Itzehoe . “Die Leute waren hungrig.“ Erschreckende Aussagen einer Stutthof-Überlebenden im Prozess gegen ehemalige Sekretärin im KZ.
Der Appell – er blieb ohne Reaktion. Gleich drei Vertreter der Nebenklage forderten am Dienstag die Angeklagte Irmgard F. (97) aus Quickborn auf, endlich ihr Schweigen zu brechen. Doch die einstige Sekretärin des Lagerkommandanten im KZ Stutthof, angeklagt wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen, blieb stumm, zeigte keine Reaktion. Zuvor hatte die Holocaust-Überlebende Risa Silbert (93) eindrucksvoll geschildert, wie es ihr und ihrer Familie in Stutthof ergangen war.
Die Jüdin, die inzwischen in Australien lebt und von dort per Video zugeschaltet war, wurde mit ihrer Familie im August 1944 aus Estland in das KZ deportiert. Zuvor lebte die fünfköpfige Familie im Memelgebiet. „Ich hatte eine glückliche Kindheit, bis die Deutschen kamen“, so die Zeugin. Als Juden hätten sie und ihre Geschwister sofort die deutsche Schule verlassen müssen, ihr Vater und ihr Bruder (17) seien am 25. Juni 1941 als Kollaborateure festgenommen und getötet worden.
Stutthof-Prozess: Überlebende berichtet von Kannibalismus im KZ
"Stutthof war die reine Hölle, von Anfang bis Ende“, so die 93-Jährige, die im Alter von 15 Jahren dorthin kam und zunächst von Mutter und Schwester getrennt wurde. Erst später sei es ihr gelungen, zu ihnen in die Baracke zu kommen. „Sie hatten für mich bereits ein jüdisches Totengebet gesprochen.“ Sie habe die Häftlingsnummer 71276 erhalten, ihre Schwester die 42027. Täglich seien Frauen und Mädchen aus ihrer Baracke geholt worden und nie wieder aufgetaucht. „Meine Schwester und ich haben uns zwischen den Toten versteckt“ – mit diesem Trick hätten sie versucht, dem Tod zu entgehen.
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Täglich hätten die Insassen zwischen 4 und 5 Uhr morgens aufstehen und stundenlang beim Appell still stehen müssen. „Wer sich bewegte, wurde von SS-Frauen mit einer Peitsche geschlagen.“ Die Aufseherinnen hätten warme Kleidung angehabt, die Häftlinge bitterlich gefroren. Die Bilder der Aufseherinnen hätten sie ihr ganzes Leben nicht verlassen. „Ich hätte niemals geglaubt, dass sich Frauen so verhalten können.“ Außer den Schlägen sei der Hunger schlimm gewesen, sie habe schreckliche Schmerzen gelitten.
Stutthof-Prozess: „Ich wurde mit einem Stock geschlagen, der Arm war offen“
Risa Silbert berichtete auch von Fällen von Kannibalismus in Stutthof. Häftlinge hätten die herumliegenden Leichen aufgeschnitten, um die Leber herauszunehmen und zu essen. „Das war eine tägliche Sache.“ Ende 1944 sei dann eine Typhus-Epidemie ausgebrochen. „Da brauchten die das Krematorium nicht mehr, mussten die Leute nicht wegbringen, die sind auch so gestorben.“ Sie und ihre Schwester seien auch an Typhus erkrankt, hätten überlebt. Ihre Mutter habe es nicht geschafft, sei am 25. Januar 1945 mit Mitte 40 daran gestorben. „Die Leichen wurden aufeinander gestapelt und verbrannt.“
Sie habe täglich im Lager arbeiten, schwere Dinge ziehen oder tragen müssen. „Ich wurde mit einem Stock geschlagen, der Arm war offen.“ Sie habe dort eine Narbe und einen schlimmen Rücken zurückbehalten. Im April 1945 seien die Gefangenen nach Danzig gebracht, im Laderaum eines Schleppkahns eingepfercht und nach Neustadt in Holstein gebracht worden. Dort wurden sie am 3. Mai 1945 von Engländern befreit.
Appell an die Angeklagte: Schweigen brechen!
Auf Nachfrage eines Opferanwalts gab Risa Silbert der Angeklagten mit auf den Weg, dass sie sich „schuldig bekennen“ sollte. „Wenn sie als Sekretärin des Kommandanten gearbeitet hat, dann wusste sie alles.“ Wenn Irmgard F. das Gegenteil behaupte, „dann bin ich nicht bereit, so etwas zu akzeptieren. Sie wusste es, ganz sicher.“ Laut der Zeitzeugin sei es „wichtig, dass die Welt weiß, was uns passiert ist.“ Es dürfe heute keinen Antisemitismus mehr geben.
Im Anschluss forderten die Opferanwälte Stefan Lode, Christoph Rückel und Onur Özata die Angeklagte auf, sich über ihre Zeit in Stutthof zu äußern. „Die Angeklagte ist auch Zeitzeugin des Holocaust, sie war unbestreitbar Teil der Verwaltung eines KZ“, so Stefan Lode. Sie müsse sich ihrer Verantwortung stellen und darüber sprechen. „Mit ihrem Schweigen wird sie ihrer Verantwortung nicht gerecht.“ Doch Irmgard F. blieb stumm, ihre Verteidiger wollen später dazu Stellung nehmen.