Henstedt-Ulzburg. Archäologisches Landesamt begleitet Bau der 380-Kilovolt-Stromtrasse in Henstedt-Ulzburg. Fundstücke sind eine faszinierende Zeitreise.
Mitten in der norddeutschen Tiefebene, an einem Wintertag, bei 3 Grad, Regen und Windböen aus Nordwest. Hier, am Rande von Henstedt-Ulzburg, am Suhrrehm, wird bekanntlich die Ostküstenleitung gebaut, eine 380-Kilovolt-Stromtrasse zwischen Ostholstein und der A7, eines der bedeutendsten Infrastrukturprojekte im Norden. Doch all das geschieht auf historisch hoch interessantem Grund und Boden. Vielleicht 20 Zentimeter unter der Grasnarbe beginnt eine faszinierende Zeitreise, die bis zu 7000 Jahre zurückgeht in die Jungsteinzeit. Und genau deswegen ist das Archäologische Landesamt Schleswig-Holstein auf der Baustelle quasi durchgehend vor Ort. So wie auch an diesem Sonnabend.
„Wir retten die Informationen“, sagt Matthias Lindemann. Der Projektkoordinator ist zusammen mit seinem Kollegen Christoph Unglaub verantwortlich dafür, zu sichten, was hier auf der Baustelle des Netzbetreibers Tennet zu Tage kommt. Und das sind kleine, vermeintlich unscheinbare, Fundstücke, die bei Fachleuten allerdings das gewisse Glänzen in den Augen auslösen. Die Stromtrasse wird hier unterirdisch verlegt, es ist also ein massiver Bodenaushub nötig. Und da werden nicht nur Tonnen an Erde bewegt, sondern auch spezielle Artefakte entdeckt.
Henstedt-Ulzburg: 7000 Jahre altes Steinzeit-Werkzeug auf Stromtrassen-Baustelle gefunden
„Bei großen Bauvorhaben sind viele Flächen betroffen, bei denen wir davon ausgehen können, dass es archäologische Denkmale sind“, so Lindemann. „Hier auf dieser Baustelle sind wir als Team baubegleitend dabei, wenn der Boden abgetragen wird.“ Und das bereits seit dem letzten Jahr. „Spuren der Altvorderen“, nennt der Koordinator das, wonach gesucht wird.
Und das mit Erfolg. Er öffnet die Tür zu seinem Transporter. Auf einer roten Decke sind Scherben ausgebreitet. „Das ist einfach handgemachte Keramik. Die Scherben sind 2000 Jahre alt. Das spricht dafür, dass wir ein Werk-Areal haben, auf dem man damals Handwerk betrieben hat. Ob man nun Metall verarbeitet hat oder Keramik gebrannt, das war gerne etwas abseits der Siedlung wegen der Brandgefahr.“ Es handelt sich um die vorrömische Eisenzeit. „Die Fundstücke sind für mich die Visitenkarten.“
Spannende Entdeckung: In der Eisenzeit war hier am Suhrrehm bereits eine Siedlung
Die Archäologen hoffen, vielleicht noch eine gesamte Siedlung erfassen zu können. Das ist unter anderem möglich anhand von Verfärbungen im Boden. Dennoch: „Es ist extrem schwierig, anhand dieser Fundstücke zu sagen, wer hier gelebt hat. Wir haben Spuren, die zeigen, dass Menschen hier aktiv waren. Aber wer das war, wie die sich selber genannt haben?“ Den Begriff „Germanen“, den die Römer geprägt haben, will er nicht pauschal übernehmen.
Einige Hundert Meter weiter ist eine weitere Gruppe unterwegs. Es sind vier freiwillige Sondengänger, die hier minutiös den Acker abgehen, auf Signale warten, dann probeweise mit dem Spaten buddeln. So wie Samir El Diwany aus Norderstedt. Er ist eigentlich Ingenieur für Medizintechnik, hat aber ein ausgefallenes Hobby. „Ich bin seit 2018 zertifizierter Sondengänger. Vorher hatte ich eine Strand-Suchgenehmigung, konnte dort meine Skills ein bisschen verbessern.“
Archäologie: Zertifizierte Sondengänger durchlaufen spezielle Schulungen
In Schleswig-Holstein bietet das Landesamt besondere Schulungen an, erklärt Christoph Unglaub. „Zweimal im Jahr haben wir jeweils 40 Plätze für Sondengänger, die suchen wollen, und die Genehmigung bekommen sie nur, wenn sie den Kursus abgelegt haben. Und da ist der Kampfmittelräumdienst mit eingebunden.“ Dieser weist auf Gefahren hin – und sagt, welche gesetzlichen Vorgaben bestehen, wenn etwa Blindgänger gefunden werden. „2021 hatten wir einen Fall, dass einer unserer Sondengänger bei Glinde auf einem Feld gelaufen ist und eine 250-Kilo-Fliegerbombe gefunden hat. Der Bauer war wohl relativ froh darüber.“
Das ist Samir El Diwany noch nicht passiert. „Das Spannende ist, Dinge aufzuspüren, quasi eine Zeitkapsel zu heben. Und man weiß nie, was einen erwartet.“
Feuersteinklinge: Ein Werkzeug aus der Jungsteinzeit liegt in wenigen Zentimetern Tiefe
Das zeigt sich auch diesmal. „Die Erfahrung, die ich auf anderen Projekten gesammelt habe, ist, dass es sich durchaus lohnt, zusammen mit den Ehrenamtlichen zu gucken“, sagt Matthias Lindemann. „Die Wahrscheinlichkeit, hier eine Sensation zu finden, ist relativ gering. Aber das kann man nur wissen, wenn man es auch versucht.“
Und dann findet ein Sondengänger tatsächlich eher zufällig (ein Nagel hatte das Signal ausgelöst) ein viele Tausend Jahre altes Artefakt. Es ist ein eher primitives Werkzeig, eine Feuersteinklinge, 15 Zentimeter lang. „Jungsteinzeit, wo die Leute bereits sesshaft waren und Landwirtschaft betrieben haben“, sagt Lindemann sofort und beschreibt, dass die Form definitiv von Menschen bearbeitet worden sei. „Das ist ewig haltbar.“
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Auch ein Hufeisen liegt in wenigen Zentimetern Tiefe, mutmaßlich aus dem Mittelalter. Ebenso Metallknöpfe eines Bauernmantels, diese könnten aus dem 18. Jahrhundert stammen. So kommt nach und nach eine kleine Sammlung zusammen.
Henstedt-Ulzburg: Fundstücke und Daten stehen künftig der Wissenschaft zur Verfügung
Was mit den Entdeckungen passiert? „Die Daten und das Fundmaterial kommen nach Schleswig“, sagt Matthias Lindemann. Dort hat das Landesamt seinen Sitz. „Sie werden dort archiviert und stehen dann allen wissenschaftlichen Arbeiten zur Verfügung.“
So wird es weitergehen, während in den nächsten Jahren die Ostküstenleitung gebaut wird. Bauarbeiter und Archäologen sind längst eingespielt. Übrigens: Einen Stopp könnte ein Fund nicht zur Folge haben. Christoph Unglaub: „Auch wir Archäologen wollen, dass alles gesichert und dokumentiert wird, aber so wenig wie möglich stört.“