Quickborn/Itzehoe. Staatsanwältin plädiert auf Bewährungsstrafe. Angeklagte aus Quickborn soll als Schreibkraft Beihilfe zum Massenmord geleistet haben.

Die Angeklagte wirkte fahrig. Teilweise schien es, als würde sich Irmgard F. die Ohren zuhalten. So, als ob sie nicht hören wollte, was im Saal geredet wurde. Teilweise erweckte sie den Eindruck, eingeschlafen zu sein. Dabei ging es am 37. Verhandlungstag des Stutthof-Prozesses für die 97 Jahre alte Quickbornerin um viel. Nach 15-monatiger Beweisaufnahme hielt Staatsanwältin Maxi Wantzen ihr Plädoyer.

KZ-Prozess: Staatsanwältin fordert zwei Jahre Haft für Irmgard F.

Die Anklagevertreterin konnte das Wort ergreifen, nachdem der Vorsitzende Richter Dominik Groß den Antrag der Verteidigung auf Ablehnung des historischen Sachverständigen Stefan Hördler als unbegründet zurückgewiesen hatte. Das geltend gemachte Misstrauen in die Unparteilichkeit des Historikers entbehre jeder Nachvollziehbarkeit.

Hördler habe Quellenmaterial über das KZ zusammengetragen und historisch eingeordnet. Die von der Verteidigung aufgestellte Behauptung, er habe belastendes Material hervorgehoben und entlastende Dinge übergangen, lasse sich nicht stützen. Die Tatsache, dass Hördler von ersten Thesen aus dem vorläufigen Gutachten in der Hauptverhandlung wieder abrücken musste, belege seine Unvoreingenommenheit, weil er „offen für neue Erkenntnisse war“.

Weil Verteidiger Wolf Molkentin auf einen Widerspruch und weitere Anträge verzichtete, konnte Groß die Beweisaufnahme schließen. Irmgard F., die über ein unbelastetes Vorstrafenregister verfügt, ließ noch durch ihren Verteidiger erklären, keine Angaben zu ihren persönlichen Verhältnissen machen zu wollen. Im Anschluss begannen die Schlussvorträge.

KZ-Prozess: Angeklagte arbeitete als Stenotypistin in Stutthof

Staatsanwältin Wantzen, die aus Zeitgründen als einzige an der Reihe war, sprach von einem „Verfahren von herausragender Bedeutung“. „Heute gibt es nur noch wenige Verfahren, die sich mit der Aufklärung von NS-Verbrechen befassen. Dieses ist möglicherweise das Letze seiner Art.“ Das Gehörte, insbesondere die eindrucksvollen Schilderungen der Stutthof-Überlebenden, „haben uns verfolgt, uns nicht losgelassen“, so Wantzen.

Die fast 15 Monate hätten allen Beteiligten vieles abverlangt, insbesondere den Nebenklägern, aber auch der hochbetagten Angeklagten. Die Anklägerin erinnerte kurz daran, dass Irmgard F. sich dem ersten Prozesstag Ende September 2021 durch Flucht entzogen hatte und im Anschluss mehrere Tage in Untersuchungshaft kam. „Ihr ist aber anzurechnen, dass sie sich nach dem Nichterscheinen zu Beginn dem Verfahren gestellt hat, dass sie sich nicht in eine Verhandlungsunfähigkeit geflüchtet hat.“ Dass die 97-Jährige in dem Mammutverfahren die Aussage verweigert hat, sei ihr nicht negativ anzurechnen. Wantzen: „Es ist das gute Recht eines jeden Angeklagten zu schweigen.“

Die Ereignisse im KZ Stutthof bei Danzig, in dem die Angeklagte vom 1. Juni 1943 bis zum 1. April 1945 als Stenotypistin des Lagerkommandanten Paul Werner Hoppe gearbeitet haben soll, hätten sich vor mehr als zwei Generationen ereignet. Die Gräueltaten, die sich dort abgespielt hätten, würden jegliches menschliches Vorstellungsvermögen sprengen. Daher ist es laut Wantzen „wichtig, heute solche Prozesse zu führen“, auch wenn nicht wieder gut gemacht werden könne, „was die Justiz über Jahrzehnte versäumt hat“.

Arbeit der Angeklagten „von essenzieller Bedeutung“

Erst 2016 habe der Bundesgerichtshof im Fall des ehemaligen SS-Manns Oskar Gröning höchstrichterlich entschieden, dass auch Gehilfen des Massenmords belangt werden können. Irmgard F. sei als Stenotypistin direkt dem Lagerkommandanten unterstellt gewesen, sie habe eine herausgehobene Position in der Kommandantur innegehabt, die vor ihr von SS-Männern ausgefüllt worden sei. Sie müsse zur Zufriedenheit Hoppes gearbeitet haben, weil sie von ihrem Dienstbeginn bis zur Auflösung des Lagers vor den herannahenden Truppen der Alliierten ununterbrochen dort tätig gewesen sei.

Irmgard F. habe laut Historiker Hördler, dessen Erkenntnisse die Anklage wesentlich stützen würden, die Freigabe für alle Geheimhaltungsstufen besessen. Zwar habe nicht festgestellt werden können, was die Angeklagte genau abgetippt habe, weil es kein Namenskürzel von ihr auf den Unterlagen gebe und sie keine Zeichnungsbefugnis besaß. Dennoch sei es ausgeschlossen, dass die heute 97-Jährige nur für Schreiben zuständig war, die keinen direkten Bezug zum KZ-Betrieb hatten.

Die Tötungsmaschinerie sei detailliert verwaltungstechnisch abgebildet worden – und die von Irmgard F. erledigte Arbeit habe daher für die Aufrechterhaltung des Lagerbetriebes gesorgt, sie sei von „essenzieller Bedeutung für die Erfüllung der menschenverachtenden Ziele“ gewesen. Die beiden Lagerbereiche, in denen die Gefangenen zusammengepfercht waren, habe die Angeklagte vermutlich nie betreten. „Das Betreten ist nicht erforderlich, um Kenntnis von den dortigen Geschehnissen zu erlangen“, so Wantzen.

KZ-Prozess: Wie viel wusste die Angeklagte wirklich?

Irmgard F. habe vom Fenster ihres Dienstzimmers im ersten Stock der Kommandantur große Teile der Lager einsehen können. „Die Vielzahl der Toten ab Herbst 1944 kann ihr nicht entgangen sein.“ Zumal sei es vollkommen lebensfremd, anzunehmen, dass es nicht unter den Bediensteten zu Gesprächen über die Vorgänge in dem KZ gekommen ist. Frühere Vernehmungen von Zivilangestellten hätten gezeigt, dass dies der Fall war.

Im KZ Stutthof seien ab Sommer 1944 Gefangene mit Zyklon B in einer Gaskammer sowie einem umgerüsteten Eisenbahnwaggon getötet worden, andere Insassen starben in einer Genickschussanlage oder seien an den unmenschlichen Bedingungen zugrunde gegangen. In der Dienstzeit von Irmgard F., die ihre dortige Anstellung jederzeit hätte beenden können, seien mindestens 300 Häftlinge in der Genickschussanlage, 1076 in der Gaskammer und 9108 durch die absichtlich herbeigeführten unmenschlichen Bedingungen gestorben.

KZ-Prozess: Urteil wird am 20. Dezember erwartet

Die Angeklagte habe trotz ihres damals jungen Alters „erkennen können, dass die Behandlung der Gefangenen gegen die menschliche Würde verstößt“. Sie habe rechtlich gesehen Beihilfe zum Massenmord geleistet. Ihr Dienstantritt lag drei Tage nach ihrem 18. Geburtstag, zum Ende ihrer Dienstzeit sei sie 19 Jahre alt gewesen, daher komme das Jugendstrafrecht zur Anwendung. Einen gerechten Schuldausgleich für diese beispiellosen Verbrechen gegen die Menschlichkeit könne es nicht geben, die Strafe habe nur symbolische Bedeutung. Wantzen forderte für Irmgard F. eine Jugendstrafe von zwei Jahren, ausgesetzt zur Bewährung.

Verteidiger Wolf Molkentin machte in einem Interview deutlich, eine „andere Schlussfolgerung“ ziehen zu wollen als die Staatsanwältin. Sein Plädoyer steht am Ende des Prozesses. Zunächst haben die Anwälte der Nebenklage das Wort. Ein Urteil wird am 20. Dezember erwartet.