung verloren, dass Irmgard F. zur Selbstreflexion fähig sei und in der Lage wäre, Reue für ihre Teilnahme am Holocaust zu zeigen.

KZ-Prozess: Nebenkläger fordern Einlassung der Angeklagten

Sie habe in Stutthof „den Laden am Laufen gehalten“, ihre dort geleistete Tätigkeit sei „ohne eine Identifikation mit der Sache nicht denkbar“. Sie habe in dem Verfahren die einmalige Chance verpasst, Außenstehenden einen „Einblick in das Innere eines KZ“ zu verschaffen, offen zu legen, wie das Töten verwaltet wurde.

Stefan Lode hält es für problematisch, wenn am Ende eines solchen Verfahrens „von vornherein eine Bewährungsstrafe beantragt wird.“ Das diene nicht der Abschreckung. Irmgard F. habe nach seiner Einschätzung „auch mehr als 70 Jahre nach Kriegsende nichts gelernt.“

Unisono machten die Nebenklagevertreter auf die Zeugenaussagen der Nebenkläger aufmerksam – für Horstmann „eindrucksvolle und besondere Momente“. Die Angeklagte, die von 1943 bis 1945 als rechte Hand des Lagerkommandanten tätig war, habe dies offenbar als einzige nicht beeindruckt. „Wir alle haben ein Recht darauf, von Ihnen Antworten auf unsere Fragen zu bekommen“, forderte auch Ernst Freiherr von Münchhausen einen Redebeitrag der 97-Jährigen ein.

Die Opfer hätten niemals Ruhe gefunden, Mittäter wie Irmgard F. hätten nach Kriegsende jedoch „ein vollkommen unbelastetes bürgerliches Leben ohne Einschränkungen führen können.“ Am 5. Dezember haben weitere Nebenklage-Vertreter das Wort, einen Tag später wohl die beiden Verteidiger. Ein Urteil wird am 20. Dezember erwartet.