Otto Stock ist seit 60 Jahren Mitglied der SPD. Das Urgestein kann die Abspaltung von sechs Fraktionsmitgliedern nicht begreifen. Ein sehr persönlicher Blick auf das politische Erdbeben in Wedel.
Wedel Otto Stock kommt nicht so häufig raus. Der 86-Jährige ist krankheitsbedingt auf den Rollstuhl angewiesen. Der Fahrstuhl ist klein, der Flur zu seiner Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses in Wedel schmal. Der Rollstuhl passt gerade so hindurch. Mag Stock körperlich auch nicht mehr so beweglich sein - wenn es um die derzeitige Politik in seiner Heimatstadt geht, dann weckt das seine Lebensgeister. Das politische Erdbeben, das die Spaltung der SPD-Fraktion in Wedel hervorrief, erschütterte ihn bis ins Mark. Er ist empört, verletzt und zutiefst enttäuscht.
„Ich kann es nicht begreifen. Man bildet doch keine neue Partei, weil man anderer Meinung ist“, sagt der Rentner. Für ihn sind diejenigen, die vor zwei Monaten die Partei verließen und ihre Mandate mitnahmen Verräter, am Wähler und an der Partei. Stock ist einer der alten Garde, ein SPD-Urgestein. Seine politische Arbeit begann er in Hamburg-Harburg, im Bezirk von Herbert Wehner. 1962 zog es ihn beruflich nach Wedel. Seitdem war er hier politisch aktiv, übernahm verschiedene Funktionen und saß für die Sozialdemokraten lange im Stadtrat. Kürzlich wurde er für 60 Jahre Mitgliedschaft geehrt. Doch in seiner Ansprache konnte Stock nicht anders. Versöhnliche Töne kamen ihm nicht über die Lippen. Er musste seinem Frust Luft machen, sich zu denen äußern, für deren Entscheidung er keinerlei Verständnis hat. „Es treibt mir die Schamesröte ins Gesicht. Ich sag nur Pfui für diese Leute, die unsere Partei geschädigt haben“, sagte er.
Mit „diesen Leuten“ meint er seine ehemaligen Genossen Stadtpräsidentin Renate Palm, Ex-Fraktionschef Andreas Schnieber, sein Stellvertreter Stephan Bakan, Joachim Funck, Ingrid Paradies und Birgit Neumann-Rystow: Diese sechs namhaften SPD-Mitglieder, die sich nach Querelen um nicht gezahlte Parteiabgaben und Streit um die politische Ausrichtung von ihrer Partei lossagten und die Wedeler Soziale Initiative (WSI) gründeten. Das Verhältnis zu Teilen des SPD-Ortsvorstandes und der bestehenden Fraktion sei inhaltlich und menschlich erheblich gestört gewesen, erklärte WSI-Sprecher Funck damals den Schritt, der ihnen nicht leicht gefallen sei.
Die WSI hat ihren neuen Platz im Stadtrat neben der CDU lange gefunden. Doch Stock kommt nicht darüber hinweg. „Die Enttäuschung, die in mir sitzt, ist so groß“, sagt er und wirkt wie verloren auf seinem riesigen Sofa. Um zu verstehen warum ihm das so an die Nieren geht, muss man seine Geschichte kennen. Stock ist Jahrgang 1928, der Zweite Weltkrieg hat ihn geprägt. Das Gefühl von Furcht und Ohnmacht lernt er früh kennen. Als Junge muss er nach Angriffen in Hamburger Häusern nach Brandbomben suchen. 1944 muss er an die russische Front und gerät in Kriegsgefangenschaft. Ihm gelingt die Flucht. Um den Häschern zu entkommen, läuft er 500 Kilometer gen Osten. Nach 18 Monaten erreicht er Hamburg. Seitdem weiß er, was Freiheit bedeutet.
Was Gemeinschaft ist, lehrt ihn die Arbeiterwohlfahrt (Awo). 1953 tritt er dort ein, kurz darauf in die SPD. Mit Hanna Lucas, der verstorbenen Ehrenbürgerin der Stadt, baut er in Wedel einen der größten Ortsvereine in Schleswig-Holstein mit auf. Er übernimmt die Buchhaltung – ein ehrenamtlicher Vollzeitjob, wie er sagt. Während dieser Zeit baut die Awo in Wedel Kindergärten, ein Altenheim und ruft „Essen auf Rädern“ ins Leben. „Damals habe ich gelernt, dass das Wir zählt. Dieses Gemeinschaftsgefühl kann man sich gar nicht vorstellen“, erinnert sich Stock. Aus seiner Sicht lässt sich nur als geschlossene Gemeinschaft viel erreichen. Alle Beweggründe, die seine Ex-Genossen in der Vergangenheit vorsichtig vorbrachten wie Verleumdung, gezielte Diffamierungund Machtspiele in der Partei lässt Stock nicht gelten. Unnachgiebig sagt er: „Wer für unsere Werte eintritt, hat ein Leben lang in der Partei zu bleiben. Wenn ihm etwas nicht passt, dann muss er sich demokratisch eine Mehrheit suchen, um es zu ändern oder einsehen, dass er wohl verkehrt liegt.“