Kreis Pinneberg. Während Ärzte die Digitalisierung eher begrüßen, sind Patienten verunsichert. Auch Apotheker rebellieren wegen der Umstellung.

Für manchen Patienten ist es zu Jahresbeginn völlig überraschend gekommen, Mediziner und Pharmazeuten haben sich dagegen schon im Verlauf von 2023 ausgiebig darauf vorbereiten können – das E-Rezept. Seit etwas mehr als einem Monat hat die neue, digitale Verschreibungsform von Medikamenten in den Arztpraxen und Apotheken Einzug gehalten. Vieles klappt schon, aber in einigen Punkten gibt es Anlaufschwierigkeiten – und auch Beschwerden.

Dr. Songül Gräfendorf hat ihre Praxis für Allgemeinmedizin und weitere Fachrichtungen in der Fußgängerzone vom Pinneberger Fahltskamp. Die Medizinerin steht der neuen Technik positiv gegenüber – wenn diese denn funktioniert. „Aktuell hatten wir aber leider ein technisches Problem und konnten gar keine digitalen Rezepte ausstellen“, sagt die Hausärztin.

E-Rezept: Für Wartung und Betreuung der neuen Infrastruktur fehlen die Fachkräfte

Die Ursache sei aber nicht dem neuen System per se geschuldet, merkt Gräfendorf an, in ihrem Fall sei die Problematik eher genereller Natur. „Wir haben zurzeit doch überall Fachkräftemangel, und der Techniker vom Dienstleister konnte seine Arbeit bei uns nicht beenden, weil er zu Notfällen mit höherer Priorität musste.“

Dr. Songül Gräfendorf ist Allgemeinmedizinerin und begrüßt grundsätzlich das E-Rezept sowie die Digitalisierung in der Medizin. Aber auch ihre Praxis hat in der Anlaufphase der neuen Technik mit Problemen zu kämpfen.
Dr. Songül Gräfendorf ist Allgemeinmedizinerin und begrüßt grundsätzlich das E-Rezept sowie die Digitalisierung in der Medizin. Aber auch ihre Praxis hat in der Anlaufphase der neuen Technik mit Problemen zu kämpfen. © Ulrich Stückler | Ulrich Stückler

Ungeachtet dessen erkennt die Ärztin den prinzipiellen Nutzen im neuen Konzept an und hat ihre Praxis entsprechend ausgerüstet. „Andere ältere Kollegen waren dazu aber nicht mehr bereit und haben die Einführung des E-Rezepts mit dem Eintritt in ihren Ruhestand verbunden“, weiß die ganzheitliche Medizinerin.

Digitalisierung hat Potenzial für mehr Sicherheit in der Medizin

Das Konzept des „gläsernen Patienten“ bewertet die Hausärztin positiv: „Letztlich helfen digitale Patientenkarte und Verschreibung doch beiden Seiten. So werden dank Datenaustausch Überdosierungen vermieden oder es kann verhindert werden, dass Patienten von Arzt zu Arzt tingeln und sich unkontrolliert mit problematischen Medikamenten wie zum Beispiel Opiaten versorgen.“

Auf einem Bildschirm in einer Apotheke sind Hinweise zu E-Rezepten angezeigt, die aus den Arztpraxen dorthin übermittelt wurden.
Auf einem Bildschirm in einer Apotheke sind Hinweise zu E-Rezepten angezeigt, die aus den Arztpraxen dorthin übermittelt wurden. © DPA Images | Jens Kalaene

Aber nicht alles geht jetzt schon digital mit E-Rezept. So werden therapeutische Anwendungen oder medizinische Hilfsmittel weiterhin auf Papier verordnet. Doch manchmal sind auch bei Arzneiverschreibungen das Papierrezept oder zumindest eine analoge Dokumentation derselben noch unverzichtbar. Gräfendorf: „Wir werden aus Kreisen der mobilen Pflege und Heime um Verordnungen und Medikationsanweisungen auf Papier gebeten, denn diese Institutionen haben keinen Zugriff auf die digitalen Patientendaten.“

Auf Medizinerseite werden nur wenig Probleme mit dem E-Rezept gemeldet

Abgesehen vom organisatorischen, anfänglichen Aufwand mit nicht unerheblichen Investitionen und den technischen Anlaufschwierigkeiten möchte Songül Gräfendorf dem E-Rezept kein schlechtes Zeugnis ausstellen. Ein kleiner Sinnspruch auf einem Bild in ihrer Praxis spricht aus, wie die Ärztin diese Um- und Neueinstellung sieht: „Du kannst den Wind nicht ändern, aber die Segel richtig setzen“, ist da zu lesen.

Auf Seiten der Mediziner scheint der vorsichtig positive Erfahrungsbericht von Dr. Songül Gräfendorf kein Einzelfall zu sein. „Bei uns sind nur wenige Meldungen eingegangen, insofern scheint das E-Rezept größtenteils zu laufen“, hat Marco Dethlefsen, Pressesprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein, die ihm bislang zugetragene Manöverkritik zusammengefasst. Schwierigkeiten in der Anlaufphase hätten sich auf kurzzeitige Serverprobleme, nicht aktualisierte Zertifikate bei Praxis-Konnektoren und zu spät erhaltene Lesegeräte erstreckt.

Sozialverband prangert Verunsicherung der Patienten durch komplizierte Technik an

Doch da sind ja noch die anderen Beteiligten des Umgangs mit dem E-Rezept – nämlich Patient und Apotheker. Stellvertretend für die vielen Versicherten vertritt der Sozialverband VdK in Berlin eine ganz andere Meinung. „Vier Wochen nach der verpflichtenden Einführung des E-Rezepts berichten uns viele Mitglieder von Problemen“, heißt es im Statement des VdK. „Besonders ältere Menschen verstehen die komplexe Anmeldung in der App nicht und scheitern daher an der Authentifizierung.“ Außerdem gebe es Beschwerden über Praxen, die sich weigerten, das E-Rezept auszudrucken, obwohl sie dazu verpflichtet seien.

Grundsätzlich unterstütze aber auch der VdK die Einführung des E-Rezepts: „So kann die Sicherheit der Patientinnen und Patienten in der Arzneimittelversorgung erhöht werden kann, da unklare Verschreibungen nahezu unmöglich werden.“ Auch hätten Apothekerinnen und Apotheker einen besseren Überblick über verschriebene Medikamente und könnten so Wechselwirkungen ermitteln.

VdK bewertet E-Rezept grundsätzlich positiv, Apothekerverband hebt Nachteile hervor

Aber der VdK mahnt: „Die Nutzung des E-Rezepts darf für niemanden zur Belastung werden. Wir als Sozialverband ermahnen Praxen und Apotheken, alle Wege der Rezeptausstellung und -einlösung anzubieten. Gerade im Gesundheitssystem müssen bei Neuerungen alle Menschen mitgenommen werden. Wir erwarten jetzt und in Zukunft, dass Barrierefreiheit mitgedacht wird – so zum Beispiel auch bei der elektronischen Patientenakte, die 2025 kommen soll.“ Mit Einschränkungen ist das Fazit des VdK also als positiv zu bewerten.

Anders die Sicht der Apotheker. Georg Zwenke zieht eine nahezu vernichtende Bilanz. „Mit Einführung des E-Rezeptes laufen einige wenige Prozesse in der Apotheke zwar etwas schneller, in der Gesamtheit ist der Versorgungsprozess aber gegenüber dem bisherigen Verfahren hochkomplex, zeitintensiver, erfordert größte Aufmerksamkeit und einen erheblichen Schulungsaufwand für alle Apothekenteams“, schreibt der Geschäftsführer des Apothekerverbands Schleswig-Holstein. „Pragmatische, spontane Lösungen ,auf dem kleinen Dienstweg‘ zur Behebung eines konkreten Versorgungsproblems sind nicht mehr möglich.“

Apotheken müssen bis zu 25.000 Euro für die Umrüstung aufs E-Rezept aufwenden

Hinzu komme für die Apotheken ein durch die Anforderungen zu leistender wirtschaftlicher Aufwand, der nicht oder nicht kurzfristig aufzufangen sei. „Sämtliche Komponenten zur Nutzung der Telematikinfrastruktur mussten neu beschafft, teilweise neue Internetanschlüsse verlegt werden“, zählt Zwenke nur einen Teil der zu erbringenden Leistungen der Apotheker auf. „Es wurden uns teilweise Kosten in der Größenordnung von 25.000 Euro genannt, von denen lediglich 5.000 Euro refinanziert worden seien.“ Auch monatliche Mehrkosten für EDV, Wartung und Updates von rund 300 Euro seien allein von der Apotheke zu tragen.

Und die von Ärzteseite aus begrüßte Sicherheit sei in der Praxis noch nicht wirklich gegeben, bekundet Georg Zwenke: „Zu viele E-Rezepte enthalten grobe Fehler und erfordern Rücksprache mit den Ärzten. Hätten Apothekenteams konsequent die Versorgung nach Abrufen der sich fehlerhaft herausstellenden E-Rezepte abgelehnt, wäre die Arzneimittelversorgung per E-Rezept zusammengebrochen.“

Apothekerverband fordert „Friedenspflicht“ zwischen Apotheken und Kassen

Die Gefahr für Apotheker, die hier das Patientenwohl in den Vordergrund stellen: Kassen könnten bei nicht vollständig rechtskonformer Versorgung die Leistung verweigern. Zwenke fordert zumindest bis 30. Juni 2024 eine Friedenspflicht zwischen Kassen und Apotheken, um finanzielle Schäden durch fehlerhaft ausgestellte, aber dennoch ausgeführte Rezepte zu vermeiden.

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Und dann wären da ja noch die Patienten, quasi auf deren Schultern das neue Verfahren ja ausgetragen wird. Die (für viele Ältere) komplizierte Anmeldung bei der App hat der VdK angemahnt. Aber da gibt es noch ein Problem, wenn das Medikament erst einmal verschrieben worden ist. „Es gibt Ärzte, die geben die Daten erst nachmittags oder abends frei“, sagte Apotheker Christian Jung. „Die Patienten verlassen dann die Praxen quasi ohne Rezept und erhalten ihr Medikament erst am Folgetag.“

Vereinzelt übertragen Ärzte die Rezeptdaten nur verzögert

Zumindest in dieser Hinsicht bricht Dr. Songül Gräfendorf eine Lanze für sich und die Mehrzahl ihrer Kolleginnen und Kollegen. „Es kann zwar sein, dass in ländlichen Gemeinden der Kollege erst später die Daten überträgt, aber hier im Zentrum von Pinneberg und bei den zentral gelegenen Kollegen – auch in anderen Orten mit Apotheken in unmittelbarer Nähe – werden die Rezeptdaten in der Regel zügig übermittelt.“