Quickborn/Itzehoe. Im Prozess vor dem Landgericht Itzehoe ging der Sachverständige erneut der Frage nach, was Irmgard F. von dem Massenmord wusste.
Sie gähnte. Und das gleich mehrmals. Weitere Reaktionen waren Irmgard F. (97) nicht anzusehen. Dabei war das, was Stefan Hoerdler am Donnerstag im KZ-Prozess vor dem Landgericht Itzehoe berichtete, harter Tobak. Der historische Sachverständige befasste sich mit dem Massenmord im KZ Stutthof – zu dem die Quickbornerin laut Anklage Beihilfe geleistet haben soll.
Hoerdlers Ausführungen betrafen insbesondere das Jahr 1944, in dem die Quickbornerin als Schreibkraft für den Lagerkommandanten Paul Werner Hoppe tätig war. Das Jahr, in dem Stutthof laut Hoerdler eine Todesrate von mehr als 200 Häftlingen pro Tag erreichte. „Es war das erste Lager, das eine derartige Sterberate pro Tag erzielte“, so der Sachverständige.
Stutthof-Prozess: Was wusste die Angeklagte Irmgard F.?
Stutthof sei zu dieser Zeit eine Art „Experimentierfeld im Umgang mit dem Massensterben gewesen“, ihm sei „eine Schlüsselfunktion zugekommen“. Bereits ab Sommer 1941 seien Giftinjektionen ins Herz, das sogenannte Abspritzen, und Erschießungen von Häftlingen erfolgt.
Im Sommer 1944, als immer mehr Transporte mit Häftlingen eintrafen, das KZ völlig überfüllt und die Bedingungen für die Häftlinge miserabel waren, sei es zu einer „additiven Zuführung von Mordtechniken“ gekommen. Eine Gaskammer sowie eine Genickschussanlage seien hinzugekommen. „In der Registratur starben die Menschen im Fünf-Minuten-Takt.“
KZ Stutthof: Gefangene wurden in mobilen Gaskammern umgebracht
Hoerdler listete Transporte von russischen Kriegsgefangenen auf, die gemeinsam im Lager ankamen und wenige Tage später alle gemeinsam in der Gaskammer starben. Dabei gingen die SS-Aufseher laut Augenzeugenberichten perfide vor. Die zur Tötung vorgesehenen Menschen wurden in Eisenbahnwaggons gesetzt, weil sie angeblich verlegt werden sollten.
Dann kamen SS-Männer, schimpften über den unpünktlichen Lokführer und führten die Häftlinge in einen angeblichen Warteraum. Waren alle dort drin, wurden die Türen verschlossen und das Gas über das Dach eingeleitet. Später seien auch die Waggons der Kleinbahn in eine mobile Gaskammer umfunktioniert worden.
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Dabei hätten Gaskammer, Genickschussanlage und Krematorium eine räumliche Einheit gebildet, um die Mordmaschinerie möglichst zu vereinfachen. Ihr fielen russische Kriegsgefangene, polnische Partisanen und Widerstandskämpfer, aber vor allem jüdische Frauen zum Opfer.
Bis September 1944 seien sogenannte Vernichtungstransporte von alten, kranken und arbeitsunfähigen Personen nach Auschwitz nachweisbar – nach der SS-Ideologie, so Hoerdler, sei dies ein Gnadentod gewesen. Im Anschluss – in Auschwitz wurde das Morden im November 1944 eingestellt – musste Stutthof eine eigene Tötungsmaschinerie vorhalten. Und die habe auch funktioniert.
Wusste die Angeklagte, dass zwei SS-Leute 50 Kilo Zyklon B aus Oranienburg holten
Doch was wusste die Angeklagte darüber, die im Kommandanturstab als Zivilangestellte tätig war? Hoerdler führte mehrere Kommandanturbefehle aus dieser Zeit auf, die vom Lagerkommandanten stammten und möglicherweise von Irmgard F. verschriftlich worden sind. So wird erwähnt, dass zwei SS-Leute am 15. Juni 1944 mit dem Zug nach Oranienburg reisten, um 50 Kilogramm Zyklon B abzuholen.
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Zudem sei im selben Befehl aufgeführt, dass ein SS-Verantwortlicher vom 13. Juni bis 19. Juli 1944 ebenfalls nach Oranienburg zur Desinfektorenschule abkommandiert war, um dort den Umgang mit Giftgas zu erlernen. Nach seiner Rückkehr hätten in Stutthof erste Probevergasungen stattgefunden. Die Beschaffung der dazu notwendigen Materialien wie Gas, Kittel und Schutzmasken sei über das Geschäftszimmer der Kommandantur, also dem Arbeitsplatz von Irmgard F., gelaufen. Auch in den Fernschreiben sei die Vergasung von Juden erörtert worden.
KZ-Prozess: Angeklagte schweigt zu den Vorwürfen
Die Angeklagte, die sich in dem seit September 2021 laufenden Prozess noch nicht zu den Vorwürfen geäußert hat, verzieht zu den Ausführungen keine Miene. Inzwischen hat das Gericht zusätzliche Termine bis zum 29. November angesetzt. Als nächstes werden zwei Zeitzeugen gehört, dann ist wieder der historische Sachverständige an der Reihe. Der verriet am Donnerstag auch, dass spätestens im Dezember 1944 das systematische Morden in Stutthof aufhörte.
Zu diesem Zeitpunkt brach in dem Lager eine Fleckfieberepidemie aus, sodass am 29. Dezember 1944 der Kommandant eine Lagersperre anordnete. Alle Insassen durften das KZ nicht mehr verlassen, auch das Personal musste im Lager bleiben. Neue Transporte nach Stutthof gab es keine mehr. Und weil täglich Hunderte am Fleckfieber starben, waren keine Vergasungen mehr erforderlich. „Die Leute starben ohnehin von selbst“, so Hoerdler. Aufgrund der enormen Todesrate habe die Kapazität des Krematoriums nicht mehr ausgereicht, die Leichen seien einfach auf Scheiterhaufen verbrannt worden.