Itzehoe. Irmgard F. muss sich wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen verantworten. Ein Zeuge berichtet vor Gericht Schockierendes.
77 Jahre liegt es zurück, dass Marek Dunin-Wasowicz die Grauen des Konzentrationslagers Stutthof durchleben musste. Doch auch diese lange Zeit hat die Erinnerungen an die Qualen nicht mildern können. „In meinem Herzen, in meinem Kopf, in meiner Seele gibt es das Lager immer noch“, sagt der 96-Jährige. „Ich weiß, was Angst ist. Ich kenne die Bedeutung des Wortes Hunger.“ Einmal habe er zehn Tage ohne Essen auskommen müssen. Und jeden Tag, den er dort in diesem Lager eingesperrt war, habe er sich abends beim Schlafengehen gefragt, „ob ich am nächsten Tag noch lebe“.
Marek Dunin-Wasowicz ist es ein Anliegen, an diesem Tag im Prozess vor dem Landgericht Itzehoe auszusagen, in dem sich die 96 Jahre alte Irmgard F. wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen verantworten muss. Die Frau, die heute in einem Seniorenstift in Quickborn lebt, war seinerzeit Sekretärin des Konzentrationslagers Stutthof und damit auch Schreibkraft für den Lagerkommandanten Paul Werner Hoppe. Berührungspunkte hatten der Gefangene und die Sekretärin damals offenbar nicht. „Ich höre ihren Namen heute zum ersten Mal“, sagt der Zeuge. Doch er betrachte es „als Pflicht gegenüber den ermordeten Häftlingen“, von seinen Erlebnissen aus dem Lager zu erzählen, von der „Barbarei, die dort herrschte“.
Stutthof-Prozess: Zeuge per Video zugeschaltet
Eine Anreise zum Prozess würde den Senior zu sehr belasten. Deshalb ist Marek Dunin-Wasowicz für seine Zeugenaussage per Video aus seiner Heimat Warschau zugeschaltet. Mit unbewegtem Gesicht blickt die Angeklagte Irmgard F. in den Bildschirm, über den sie die Schilderungen des hageren Mannes verfolgen kann. Der 96-Jährige hat einen Gehstock dabei, aber seine Stimme ist noch kräftig, und seine Erinnerungen haben sich in sein Gedächtnis eingebrannt.
„Ich bin eines der Opfer von dem Lager“, erzählt er über das Lager Stutthof bei Danzig, in dem unter dem Regime der Nazis mindestens 65.000 Menschen umgekommen sind, durch Hunger, durch Erfrieren, durch unmenschliche Arbeitsbedingungen bis zur Erschöpfung. Viele sind auch ermordet worden, unter anderem in der Gaskammer oder durch Schüsse ins Genick.
Zeuge: "Eine Schicht Holz, eine Schicht Leichen, immer abwechselnd“
Marek Dunin-Wasowicz berichtet von Menschen, die geschlagen oder ausgepeitscht wurden. Diese Strafen seien vollkommen willkürlich gewesen. „Es musste keinen Grund geben.“ Auch während der Arbeit im Wald, wo er unter anderem Baumstämme schleppen musste, seien die Gefangenen oft traktiert worden. „Die Schläge fielen auf den am nächsten stehenden Häftling. Keiner kannte die Ursache dafür.“
Viele hätten irgendwann keine Kraft mehr zum Arbeiten gehabt und seien in Baracken eingeschlossen worden. „Ohne Essen und Trinken sind sie unter schwersten Leiden ums Leben gekommen“, übersetzt eine Dolmetscherin aus der Aussage des 96-Jährigen. Viele weitere seien bei den endlosen Appellen ums Leben gekommen, bei denen die geschwächten Gefangenen manchmal die ganze Nacht hätten stehen müssen.
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Die Toten seien verbrannt worden. Aus dem Krematorium habe man „jeden Tag den Gestank aus dem Schornstein“ bemerkt, erzählt der Zeuge. Im Lager sei erzählt worden, der Schornstein sei der „einzige Weg in die Freiheit“. Mitunter seien die Toten auch auf Scheiterhaufen verbrannt worden. „Es gab dann eine Schicht Holz, eine Schicht Leichen, immer abwechselnd.“ Ob er sagen würde, fragt der Anwalt eines der Nebenkläger im Prozess den Zeugen, dass jeder im Lager die Gerüche von verbrannten Leichen hätte mitbekommen müssen? „Ich bin überzeugt“, antwortet der Senior mit Nachdruck, „dass es so war.“
Krankheit "Gleichgültigkeit" im Konzentrationslager Stutthof
Im Lager habe er eine „Krankheit kennengelernt“, die den Gefangenen durch die Wächter „eingeimpft“ worden sei, erzählt der Zeuge weiter. „Die Krankheit war die Gleichgültigkeit.“ Als Beispiel nennt der Senior die Reaktion, wenn die geschundenen Inhaftierten hörten, dass gleich jemand am Galgen sterben werde. „Da hat man nur gesagt: Jetzt bekommen wir wieder kein Essen.“ Oder wenn er gesehen habe, wie ein Mitgefangener traktiert wurde, habe er gedacht: „Das bin noch nicht ich. Ich lebe noch.“
Ob er sich noch an Krankheiten oder eine Epidemie erinnere, möchte der Vorsitzende Richter von Marek Dunin-Wasowicz wissen. „Erinnern? Das ist zu wenig gesagt“, antwortet der Zeuge. Er spricht von Typhus und von Tuberkulose. Letztere habe er „sozusagen als Andenken mitgenommen“.
Stutthof-Prozess: Zeuge verbrachte zwei Jahre in Kliniken
Bei ihm sei fünf Jahre nach dem Krieg entdeckt worden, wie schwer er erkrankt ist. Zwei Jahre habe er in Kliniken verbringen müssen. Er habe heute nur einen Lungenflügel, der „einigermaßen arbeitet, der rechte Teil existiert nicht mehr. Aber ich lebe!“ Es sei ihm damals gelungen, bei einem der berüchtigten Totenmärsche, in denen die Gefangenen bei schwerstem Frost und hohem Schnee und praktisch ohne Essen tagelang laufen mussten, zu entkommen.
Er wünsche sich, betont der 96-Jährige, dass seine Erzählung „eine Warnung ist“, dass sich solche „mörderischen Handlungen niemals wiederholen“. Und doch gebe es wieder Krieg, sagt Marek Dunin-Wasowicz. „Ein starker Aggressor hat seinen Nachbarn überfallen.“ Was jetzt geschehe, warnt der Zeuge, ohne Russland ausdrücklich zu nennen, erinnere ihn an die ersten Tage des Weltkriegs. „Ich hoffe, dass meine Worte in ganz Europa und auf der ganzen Welt gehört werden.“