Norderstedt. Die Norderstedterin konnte bis zu ihrem zwölften Lebensjahr normal sehen – dann ist sie nach und nach erblindet. Trotzdem lebt sie eigenständig.
Neben dem Esstisch an der Wand hängt eine Fotocollage. Marion Vierck hat sie vor ein paar Jahren von ihrer Familie zu Weihnachten geschenkt bekommen. Auf den Bildern sind Tochter Jasmin und die drei Enkelkinder zu sehen. Simon bei seiner Einschulung, Juliette und Lucia als Babys bei Oma auf dem Arm. Ihre Familie hat ihr genau beschrieben, was auf den Fotos abgebildet ist. Sie selbst kann sie nämlich nicht sehen. Die 67-Jährige ist blind. Auch ihre Enkelkinder hat sie noch nie gesehen. „Meine Wohnung ist nicht für einen Blinden ausgerichtet. Ich lebe wie ein Sehender“, sagt sie.
Marion Vierck liebt Farben. Der Flur der Norderstedterin ist in einem hellen Blauton gestrichen. Glitzernde Schmetterlingsfiguren hängen an den Wänden. Auf dem roten Sofa im Wohnzimmer liegen türkise, gelbe und bunt-gemusterte Kissen. An der Stehlampe daneben klammert ein Stoffaffe in Neon-Orange. Tochter Jasmin hat an die Tapete eine Sonne und einen Regenbogen gemalt. In jeder Ecke der Wohnung ist Viercks Liebe zum Detail erkennbar. Auf dem Fernsehschrank stehen lauter kleine Figuren – Elefanten, Engel und Kristalle. Alles ist kunterbunt in Marion Viercks Wohnung.
Bis zu seinem zwölften Lebensjahr konnte das in der DDR aufgewachsene Mädchen normal sehen. An einem Sommerabend 1966 hat Vierck noch heimlich mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke ein Buch gelesen. Den „Struwwelpeter“ von Heinrich Hoffmann. Am nächsten Morgen konnte sie ihr Holzbett, die bunte Bettwäsche und die kleine Kommode in ihrem Jugendzimmer kaum noch erkennen. Über Nacht hat sie ihr Augenlicht fast vollständig verloren. In nur wenigen Stunden sank ihre Sehkraft von 100 auf vier Prozent. „Ich habe alles nur noch schemenhaft erkannt“, erinnert sie sich. Die Welt um sie herum verschwand hinter einem dichten Nebelschleier. Doch panisch wurde sie nicht. „Ich habe schon immer die Sonne in mir getragen“, sagt sie. Vierck war auf diesen Moment vorbereitet.
Drei ihrer zwölf Geschwister sind ebenfalls erblindet. Gleich zwei Augenkrankheiten haben Vierck ihre Sehkraft genommen. Die Makuladegeneration – eine Erkrankung, die die Netzhaut im hinteren Bereich des Auges, an der Makula, angreift. Und die Retinitis pigmentosa – sie lässt die Sehzellen nach und nach absterben. Die Krankheiten sind ihr vererbt worden. Ihre Eltern konnten beide sehen. Der Ursprung muss in einer früheren Generation liegen.
30 Jahre lang konnte Vierck noch hell und dunkel sehen
Viele Jahre lebte Vierck mit einem geringen Sehrest weiter. Im Alter von 40 Jahren hat die gebürtige Pößneckerin ein zweites Mal geheiratet. Nach der Hochzeit wollte sie sich den Film von der Feier ansehen. „Ich saß zehn Zentimeter vor dem Fernseher und habe nichts erkannt – da habe ich gemerkt, dass ich nur noch hell und dunkel voneinander unterscheiden kann“, erinnert sich Vierck. Das war 1993. Fast 30 Jahre später hat sie auch diese Fähigkeit verloren. Seit diesem Sommer ist sie vollständig blind. Eine große, schwarze Leere sieht sie aber nicht vor Augen. Ihre Welt ist so kunterbunt wie ihre Wohnung. „Ich bin zwar blind, aber ich sehe trotzdem mit dem dritten Auge.“
Um einen Termin zu vereinbaren, blättert die Norderstedterin nicht in einem Kalender. Sie lässt sich ihre Verabredungen laut von ihrem Computer ansagen. „Ich würde mich freuen, wenn wir uns persönlich sehen könnten“, sagt sie am Telefon. „Sehen“ – diesen Begriff benutzt Marion Vierck so selbstverständlich wie ein Mensch mit voller Sehkraft. Sie ist der Meinung, dass man seinen Sprachgebrauch nicht verändern sollte. Keine Angst vor Fettnäpfchen haben muss. Sie sieht die Menschen, die sie umgeben, zwar nicht im herkömmlichen Sinne. Dafür spürt sie ihre Energie. „Ich sehe ihre Farben“, sagt sie.
Um eine Person einschätzen zu können, reicht eine Berührung. „Wenn ich die Hand eines Menschen anfasse, weiß ich, was für einen Charakter er hat und wie er sich mir gegenüber verhalten wird.“ Sie hat keine Angst, Fremde zu sich in die Wohnung einzuladen – obwohl sie schon mehrmals beklaut wurde. Speicherkarten, Kristallsteine und Geld sind schon verschwunden. „Ich grolle demjenigen nicht. Vielleicht hat er die Sachen dringender gebraucht als ich.“
Wenn Marion Vierck ihrem Gegenüber die Hand auflegt, kann sie nicht nur seine Charakterzüge erkennen – sondern auch sein Aussehen: Statur, Körpergröße, Naturhaarfarbe. „Als ich die Hand meines ersten Mannes berührt habe, wusste ich genau: Den heirate ich.“
Mit 18 Jahren hat sie sich sterilisieren lassen
Im Oktober 1975 hat sie Manfred kennengelernt. Er war schwerhörig. Sie nahezu blind. Das Paar hat sich gut ergänzt. Ein halbes Jahr später heirateten sie. 1983 adoptierten sie Tochter Jasmin. In der DDR war das auch als Blinder möglich. Vierck wollte nie eigene Kinder. Ihr Nachwuchs sollte nicht wie sie erblinden. Sie wollte nicht riskieren, ihre Augenkrankheiten weiterzuvererben. Also ließ sie sich mit 18 Jahren sterilisieren.
Die kleine Familie zog von der DDR nach Norderstedt – in die Wohnung im vierten Stock, in der Vierck auch heute noch lebt. Die seit fast 37 Jahren ihr Zuhause ist. Hier findet sie sich problemlos zurecht. Weiß genau, wie sie vom Wohnzimmer in die Küche kommt. Wie lang der Flur ist. „Die Wege sind mir ins Blut übergegangen“, sagt sie. Wenn sie über Gegenstände in ihrer Wohnung spricht, wie etwa ihre Kristallkugel, dann zeigt sie mit dem Finger auf sie.
Die Norderstedterin ist ein sehr selbstständiger Mensch. Früher hat sie im Telefonmarketing und in einer Taxizentrale in Quickborn gearbeitet. Seit einigen Jahren ist sie Rentnerin. Mit einem Pflegedienst geht sie immer montags zwei Stunden lang einkaufen. Ansonsten schafft Marion Vierck alles allein. Sie fährt ohne Begleitung mit der Bahn zu Terminen, auch wenn sie am Bahnsteig manchmal weiche Knie bekommt.
Ihre Wohnung ist mit technischen Hilfsgeräten ausgestattet. Sie unterstützen sie im Alltag, ermöglichen ihr ein eigenständiges Leben. „Alexa, schalte ZDF ein“, befiehlt sie dem Sprachgerät in der Stube. Im Fernsehen läuft gerade SOKO Leipzig. Vierck hört gern zu.
Auf dem Esstisch liegt eine Computertastatur – ohne Bildschirm. Der dazugehörige Laptop steht im Schrank. Eine Roboterstimme liest ihr die eingehenden E-Mails laut vor – etwa die Versandbestätigung ihrer Weihnachtseinkäufe bei Amazon. Das Bestellen hat allerdings ihre Tochter übernommen. Am häufigsten benutzt Marion Vierck ihren Computer für ihre große Leidenschaft: das Schreiben. 13 Bücher hat sie bereits unter ihrem Autorennamen Mari-Wall veröffentlicht. Die meisten Werke handeln von ihrem Leben. Zwei Kinderbücher sind auch dazwischen. Gerade arbeitet sie an einem Fantasy-Roman. „Schreiben ist für mich wie eine Therapie“, sagt Vierck, die Mitglied des Arbeitskreises für blinde Autoren ist.
Mit dem Schreiben hat sie kurz vor dem Tod ihres ersten Mannes Manfred begonnen. Mit gerade einmal 39 Jahren ist er an einer Leberzirrhose verstorben. Vierck heiratete ein zweites Mal – den Falschen, wie sie später feststellte. „Ich habe in meinem Leben viele schwere Themen bearbeitet – aber immer in der Leichtigkeit gelebt“, sagt sie. Mit ihrer Blindheit hat sie nie gehadert. „Als ich damals meinen Hochzeitsfilm nicht mehr sehen konnte, ist mir bewusst geworden, dass ich wieder etwas verloren hatte. Ich habe eineinhalb Stunden geweint – und dann war gut.“
Die dreifache Großmutter ist sehr gläubig. Sie sieht ihr fehlendes Augenlicht nicht als eine Behinderung an – sondern als Gottesgabe. „Manchmal erkenne ich mehr als sehende Menschen“, sagt sie. Was sie mit diesem Satz genau meint, zeigt sie beim Hausbesuch des Abendblatts. Während der Fotograf das Stativ aufbaut, Fotos von Vierck auf ihrem roten Sofa macht, spürt sie seine starken Rücken- und Kopfschmerzen. Sie sieht die Verkrampfungen in seinem Nacken als Farben. In Dunkelbraun und Schwarz. Erst als sie ihn auf die Beschwerden anspricht, gibt er zu, dass er sich am Morgen am liebsten krank gemeldet hätte.
Wenn die Beisitzerin des Landesvorstands des Blinden- und Sehbehindertenvereins wichtige Briefe an Behörden formuliert, benutzt sie einen Computer mit Braillezeile. Das 7000 Euro teure Gerät zeigt ihr in Blindenschrift an, was sie eingetippt hat. Kleine Stifte treten aus der Zeile hervor, die Vierck mit ihren Fingern abtasten kann. „So überprüfe ich meine Rechtschreibung“, erklärt sie.
In einen Scanner kann die blinde Vierck, die für das Netzwerk Norderstedt (NeNo) einen Gesprächskreis für Menschen mit Behinderung leitet, Briefe oder Bücher einlegen. Diese werden ihr dann vorgelesen. „Für zehn Buchseiten brauche ich eine Stunde“, berichtet sie. Das dauert ihr zu lange und ist zu aufwendig. Deswegen hört sie Hörbücher. Nachrichten liest Vierck in Brailleschrift. Unter ihrem Couchtisch liegen mehrere Zeitschriften. Für Sehende sehen sie wie einfache, weiße Blätter Papier aus. „Das ist der Ratgeber aktuell“, sagt Marion Vierck. Mit ihren Fingern streicht sie langsam über die eingedrückten Punkte und liest das Editorial vor. Es geht um Negativ- und Strafzinsen.
Aus dem Flur dröhnt das „Määähh“ eines Schafes. Es ist Punkt 10 Uhr. Das Geräusch stammt von einer Wanduhr – jedes Tier steht für eine andere Uhrzeit. So weiß Vierck genau, wie spät es ist. „Um 13 Uhr ist die Biene dran, die mag meine Enkelin Lucia am liebsten“, erzählt sie. „Es gibt viele tolle Erfindungen, die Blinden das Leben erleichtern.“
Eine Waage in der Küche sagt ihr beim Backen das Gewicht von Mehl und Zucker an. Mithilfe eines Farberkenners kann sie ihre Wäsche sortieren. Wenn sie auf ihrem iPhone herumtippt, teilt ihr eine männliche Stimme mit, welche App beziehungsweise Taste sie berührt hat. Erst wenn sie doppelt drückt, wird der Befehl ausgeführt. Bei WhatsApp verschickt sie Texte, einfacher sind für sie aber Sprachnachrichten.
In Deutschland gibt es Hotels speziell für Blinde
Manchmal passiert es, dass Marion Vierck draußen an der Straße die Orientierung verliert. Lärm bringt sie aus der Konzentration. Wie etwa ein Krankenwagen, der mit lauter Sirene an ihr vorbeibraust. Dann muss sie sich erst einmal neu sortieren. Zurück auf ihren Weg finden. In solchen Fällen schaltet sie auf ihrem Handy eine Navigationsapp speziell für Blinde ein. Meistens sind Passanten aber schneller und eilen ihr zu Hilfe. „Die Norderstedter sind sehr hilfsbereit“, sagt sie.
Unterstützung anzunehmen, musste die Rentnerin erst lernen. „Inzwischen lasse ich mir sehr gerne helfen – auch dann, wenn es gar nicht notwendig wäre.“ Manchmal erweckt Vierck den Anschein, als wäre sie von ihrem Weg abkommen – ist es aber gar nicht. Passanten greifen ihr unter die Arme, wollen sie führen. Doch manchmal bringt sie erst die Hilfe von ihrer Route ab. „Ich bedanke mich trotzdem bei den Menschen. Da draußen gibt es Blinde, die dringend auf Hilfe angewiesen sind. Wenn Sehende sich nicht mehr trauen würden, sie anzusprechen, wäre das fatal.“
Marion Vierck hat auch kein Problem damit, allein zu reisen. Sie fährt nach Frankreich. Fliegt in die Türkei. Dort leben Freundinnen von ihr. In der Bahn und am Flughafen erhält sie Unterstützung beim Ein- und Aussteigen. „Das ist wunderbar organisiert. Ich kann weder Türkisch noch Englisch sprechen – aber komme trotzdem immer an meinem Ziel an.“ In Deutschland hat sie schon Urlaub in Hotels gemacht, die extra auf die Bedürfnisse von Blinden ausgerichtet sind. In normalen Unterkünften fällt es blinden Menschen schwer, sich zurechtzufinden. Das fängt schon bei der Zimmersuche an. „Die Raumnummern müssten abtastbar sein, damit ich überhaupt das richtige Zimmer finde“, erklärt Vierck.
Wenn sie sehen könnte, würde sie einen Führerschein machen
Die blinde Norderstedterin wirkt glücklich. Zufrieden. Angekommen. Gibt es dennoch etwas, das sie gerne machen würde, wenn sie sehen könnte? Das sie in ihrem Leben vermisst? „Dann würde ich einen Führerschein machen und ab in die Welt fahren“, sagt sie. „Aber das heißt nicht, dass ich noch nie Auto gefahren bin.“ Sie kichert. Den Wagen ihres Mannes Manfred hat sie mal in einer Tiefgarage rückwärts eingeparkt. Das klappte auf Anhieb. „Ich bin ein Glückskind“, sagt Vierck. Mehrmals schon hat sie an der Aktion „Autofahren für Blinde“ teilgenommen. Als sie das Fahrzeug auf 150 km/h beschleunigte, wurde ihr Beifahrer unruhig. „Wollen wir nicht mal bremsen?“, fragte er. „Wollen wir nicht lieber gleich ab zum Nürburgring fahren?“, entgegnete Vierck. „Für mich fühlt sich Autofahren wie ein Rausch an.“
Im Laufe des Gesprächs fasst sich die blinde Frau mit der Hand immer wieder an ihre Ohrringe. Umklammert ihre Kette. An der Schnur baumelt ein Bernstein. Vierck legt sehr viel Wert auf ihr Äußeres. Zwar verzichtet sie seit einigen Jahren auf Schminke, weil die Mascara immer in ihrem Gesicht verwischt ist und sie es nicht bemerkte. Aber neue Kleidung kauft sie gerne ein. Mit ausgewählten Freunden, die wissen, was sie mag: am liebsten bunte, knallige Farben. „Für mich ist es wichtig, die Kleidung anzufassen“, sagt sie. „Ein Sehender sieht sie und verliebt sich – ich mache das gleiche mit den Händen.“
Blind zu sein, bedeutet für Marion Vierck nicht, nichts sehen zu können. „Ich sehe mit den Ohren. Mit meinen zehn Fingern. Mit meinem ganzen Körper.“ Und zwar eine kunterbunte Welt.
Mit den Worten „Auf Wiedersehen“ verabschiedet sie sich.