Bad Segeberg/Bockhorn. Sie wurde gewürgt, geschlagen, gestochen und verlor ihr werdendes Kind: das Martyrium einer Bulgarin und wie sie den Täter überführte
Es war ein Exzess der Gewalt, den eine 39-jährige Prostituierte aus Bulgarien auf dem Straßenstrich an der Bundesstraße 206 in Bockhorn bei Bad Segeberg ertragen musste. Von einem 35-jährigen Freier aus Lübeck wurde die Frau nach dem Sex beinahe getötet. Schon im Vorfeld des Prozesses gegen den Angeklagten wegen des Vorwurfs der gefährlichen Körperverletzung vor dem Schöffengericht in Bad Segeberg, gab es Fragen: War das nicht ein versuchter Mord, zumindest ein versuchter Totschlag?
Fast vier Stunden lang sagte das heute 39 Jahre alte Opfer am Mittwoch in Bad Segeberg aus – dann war nach einstündiger Beratung mit seinen Schöffen für den Vorsitzenden Amtsrichter Aykut Tuncel klar: „Wir sind gar nicht zuständig. Der Fall muss vor dem Landgericht Kiel verhandelt werden.“ Und zwar „mindestens wegen versuchtem Totschlag“. Der Strafrahmen bewegt sich jetzt nicht mehr bis vier, sondern bis zehn Jahre Freiheitsstrafe.
Straßenstrich B206: Prostituierte im Todeskampf
Mit ihren Aussagen, immer wieder unterbrochen, weil sie in Tränen ausbrach, schilderte die Prostituierte detailreich die Tat, ihre Todesangst, die Verletzungen und die Nachwirkungen jenes dramatischen Abends am Mittwoch, 28. Februar 2018, auf dem berüchtigten Straßenstrich an der B206 bei Bockhorn, damals bekannt als der längste Straßenstrich Deutschlands. Ein regelrechtes Martyrium durchlebte die damals 33 Jahre junge Bulgarin im Waldstück an der Bundesstraße. Sie ging dort auf einem einschlägig bekannten Parkplatz der Prostitution nach. Es war bitterkalt, sie fror sehr, beschrieb sie es vor dem Amtsgericht.
Ihr einziger Kunde an diesem Tag war der Täter. Zwei bis drei Stunden habe der dort auf sie gewartet und zunächst „keine Lust“ verspürt, sagte sie. Erst später wusste sie, was das überhaupt heißt, weil sie kein Deutsch spricht. Bis heute kriege sie diese Worte nicht mehr aus ihrem Kopf. Erst war der Angeklagte freundlich, ließ die Frau sich in seinem Wagen aufwärmen und fuhr sie sogar zur Tankstelle, damit sie sich dort einen Red Bull kaufen konnte. Doch dann verspürte er offenbar doch plötzlich Lust und winkte mit zwei Fünfzigern. Und die Frau ließ sich zum Sex in ein Waldstück in der Nähe fahren, was ihr beinahe zum Verhängnis geworden wäre.
Sex auf dem Rücksitz. Danach begann der Gewalt-Exzess
Nach dem geschützten Sex begann die Gewalt auf dem Rücksitz des Wagens: Der Mann würgte und misshandelte sie, berichtete die Frau vor Gericht unter Tränen, er hielt sie fest und versuchte sie mit einem Kabel zu erdrosseln, schlug mit einem Metallgegenstand auf ihren Kopf ein, verpasste ihr dabei blutende Platzwunden, und stach schließlich mehrfach mit einem Schraubendreher auf sie ein. Sieben Stiche in Oberarm und Rücken wurden später dokumentiert.
Die Frau wehrte sich heftig. „Mir wurde schwarz vor Augen. Ich dachte, ich muss sterben“, beschrieb sie weinend diese minutenlange Tortur und Hilflosigkeit in ihrer Landesprache, die vor Gericht von einem Dolmetscher übersetzt werden musste. Doch in Todesangst gelang es der resoluten jungen Frau, dem Täter den Schraubendreher aus der Hand zu reißen. Nun stach sie damit in seine Richtung und bedrohte den Mann. Der ließ darauf endlich von ihr ab und machte die hintere Tür seines Autos auf, die er verriegelt hatte.
Opfer greift sich die Waffe und kann fliehen
Halbnackt und traumatisiert lief die Frau ins Freie. Handy, Handtasche und die vereinbarten 100 Euro ließ sie im Fahrzeug des Täters zurück. Ein Autofahrer wurde auf sie aufmerksam und brachte sie in ein Krankenhaus. Die Bulgarin erlitt mehre Stich- und Schürfwunden und konnte kaum Luft holen. Ein Lungenflügel war durch die Stiche so verletzt worden, dass er kollabierte. Es bestand Lebensgefahr. Die Frau wurde zweimal operiert.
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Was die Frau zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste: Sie war schwanger mit ihrem zweiten Kind. Doch das heranwachsende Kind im Bauch musste wegen der schweren Verletzungen und langen Atemnot abgetrieben werden, erklärte das Opfer vor Gericht. Bis heute leide sie unter immerwährenden Panikattacken, Bewegungseinschränkungen und ständiger Angst, die sie nur mit psychologischer Therapie und Medikamenten ertragen kann.
Angeklagter zeigt wenig Empathie und keine Reue
Während dieser stundenlangen Anhörung blieb der Angeklagte ruhig und gefasst, wirkte beinahe desinteressiert und unbeteiligt. Meist schaute der schlanke und drahtige Mitdreißiger mit Vollbart und die Haare fast auf Glatze gestutzt zu seinem Verteidiger rüber. Nur selten sah der Mann, der in einem Haus in Lübeck bei seiner Mutter lebt und ohne Hauptschulabschluss damals beim Sicherheitsdienst, heute als Küchenhelfer arbeitet, sein Opfer direkt an. Mitgefühl, Trauer oder gar Reue waren aus seinen Augen nicht herauszulesen.
Vier Jahre lang kam die Polizei dem Mann nicht auf die Schliche. Dann war es das Opfer selbst, das ihn schließlich wiedererkannte und die Polizei endlich auf seine Spur führte. Das war vor zwei Jahren. Da tauchte der Tatverdächtige tatsächlich erneut auf dem Parkplatz an der B 206 auf. Die Bulgarin war sich zunächst nicht sicher, ob er wirklich der Täter war. Die Frau nahm allen Mut zusammen und ließ sich erneut auf den geschlechtsverkehr mit dem mann ein. Aus nächster Nähe erkannte sie ihn sofort wieder. „Sein Gesicht ist seitdem fest in meinem Kopf“, sagte die taffe Frau.
Prostituierte erkennt den Mann auf dem Straßenstrich wieder
Sie fotografierte das blaue Auto mit dem Lübecker Kennzeichen des Täters und meldete es der Polizei. Die DNA-Spuren, die nach der Tat am 28. Februar 2018 durch das Sperma sichergestellt wurden, konnten dem Angeklagten eindeutig zugeordnet werden, erklärte die Opfer-Anwältin Nejla Celic, die die Nebenlage vertritt und 20.000 Euro Schmerzensgeld für ihre Klientin fordert.
Noch zu Prozessbeginn begründete Staatsanwältin Miske auf Nachfrage des Abendblatts, warum die Anklage trotz des erlittenen Martyriums des Opfers nur auf gefährliche Körperverletzung lauten würde: „Weil der Täter schließlich vom Opfer abgelassen und es habe laufen lassen“, sagte sie. Nach der langen Aussage des Opfers war es die Staatsanwältin, die nun beantragte, der Prozess müsse vor das Landgericht wegen versuchten Totschlags.
Versuchter Totschlag: Täter ließ Opfer nicht freiwillig gehen
Die Staatsanwaltschaft hatte sich auf die Aussagen des Opfer verlassen, die von der Polizei 2018 aufgenommen wurden und dabei offenbar falsch übersetzt und interpretiert wurden. Nach der Hauptverhandlung war klar, dass die für den Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung nötige Begründung, der Täter habe schließlich freiwillig das Opfer ziehen lassen und somit keinen Tötungsvorsatz gehabt, so nicht mehr zu halten war.
Denn das Opfer hatte am Ende der Auseinandersetzung den Schraubendreher als Waffe in der Hand. Der Täter musste Angst haben, nun selbst verletzt zu werden, wenn er nicht endlich von seinem Opfer ablassen würde. Deswegen landet der Fall nun bei der nächsthöheren Instanz, vor dem Landgericht in Kiel. Der Angeklagte muss im Fall einer Verurteilung mit einer hohen Haftstrafe rechnen.
Diese wollte sein Verteidiger Morton von Holdt überigens gänzlich ausschließen. Er forderte einen Freispruch für seinen Mandanten und präsentiert überraschend den Zuhälter der Bulgarin, einen Boris P., als alternativen Täter. Dieser sei angeblich wegen der Schwangerschaft der Frau wütend geworden und habe die Frau attackiert. Gewaltattacken von P. gegenüber der Geschädigten seien dokumentiert. Eine Theorie, der niemand im Saal Glauben schenkte.