Itzehoe. Sozialpädagoge hält Entwicklungsverzögerungen für möglich. Ein persönliches Gespräch lehnte die Angeklagte jedoch ab.

Sollte Irmgard F. der Beihilfe zum Mord schuldig gesprochen werden, dürfte das Jugendstrafrecht zur Anwendung kommen. Das hat am Dienstag, am 35. Verhandlungstag im KZ-Stutthof-Prozess, der Vertreter der Jugendgerichtshilfe vorgeschlagen. Die 97 Jahre alte Angeklagte, die in einem Quickborner Altenheim wohnt, war zu Beginn der ihr vorgeworfenen Taten im Jahr 1943 erst 18 Jahre alt.

„Betrachtet man die Gesellschaft zur damaligen Zeit, ist nicht auszuschließen, das Entwicklungs- und Reifeverzögerungen vorlagen“, so Sozialpädagoge Josef Lux. Der Bericht der Jugendgerichtshilfe erfolgt bei Jugendverfahren kurz vor Ende der Beweisaufnahme. In der Regel wird darin über den Werdegang des Angeklagten berichtet und Vorschläge zur Art und Höhe der Strafe gemacht, wobei im Jugendstrafrecht der Erziehungsgedanke im Vordergrund steht.

Zu letzteren Punkten äußerte sich Lux nicht. Er habe mehrfach versucht, für ein persönliches Gespräch Kontakt zu Irmgard F. aufzunehmen, dies sei jedoch von der Verteidigung abgeblockt worden. Verteidiger Wolf Molkentin bekräftigte in diesem Zusammenhang, dass sich seine Mandantin – Irmgard F. hat bisher geschwiegen – nicht einmal zu den persönlichen Verhältnissen äußern werde.

Stutthof-Prozess: Beihilfe zum Mord an 11.000 Gefangenen?

Die heute 97-Jährige soll von Juni 1943 bis April 1945 als Zivilangestellte in der Kommandantur des Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig gearbeitet haben. Die Staatsanwaltschaft wirft ihr vor, durch ihre Schreibarbeit Beihilfe zum systematischen Mord an mehr als 11.000 Gefangenen geleistet zu haben.

Der Ende September vorigen Jahres begonnene Mammutprozess befindet sich inzwischen auf der Zielgeraden. Das Urteil soll laut dem Zeitplan des Vorsitzenden Richters Christian Groß am 20. Dezember fallen. Die ersten Plädoyers wären nach Abschluss der Beweisaufnahme in der nächsten Woche möglich.

Der Zeitplan könnte allerdings noch durcheinander gewirbelt werden. Nebenklagevertreter Markus Horstmann hat Beweisanträge gestellt, will medizinische Sachverständigengutachten erstellen lassen. Sie sollen die Qualen dokumentieren, die bei der Tötung mit dem Giftgas Zyklon B sowie bei einem langsamen Verhungern entstehen.

Außerdem möchte Horstmann den historischen Sachverständigen Stefan Hördler zu seinen Aussagen befragen, die dieser am 4. November während eines nicht öffentlichen Besichtigungstermins im KZ Stutthof gemacht hatte.

Stutthof-Prozess mit mehreren Nebenklägerinnen

Auf den Sachverständigen hat sich auch Verteidiger Wolf Molkentin eingeschossen. Er warf Hördler vor, sich bereits zu einem frühen Stadium seiner Beauftragung auf die Schuld seiner Mandantin festgelegt zu haben und will eine Passage aus den Ermittlungsakten in das Verfahren einführen, die ein Telefongespräch von Staatsanwältin Maxi Wantzen mit dem Sachverständigen dokumentiert.

Sollten die Richter dem Wunsch nicht nachkommen, droht Molkentin mit einem Ablehnungsantrag gegen den Sachverständigen.

Am Dienstag verlas Richter Groß noch die schriftlichen Aussagen von mehreren Nebenklägerinnen. Mina F. war von Juli 1944 bis Mai 1945 in Stutthof inhaftiert, hat das KZ gemeinsam mit ihrer Mutter und zwei Schwestern überlebt. Ihr Vater wurde dort ermordet, eine weitere Schwester starb in einem anderen KZ.

Stutthof-Prozess: Bei Krankheit Gaskammer

Fania B. hatte sich einer Widerstandsgruppe angeschlossen, ihre Schwester wurde zwischen Ende 1944 und Anfang 1945 in Stutthof getötet. Marian K. kam Ende Juni 1944 von Auschwitz nach Stutthof, wo sie mit hohem Fieber auf die Krankenstation gebracht wurde. Sie verdankt ihren Angaben nach einem Zufall ihr Leben: Sie wurde bei der Räumung der Krankenstation übersehen. Später erfuhr sie, dass alle Insassen getötet worden waren.

Kurz vor der Befreiung von Stutthof wurde sie auf einen sogenannten Todesmarsch geschickt und mit Tausenden Gefangenen auf einem Schiff zusammengepfercht, das sie nach Neustadt brachte. Dort erlebte sie das Kriegsende.

Rita P. kam im Mai 1944 nach Stutthof. „Es gab keine medizinische Versorgung. Wer krank war, kam in die Gaskammer“, heißt es in ihrer Aussage. Ihre Schwester habe 25 Peitschenhiebe erhalten, weil sie heimlich aus dem Fenster der Baracke geklettert sei.