Quickborn/Itzehoe. Beim Besuch im KZ Stutthof wollte das Gericht klären, was die Angeklagte wissen konnte. Doch das Ergebnis sorgt für Streit.

Sie waren da. In Stutthof. Am vergangenen Freitag haben zwei Richter, Staatsanwältin Maxi Wantzen, Verteidiger Wolf Molkentin und mehrere Anwälte der Nebenklage das einstige Konzentrationslager Stutthof bei Danzig besucht, das heute als Gedenkstätte dient. Welchen Erkenntnisgewinn die Visite für das seit September 2021 andauernde Verfahren gegen die ehemalige KZ-Sekretärin Irmgard F. (97) aus Quickborn hat, darüber wurde Dienstag, am 34. Verhandlungstag vor dem Landgericht Itzehoe, erbittert gestritten.

Stutthof-Prozess: Gericht besucht KZ-Gedenkstätte in Polen

Der Vorsitzende Richter Dominik Groß verlas ein zehnseitiges Protokoll der „Inaugenscheinnahme“, wie der Besuch im Juristendeutsch heißt. Die Delegation hat sich zunächst Teile des Kommandanturgebäudes angesehen, in dem Irmgard F. von Juni 1943 bis April 1945 für den KZ-Kommandanten Paul Werner Hoppe als Zivilangestellte gearbeitet haben soll. Von Interesse war besonders der Arbeitsplatz von Irmgard F. im Geschäftszimmer und die Frage, was die heute 97-Jährige aus den Fenstern vom Lager sehen konnte.

Genau beantworten lässt sich die Frage nicht. So ist fast 80 Jahre später unklar, in welchem Raum sich genau das Geschäftszimmer befand. Drei Zimmer kommen in Frage. Sicher ist nur, dass sie als Büro des Lagerkommandanten, seines Adjutanten und der Geschäftszimmer-Mitarbeiter dienten. Eine genaue Zuordnung könnte wohl nur die Angeklagte liefern, die in dem Prozess die Aussage verweigert.

Die Besucher haben sich alle drei Räume angesehen, auch Fotos gemacht. Vom vermuteten Geschäftszimmer aus ist der Weg zum Lagertor und die Gärtnerei erkennbar. Dahinter, in einiger Entfernung, liegen Teile des Neuen Lagers, auch Judenlager genannt. Aus dem vermutlich vom Kommandanten genutzten Raum ist der Blick ähnlich. Das dritte Zimmer bietet auch einen Ausblick auf das Gebäude der sogenannten politischen Abteilung.

Irmgard F. (97) wird am Dienstag in den Gerichtssaal geschoben.
Irmgard F. (97) wird am Dienstag in den Gerichtssaal geschoben. © dpa | Marcus Brandt

Konnte die Angeklagte das Grauen im KZ vom Arbeitsplatz aus sehen?

Auch einen damaligen Magazinraum hat die Delegation besichtigt, der einen Blick auf das sogenannte alte Lager, das Krematorium und die Gaskammer bietet. Einen Schlafraum im Erdgeschoss, den die Angeklagte eventuell genutzt hat, blickt direkt auf die Baracke der politischen Abteilung. Außerdem haben sich die Besucher aus Deutschland auch die Gaskammer, das Krematorium, Teile der Lagerbereiche und eine Stelle angesehen, an der Leichen verbrannt wurden.

Groß sprach von „Sichtachsen“. So würden sich etwa von einem zentralen Platz, an dem die Neuankömmlinge der Massentransporte auf ihre Arbeitsfähigkeit hin selektiert wurden, die Fenster der drei Kommandanturräume im Blickfeld befinden. An diesem Ort seien auch diverse Fluchtversuche gewaltsam beendet worden.

„Die Angeklagte hatte wesentliche Teile des nicht unmäßig großen Lagers im Blick“, folgerte der Nebenklage-Anwalt Christoph Rückel. Auch auf dem Arbeitsweg in die Kommandantur müsse sie ankommende Gefangene gesehen haben. „Das ist eindeutig unter Beweis gestellt.“ Der Besuch von Teilen des Gerichtes in Stutthof sei laut Rückel auch deshalb von großer Bedeutung, weil sich bisher noch kein anderes deutsches Gericht dort umgesehen habe.

Stutthof-Prozess: Verteidiger kritisiert Rolle des Sachverständigen

Verteidiger Wolf Molkentin zieht völlig andere Schlüsse aus der Visite. Seine Mandantin habe „mitnichten alle wesentliche Bereiche des Lagers im Blick gehabt“. Der Ausblick beschränke sich auf Teile des Neuen Lagers, davor habe ein Gewächshaus gestanden. Das Lager selbst habe in „durchaus weiter Entfernung“ gelegen. Krematorium und Gaskammer habe sie nicht sehen können. Und ob seine Mandantin besagten Magazinraum jemals betreten habe, „dafür habe wir überhaupt keine Anhaltspunkte.“

Molkentin hatte zuvor vergeblich versucht, die Verlesung des Besuchsprotokolls zu verhindern. Seiner Meinung nach sei vor Ort eine Hauptverhandlung abgehalten worden – jedoch ohne Teile des Gerichtes, ohne die Angeklagte und ohne Öffentlichkeit. Zudem übte der Verteidiger erneut Kritik an der Rolle des historischen Sachverständigen Stefan Hördler, der bei dem Ortstermin ebenfalls dabei war. Sein Auftritt habe „unsere Bedenken gegen die Rolle des Sachverständigen verstärkt“. Er habe weit über diese Rolle hinaus agiert. Die Verteidigung hatte Hördler bereits mehrfach vorgeworfen, für die Angeklagte entlastende Aspekte nicht zu erwähnen.

Das Gericht sah – anders als der Verteidiger – keine rechtlichen Bedenken. Jetzt will Molkentin versuchen, die Verwertbarkeit dieses Protokolls anzugreifen, damit ein eventueller Schuldspruch nicht auf den Ortsbesuch gestützt werden kann.

Stutthof-Prozess: Beweisaufnahme soll im November abgeschlossen werden

Richter Groß kündigte den Abschluss der Beweisaufnahme für den nächsten Termin am 15. November an. Dann sollen noch Aussagen von zwei weiteren Nebenklägern verlesen werden, die nicht persönlich oder per Videoschalte vor Gericht erscheinen können. Zwei weitere schriftliche Aussagen verlas Groß bereits am Dienstag – von Jack Mandelbaum, der seinen Vater in Stutthof verlor, und Phillip Maisel, der selbst vom 23. August bis 29. September 1944 in Stutthof inhaftiert war, ehe er in das KZ Natzweiler verlegt wurde. Er sprach von „erbärmlichen Lebensbedingungen, unvorstellbarem Hunger“, fehlender Hygiene und medizinischer Versorgung. Der Tod sei dort täglich allgegenwärtig gewesen.

Ob Irmgard F. dafür strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden kann, will die Jugendkammer – die Angeklagte war zur Tatzeit heranwachsend – im Dezember oder im Januar entscheiden. Die Staatsanwaltschaft wirft der 97-Jährigen, die inzwischen in einem Altersheim in Quickborn lebt, vor, mit ihrer Tätigkeit Beihilfe zum systematischen Mord an mehr als 11.000 Gefangenen geleistet zu haben.

Nach dem Zeitplan könnte am 21. November das Plädoyer der Staatsanwältin beginnen. Nach ihr haben die 15 Anwälte der Nebenklage das Wort, ehe die beiden Verteidiger plädieren. Auch ein Bericht der Jugendgerichtshilfe muss laut Strafprozessordnung noch erfolgen.