Itzehoe/Quickborn. Ein Ablehnungsgesuch soll die Verurteilung der 97-jährigen Angeklagten verhindern. Die Staatsanwältin weist den Vorwurf zurück.

Mithilfe eines Ablehnungsgesuches gegen den historischen Sachverständigen hat die Verteidigung der ehemaligen KZ-Sekretärin Irmgard F. am Montag in letzter Minute versucht, die drohende Verurteilung der in Quickborn lebenden 97-jährigen Frau zu verhindern. Verteidiger Wolf Molkentin warf dem Historiker Stefan Hördler Befangenheit vor.

Er sei aus Sicht der Verteidigung in einer „problematischen Doppelrolle als Gutachter und Ermittler tätig gewesen“ und es bestehe daher die Besorgnis, dass der Professor der Universität Göttingen der Angeklagten gegenüber nicht unvoreingenommen sei. Zur Begründung dieser These führte der Rechtsanwalt Aktennotizen von Telefongesprächen an, die Hördler noch während des Ermittlungsverfahrens mit Staatsanwältin Maxi Wantzen geführt hatte.

KZ-Prozess: Historiker soll Lücken schließen

Darin habe sich der Sachverständige bereits zu diesem frühen Zeitpunkt festgelegt, dass Irmgard F. als Sekretärin des Stutthof-Kommandanten Paul Werner Hoppe „den gleichen Kenntnisstand wie der Lagerkommandant hatte“ und aufgrund ihrer Funktion „an der Schnittstelle der Kommandantur“ zum „engsten Kreis der Geheimnisträger“ gehört habe. Er habe zudem eine Parallele zum KZ Auschwitz gezogen, wo Zivilangestellte eigenständig das Umsetzen von Befehlen im Lager organisiert hätten.

Diese Angaben hätten vor Fertigstellung des Gutachtens Aufnahme in die Anklageschrift gefunden und seien von Hördler während des Prozesses auch wiederholt worden – mit Ausnahme des letzten Punktes. Der Verteidigung sei zudem aufgefallen, dass Hördler während seiner Ausführungen belastende Fakten hervorgehoben und entlastendes Material eher nebensächlich behandelt habe.

Der historische Sachverständige sei von der Staatsanwaltschaft mit Ermittlungsaufgaben betraut worden, habe „Lücken schließen und belastendes Material heranschaffen müssen“, was nicht seine Aufgabe gewesen wäre.

Historiker Stefan Hördler, hier im Jahr 2020, wird von der Verteidigung als befangen abgelehnt.
Historiker Stefan Hördler, hier im Jahr 2020, wird von der Verteidigung als befangen abgelehnt. © dpa | Georg Wendt

Nebenklagevertreter Christoph Rückel hielt Molkentin entgegen, Historiker seien nun einmal auf Quellen angewiesen. Deren Auswertung sei keine staatsanwaltschaftliche Ermittlung, sondern wissenschaftliches Arbeiten. Auch die Staatsanwältin Maxi Wantzen wies den Antrag als „unbegründet und nicht nachvollziehbar“ zurück.

Entscheidung über Ablehnung fällt am Dienstag

Der Vorsitzende Richter Dominik Groß kündigte eine Entscheidung über diesen Antrag für den heutigen Dienstag an. Sollte die Kammer den Antrag ablehnen und sollten keine weiteren Beweis- oder Befangenheitsanträge gestellt werden, könnte die Staatsanwaltschaft an diesem 37. Prozesstag ihr Plädoyer halten. Bis zum 20. Dezember sind noch fünf weitere Verhandlungstermine angesetzt.

Die Jugendkammer wies am Montag weitere Anträge ab. Dabei ging es erneut um den historischen Sachverständigen und dessen Rolle beim Besuch des früheren Konzentrationslagers. Hördler hatte Anfang des Monats zwei Richter, die Staatsanwältin und mehrere Nebenkläger über das Gelände der heutigen Gedenkstätte nahe Danzig geführt. Die Verteidigung stellte die Unbefangenheit des Gutachters dabei in Frage, die Nebenklage wollte diese Bedenken durch eine erneute Ladung des Historikers ausräumen.

Ein Bild aus dem Gerichtssaal: links die Angeklagte mit ihren Verteidigern, in der Mitte die Richter und Schöffen, rechts die Staatsanwältin und ein Vertreter der Nebenklage.
Ein Bild aus dem Gerichtssaal: links die Angeklagte mit ihren Verteidigern, in der Mitte die Richter und Schöffen, rechts die Staatsanwältin und ein Vertreter der Nebenklage. © dpa | Marcus Brandt

Außerdem verlas Groß die letzte schriftliche Zeugenaussage einer Stutthof-Überlebenden – und zwar von Marga Griesbach, die ihre schrecklichen Erlebnisse während des Nationalsozialismus unter dem Titel "Ich kann immer noch das Elend spüren““ 2009 in den USA als Buch veröffentlicht hat. Sie stammt aus der Kleinstadt Witzenhausen in Nordhessen, wo sie 1927 geboren wurde. Dort erlebte sie im November 1938 die Reichskristallnacht und den immer stärker werdenden Hass auf die jüdische Bevölkerung, der immer öfter in Übergriffen gipfelte. „Man warf Steine nach uns und hat uns geschlagen. Ich wurde dann wütend und schlug zurück“, berichtete sie in der Aussage von ihrer Schulzeit.

KZ-Überlebende: „Wir waren immer hungrig, durstig, schmutzig“

Im Dezember 1941 endete ihre Schulzeit mit der Deportation der vierköpfigen Familie in das Ghetto im lettischen Riga. „Wir wurden in Eisenbahnwaggons zusammengepfercht und fuhren fünf Tage lang ohne Nahrung und Wasser ostwärts.“ Am 6. August 1944, einen Tag nach ihrem 17. Geburtstag, seien im Ghetto dann die Namen ihrer Familie aufgerufen worden. Sie seien per Zug und Schiff nach Danzig gebracht und dort auf Lastkähne geschickt worden, die sie in die Nähe von Stutthof gebracht hätten.

„Mir ist am Eingang des Lagers ein riesiger Berg Schuhe in Erinnerung geblieben.“ Männer und Frauen seien nach der Ankunft getrennt worden, sie und ihre Mutter wären nach zwei Nächten im Freien in eine Baracke gekommen. „Da lebten 1000 Menschen, ein Loch im Boden war die Latrine. Wir schliefen auf dem kalten Boden, hatten kein Wasser.“

Morgens habe es eine braune Brühe, mittags eine Art Suppe, abends altes Brot gegeben. „Wir waren immer hungrig, durstig, schmutzig.“ Täglich seien Frauen in der völlig überbelegten Baracke gestorben, die Toten und die Kranken seien weggetragen worden. „Wir haben später erfahren, dass die Kranken in die Gaskammer kamen“, so die Überlebende.

Ihr Bruder sei im September 1944 im Alter von elf Jahren nach Auschwitz deportiert und sofort vergast worden. Ihr Vater sei im November 1944 in einem anderen KZ erschossen worden. Sie und ihre Mutter hätten sich zu einem Arbeitskommando gemeldet, für die Deutsche Reichsbahn Eisenbahnschienen repariert und neue verlegt. „Das war härteste körperliche Arbeit, es ist mir im Nachhinein schleierhaft, wie ich das überlebt habe.“ Die Unterbringung sei in einem Außenlager des KZ Stutthof erfolgt, es habe „gerade genug zu essen gegeben, um uns am Leben zu erhalten.“

Marga Griesbach und ihre Mutter, die 1991 im Alter von fast 93 Jahren verstarb, überlebten in der Folge einen Todesmarsch, der sie zurück bis auf deutsches Territorium führte. „Ich bin überzeugt, dass die Deutschen jeden von uns Juden ermordet hätten, wenn sie etwas mehr Zeit gehabt hätten.“