Norderstedt. Was Menschen mit Behinderungen in Norderstedt und im Kreis Segeberg beim Arzt erleben. Ihre wohl größte Herausforderung überrascht.
Bevor Sasa Gavanski zu einem Arzt fährt, bei dem er noch nie zuvor war, ruft er erst einmal in der Praxis an. „Ich frage nach, ob sie genügend Platz für meinen E-Rollstuhl haben“, sagt der 46-Jährige. Sein elektrischer Rollstuhl ist etwa 1,50 Meter lang und 70 Zentimeter breit und damit wesentlich größer und wuchtiger als andere Modelle. Ohne Anruf einfach in eine Praxis fahren – das kommt für ihn nicht infrage. Zu oft hat er schon erlebt, dass er mit seinem Rollstuhl nicht durch Türen gepasst hat.
Viele Arztpraxen im Kreis Segeberg sind nur über Treppen erreichbar, verfügen über keinen Fahrstuhl oder haben zu kleine Wartezimmer. Eigentlich gilt in Deutschland freie Arztwahl – aber für Menschen mit einer Behinderung ist das Angebot von vornherein eingeschränkt, da viele Praxen nicht barrierefrei sind und sie schlicht und einfach nicht in die Behandlungsräume kommen.
Die Kassenärztliche Vereinigung Schleswig-Holstein (KVSH) hat bereits vor einigen Jahren eine Online-Arztsuche installiert. Nur ein Drittel der Praxen im Land haben dort Angaben zu ihrer Barrierefreiheit gemacht. Ein Großteil davon verfügt demnach über Behindertenparkplätze oder ist für Personen mit Gehhilfe zugänglich. Aber die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung sind vielschichtig. Hör- und Sehgeschädigte brauchen ganz andere Unterstützung als Rollstuhlfahrende.
Barrierefreiheit in Arztpraxen: Wartezimmer oft zu klein
Sasa Gavanski, der in Norderstedt aufgewachsen ist und nun in Langenhorn lebt, hat bei einem Hautarzt eine Erfahrung gemacht, die ihm im Gedächtnis geblieben ist. „Eine Hälfte meines Rollstuhls stand im Behandlungsraum, aber mein Hinterteil ist draußen geblieben“, erzählt er. Sein E-Rollstuhl hat nicht durch den Türrahmen gepasst. Heute lacht er darüber. Er hat gelernt, das Leben mit Humor zu nehmen. „Aber damals habe ich mich komisch gefühlt.“
Auch Frauke Gülle kennt solche Situationen. Ihre Hausarztpraxis kann die Rollstuhlfahrerin gut mit dem Fahrstuhl erreichen. „Aber der Tresen ist sehr hoch. Ich kann die Menschen nicht gut angucken, wenn ich ihnen meine Gesundheitskarte gebe“, sagt die 26 Jahre alte Norderstedterin. Wartezimmer von Arztpraxen seien oft zu eng. Manchmal müsse sie mit ihrem Rollstuhl mitten im Raum stehen, weil in den Stuhlreihen kein Platz für Rollstuhlfahrer ausgespart wurde. Es komme sogar vor, dass sie auf dem Flur warten müsse. „Das ist ein bisschen schade“, sagt sie.
Größte Barrieren gibt es in der Kommunikation
Auch hat sie noch nie eine Praxis besucht, die über eine Rollstuhltoilette verfügt. „Das Glück hatte ich bisher noch nicht“, sagt sie. Im Großen und Ganzen spricht sie aber sehr positiv über ihre Arztbesuche. Sie treffe auf viele hilfsbereite Menschen, die sie unterstützen. Auf den Stuhl beim Zahnarzt oder Gynäkologen kann sie sich alleine setzen. „Ich bin jung und kraftvoll. Das schaffe ich ohne Hilfe“, sagt Frauke Gülle.
Gemeinsam mit Sasa Gavanski engagiert sie sich in der Inklusionsagentur Norderstedt, um auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung aufmerksam zu machen. Beide sind als Baby zu früh auf die Welt gekommen und deswegen auf einen Rollstuhl angewiesen. Gülle schafft es – je nach Kraft und Strecke – sich auch mithilfe eines Rollators fortzubewegen.
Claudia Helle ist ebenfalls Teil des Agenturteams. Zuvor hat sie 20 Jahre lang beeinträchtigte Menschen in ihrem eigenen Wohnraum betreut. Die 52-Jährige war schon bei vielen Arztbesuchen als Begleiterin dabei. Sie sieht nicht die baulichen Einschränkungen als größte Herausforderung der Inklusion an – sondern die Barrieren in der Kommunikation.
„Hey, ich bin der Patient!“
„Wir begleiten viele Menschen mit den unterschiedlichsten Behinderungen. Dabei erleben wir immer wieder, dass die Ärzte nicht mit ihnen, sondern nur mit den Betreuern sprechen“, berichtet Helle. Das sei für die Menschen kein schönes Gefühl. Sie würden sich nicht ernst genommen fühlen. „Es ist besser, wenn Ärzte mit dem Patienten selbst reden“, sagt sie. Je nach Bedarf und Beeinträchtigung am besten in leichter Sprache. „Wir wissen, dass die Praxen sehr voll sind und viel zu tun haben. Aber manchmal reicht es schon, wenn Ärzte etwas langsamer sprechen oder nur einen Satz mehr zur Erklärung sagen.“
Sasa Gavanski, dem das Sprechen durch seine Spastik etwas schwerer fällt, hat es schon oft erlebt, dass Mediziner nicht mit ihm direkt über seine Diagnosen sprechen, sondern mit seiner Betreuung. „Hey, ich bin der Patient!“, sagt er dann immer. „Wenn nur meine Begleitperson angesprochen wird, fühle ich mich gar nicht existent“, sagt Gavanski.
Marion Vierck ist blind – und wünscht sich Markierung auf dem Boden
Seine Eigenständigkeit ist ihm enorm wichtig. Obwohl ihm bereits im Alter von 33 Jahren nahegelegt wurde, wegen seines hohen Pflegebedarfs in ein Altenheim zu ziehen, kämpfte er für sich und seine Autonomie. Seit bald 14 Jahren lebt er allein in einer Wohnung. Eine ambulante Betreuung steht ihm 24 Stunden zur Seite. „Ich möchte Vorreiter für andere sein“, erklärt er.
Marion Vierck ist blind. Im Laufe ihres Lebens hat sie ihre Sehkraft verloren. Bei ihrem Hausarzt war bis vor Kurzem ein Vierteljahr lang der Fahrstuhl kaputt, erzählt sie. Gesehen hat sie das natürlich nicht. Als der Fahrstuhl nicht kam, gab sie irgendwann das Warten auf und tastete sich mit ihrem Stock zu den Treppenstufen. Meistens begegnet sie netten Menschen, wenn sie Hilfe braucht, berichtet die 69-Jährige.
Im oberen Stockwerk angekommen, steht sie vor der nächsten Herausforderung: Sie muss den Eingang zur Praxis finden. „Schön wäre es, wenn es vor der Tür eine Markierung am Boden gäbe, sodass ich wüsste, wo ich reinmuss“, sagt sie. Stattdessen tastet sie die Scheiben ab.
In der Arztpraxis eingetroffen, muss sie sich voll auf ihren Gehörsinn verlassen. „Ab dann läuft alles nur noch über die Ohren“, sagt Vierck, „ich muss lauschen, wo der Tresen und das Wartezimmer sind.“ Manchmal muss sie von Mitarbeitern am Arm geführt werden, weil Stühle oder andere Gegenstände im Weg stehen. „Aber ich kann nicht klagen. Sie sind immer sehr, sehr nett.“
Schleswig-Holstein fördert Barrierefreiheit in Arztpraxen
Nicht weit von Norderstedt entfernt, befindet sich das Sengelmann Institut für Medizin und Inklusion (Simi). Das medizinische Zentrum Hamburg-Alsterdorf ist Anlaufstelle für viele erwachsene Menschen mit Behinderung aus der Region. Hier sind die Ärzte, Therapeuten und Sozialpädagogen auf die speziellen Bedürfnisse ihrer Patienten eingestellt. Sowohl die Räumlichkeiten sind barrierefrei – als auch die Kommunikation. Das sei eine großartige Einrichtung, sagt Claudia Helle von der Inklusionsagentur. Sie war schon öfter als Betreuerin vor Ort. „Aber auch in Norderstedt gibt es ganz viele tolle und nette Ärzte“, betont sie.
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Um Menschen mit einer Behinderung den Zugang zu Arztpraxen weiter zu erleichtern, fördert Schleswig-Holstein den barrierefreien Ausbau. So konnten Ärzte, die hausärztliche oder gynäkologische Leistungen erbringen, noch bis April dieses Jahres eine finanzielle Förderung beim Land beantragen.
Zum einen werden sie dabei unterstützt, barrierefreie Webseiten und mobile Anwendungen zu entwickeln. Zum anderen bekommen sie Gelder für rein bauliche Maßnahmen. Beispielsweise wird der Bau von Rampen, Treppenliften oder taktilen Leitsystemen für sehbehinderte Menschen gefördert. Die Höchstfördersumme beträgt 300.000 Euro. Davon müssen Arztpraxen einen Eigenanteil von 30 Prozent tragen.
Derzeit befinden sich noch viele Praxen in Altbauten. Jedoch schließen sich immer mehr Ärzte zusammen, eröffnen Gemeinschaftspraxen und ziehen in Neubauten. Diese wiederum müssen den Vorgaben aus der Landesbauverordnung zum barrierefreien Bauen entsprechen. Die KVSH geht daher davon aus, dass in den nächsten Jahren immer mehr Praxen zumindest als barrierearm bezeichnet werden können.