Norderstedt. Dennis Müller wurde als Kind vergewaltigt und gefilmt – später ist er selbst Täter. Fünf Menschen und ihre bewegenden Geschichten.

Vor mehr als einem Jahr hat die Recherche für diesen Artikel begonnen. Thomas Karrasch fragte damals beim Abendblatt an, ob Interesse an einer Berichterstattung über seine Beratungsstelle „Männersache“ in Norderstedt bestehe. Als Psychologe arbeitet er seit mehr als 20 Jahren mit gewalttätigen Männern zusammen. Im Strafvollzug in Lübeck saß er einst verurteilten Mördern und Vergewaltigern gegenüber, heute Menschen, die Kinderpornografie konsumieren.

Das Abendblatt traf sich mit mehreren Tätern. Dieser Artikel sollte ihre Geschichten erzählen: Warum es sie erregt, Filme anzusehen, in denen Kinder grausam missbraucht werden. Was sie dazu gebracht hat. Aber auch: Wie schwer es für sie ist, Hilfe zu finden und aufzuhören.

Doch schnell wurde klar: So eine Geschichte kann niemals ohne die Seite der Opfer erzählt werden. Und auch das reichte nicht aus, um dem Thema gerecht zu werden. In diesem Artikel kommen fünf Menschen zu Wort, die fünf verschiedene Perspektiven einnehmen. Wie dicht dabei die Welten von Täter und Opfer zusammenliegen können, zeigt der Fall von Dennis Müller. Wie alle Protagonisten – bis auf Thomas Karrasch – möchte er anonym bleiben und trägt in Wahrheit einen anderen Namen.

Vier Jahre lang wurde Dennis Müller als Kind missbraucht

Dennis Müller war sieben Jahre alt, als er ihm zum ersten Mal begegnete. Er hatte sich mit einem Freund zum Spielen verabredet. Als er abends durch Osdorf, vorbei an tristen Plattenbauten, nach Hause lief, fing es an diesem grauen Septembertag heftig an zu regnen. Die Kleidung des Grundschülers durchnässte. Das feuchte T-Shirt klebte an seinem Körper. Er zitterte. Dann tauchte Dirk A. auf.

„Er hat mich auf der Straße angesprochen und mir Hilfe angeboten“, erinnert sich Müller. Natürlich wusste er von seinen Eltern, dass er nicht mit Fremden mitgehen sollte. Wusste, dass das gefährlich sein konnte. Doch an Dirk A. schien nichts Gefährliches zu sein. Dachte er. Und ging mit in seine Wohnung.

Der damals 27 Jahre alte Dirk A. wurde im Jahr 2000 verurteilt und in der geschlossenen Abteilung des Klinikums Nord Ochsenzoll untergebracht. Mindestens acht Kinder hat er missbraucht. A. wird weiterhin verdächtigt, die 1999 verschwundene Hilal Ercan getötet zu haben.
Der damals 27 Jahre alte Dirk A. wurde im Jahr 2000 verurteilt und in der geschlossenen Abteilung des Klinikums Nord Ochsenzoll untergebracht. Mindestens acht Kinder hat er missbraucht. A. wird weiterhin verdächtigt, die 1999 verschwundene Hilal Ercan getötet zu haben. © ABS | abs

Der Mann gab ihm trockene Kleidung. Dann missbrauchte und vergewaltigte er ihn. Seine Taten filmte er mit Kameras, die er überall in den Ecken seiner Wohnung installiert hatte. Vier Jahre lang lockte er das Nachbarskind immer wieder mit den neuesten Konsolenspielen, Süßigkeiten und Geld zu sich. „Er hatte alles, was Kinder sich immer wünschten“, sagt Müller. Vier Jahre lang wusste der Junge nicht, was mit ihm passierte. Er ging doch erst zur Grundschule.

Dirk. A wird verdächtigt, Hilal Ercan getötet zu haben

Auch wenn sich alles falsch anfühlte – anvertraut hat er sich niemandem. „Ich hatte viel zu große Angst. Er hat gedroht, mir und meiner Familie würde etwas passieren.“ Stattdessen schloss er sich nach den Missbräuchen zu Hause in seinem Zimmer ein und hörte Musik. Ballermann-Hits. „Ich wollte einfach nur vergessen“, sagt Müller. Die fröhlichen Lieder auf der CD gaukelten ihm eine heile Welt vor. Dabei zerbrach seine jedes Mal ein Stückchen mehr, wenn er Dirk A. traf.

Ich wollte einfach nur vergessen
Dennis Müller - Missbrauchsopfer – und später selbst Täter

Im Jahr 2000 wurde A. zu sieben Jahren Haft verurteilt und in Haus 18 der geschlossenen Abteilung des Klinikums Nord Ochsenzoll untergebracht. Mindestens acht Kinder zwischen sechs und 15 Jahren hat er verschleppt, eingesperrt, missbraucht und beinahe zu Tode gequält. Dabei lief stets die Kamera. Eines dieser Kinder war Dennis Müller. Medien gaben A. damals den Namen „Kinderfänger von Osdorf“. Erst, wenn er als geheilt galt, soll er in Freiheit entlassen werden.

Der heute 50-Jährige sitzt noch immer in der Psychiatrie. Seit mehr als 23 Jahren.

Ayla (l.) und Kamil Ercan zeigen in ihrer Wohnung im Stadtteil Lurup ein Foto ihrer vermissten Tochter Hilal Ercan. 1999 verschwand die damals zehnjährige Hilal in unmittelbarer Nähe der elterlichen Wohnung (Archivbild).
Ayla (l.) und Kamil Ercan zeigen in ihrer Wohnung im Stadtteil Lurup ein Foto ihrer vermissten Tochter Hilal Ercan. 1999 verschwand die damals zehnjährige Hilal in unmittelbarer Nähe der elterlichen Wohnung (Archivbild). © dpa | Kay Nietfeld

Dirk A. wird auch mit einem Fall in Verbindung gebracht, der in der Öffentlichkeit für großes Aufsehen gesorgt hat und immer noch sorgt: A. wird verdächtigt, die damals zehnjährige Hilal Ercan aus Hamburg-Lurup, dem Nachbarstadtteil von Osdorf, ermordet zu haben. Seit 1999 fehlt jede Spur von dem Mädchen. Hilal soll oft in Osdorf unterwegs gewesen sein. Mehrmals hat der Malerlehrling in der Psychiatrie ein Mord-Geständnis abgelegt – jedes Mal wieder revidiert. Dennis Müller kann sich gut vorstellen, dass A. etwas mit dem Vermisstenfall zu tun hat. „Er hatte fast jedes Kind in Osdorf durch“, sagt er bitter.

Seit dem 27. Januar 1999 wird Hilal Ercan vermisst.
Seit dem 27. Januar 1999 wird Hilal Ercan vermisst. © picture-alliance/ dpa/dpaweb | dpa Picture-Alliance / DB Polizei

Müller sitzt in einem Ledersessel in der Beratungsstelle „Männersache“. Aus dem kleinen Jungen ist ein Mann geworden. Seine Arme sind tätowiert, er trägt ein schwarzes T-Shirt und eine schwarze Hose. Seine Hände liegen gefaltet im Schoß. Sein Lächeln ist schüchtern, aber sympathisch. Das ist seine neunte Sitzung bei Psychologe Thomas Karrasch. Seit einigen Wochen befindet sich der Anfang 30-Jährige in Therapie. Aber nicht, weil er Opfer von sexuellem Missbrauch geworden ist – sondern Täter.

Kinderpornografie: Opfer wurde selbst zum Täter

Dies hätte die alleinige Geschichte eines Jungen sein können, der in seiner Kindheit schreckliche Dinge erleben musste. Doch die Themen Missbrauch und Kinderpornografie sind noch so viel schmerzhafter und vielschichtiger, als sie ohnehin erscheinen. Ausgerechnet bei ihm hatte die Polizei 50 kinderpornografische Fotos entdeckt. Das Gericht verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten, die auf drei Jahre und neun Monate zur Bewährung ausgesetzt wurde.

„Ich habe die Bilder gesehen und an mich gedacht“, sagt Müller. Sie wurden ihm über die Chat-Plattform Knuddels geschickt. Erregt fühlte er sich nicht. „Ich wollte meine Vergangenheit damit aufarbeiten, wollte vergessen, was passiert ist. Für mich ist das schwer zu begreifen, dass ich selbst zum Täter geworden bin.“

Es klingt widersprüchlich. Thomas Karrasch versucht, das Unbegreifliche zu erklären. „Der Klient hat in seiner Kindheit eine grenzenlose Ohnmacht gefühlt. Nun konnte er selbst entscheiden, welche Bilder er öffnet. Das gibt ihm die Illusion von Kontrolle“, sagt der Psychologe. „Man kann die Situation nicht mit reiner Logik erklären. Die Psyche ist viel komplexer.“

Johanna Schmidt wurde missbraucht und gefilmt

Johanna Schmidt versucht verzweifelt, gegen ihre Erinnerungen anzukämpfen. Kein Tag vergeht, an dem sie nicht daran denken muss, was ihr als kleines Mädchen zugestoßen ist.

Eine große, schwere Videokamera. Manchmal begegnet ihr das Gerät aus den 80er-Jahren in ihren Alpträumen. Sie erinnert sich daran, wie das Objektiv auf sie gerichtet war. „Guck mal, was für ein schönes Kind du bist. Du darfst in einem Film mitspielen“, sagte ein Freund ihrer Eltern damals zu ihr. Er arbeitete in der Firma ihres Vaters. Dann missbrauchte er sie. „Auf die heftigste Art und Weise“, sagt sie.

Und er war nicht allein. Mehrere Männer kamen zu ihm nach Hause. „Sie stanken nach Alkohol“, erinnert sich Johanna Schmidt. Sie bezahlten Geld dafür, um das Mädchen zu misshandeln. Vor laufender Kamera.

2022 wurden mehr als 48.000 Fälle von Missbrauchsabbildungen registriert. Auch Johanna Schmidt wurde als Kind und junge Frau von einem Freund der Familie missbraucht und dabei gefilmt (Symbolbild).
2022 wurden mehr als 48.000 Fälle von Missbrauchsabbildungen registriert. Auch Johanna Schmidt wurde als Kind und junge Frau von einem Freund der Familie missbraucht und dabei gefilmt (Symbolbild). © dpa | Jan Woitas

Essstörung und Todessehnsucht folgten nach Missbrauch

Was mit diesen Videoaufnahmen passiert ist, weiß die heute Ende 30-Jährige nicht. „Den Gedanken schiebe ich sehr weit von mir weg. Aber ich gehe davon aus, dass sie noch existieren“, sagt sie. Ihre Stimme ist zart, fast zerbrechlich. Sie klingt viel jünger, als sie ist. Schmidt wohnt nicht in Norddeutschland. Sie vertraute sich dem Abendblatt am Telefon an. Videokonferenzen kosten sie zu viel Überwindung. Ihr fällt es schwer, sich von Kameras filmen oder fotografieren zu lassen.

Es gab Phasen in ihrem Leben, da spürte sie eine tiefe Todessehnsucht, sagt sie. Schmidt entwickelte eine Essstörung. Sie hasste ihren Körper, magerte ab. Als Oberstufenschülerin kam sie mit einem BMI von 12,8 in eine Klinik und musste künstlich ernährt werden. Normal wäre ein Wert von um die 20 gewesen. „Ich musste dringend etwas tun, um nicht von dieser Welt zu gehen.“ Eine Therapie rettete ihr das Leben.

Seit mehr als vier Jahren läuft Prozess gegen Peiniger

Johanna Schmidt heiratete, bekam Kinder. Doch eines Tages, als ihr Ehemann bei der Arbeit war und die Kinder in der Kita, klingelte es an der Tür. Sie öffnete. Ihr Peiniger aus ihrer Kindheit drang in die frisch renovierte Wohnung ein, vergewaltigte sie erneut. Jahre später erst traute sie sich endlich, den Mann anzuzeigen. Der Prozess zieht sich seit mehr als vier Jahren hin, der Mann ist auf freiem Fuß.

Pädophilie: Daten & Fakten

Jeden Tag werden 48 Kinder in Deutschland Opfer sexueller Gewalt. 2022 gab es laut polizeilicher Kriminalstatistik erneut einen deutlichen Anstieg von Missbrauchsdarstellungen von Kindern und Jugendlichen im Internet. Mehr als 48.800 Fälle wurden registriert. Im Vergleich zu 2018 hat sich die Zahl mehr als verzwölffacht. Die Dunkelziffer dürfte noch deutlich höher liegen. 955 Taten sind auf Schleswig-Holstein zurückzuführen.

Schätzungsweise ein Prozent der männlichen Weltbevölkerung gilt als pädophil. In Deutschland wären das etwa 250.000 Männer. Nach bisherigem Kenntnisstand sind Frauen seltener betroffen. Pädophilie ist eine sexuelle Präferenz. Das bedeutet, eine Person fühlt sich ausschließlich zu Kindern mit einem vorpubertären Körperschema hingezogen. Es gibt aber auch pädophile Nebenströmungen. Diese Menschen konsumieren zum Beispiel Kinderpornografie, sind aber mit einer erwachsenen Person in einer sexuellen Beziehung.

Die Ursachen von Pädophilie sind bis heute nicht umfassend geklärt. Nur so viel steht für Forschende fest: So wie ein homosexueller Mann nicht zur Heterosexualität umerzogen werden kann, ist es auch nicht möglich, jemanden, der auf Kinder fixiert ist, für Erwachsene zu interessieren. Der Fokus von Hilfsangeboten liegt deshalb darauf, eine dauerhafte Verhaltenskontrolle auszubilden.

„Die Gefahr der Stigmatisierung von Menschen mit pädophiler Sexualpräferenz ist so groß, dass ein sozialer Rückzug begünstigt wird, der bis zur Ausbildung von psychosomatischen, depressiven, Angst- oder Suchterkrankungen führen kann“, sagt Maximilian von Heyden, wissenschaftlicher Mitarbeiter für Gesundheitskommunikation an der Charité in Berlin.

Das dort ansässige Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin hat 2005 das Präventionsprojekt Dunkelfeld initiiert, aus dem 2011 „Kein Täter werden“ hervorgegangen ist. Das Bündnis therapeutischer Einrichtungen hat sich zur Aufgabe gemacht, bundesweit Menschen mit pädophiler Sexualpräferenz zu unterstützen, ein verantwortungsvolles und sozial integriertes Leben zu führen.

Mehrmals musste Schmidt Gutachtern von ihren traumatischen Erlebnissen erzählen. Sie wurde genau durchleuchtet – aus ihrer Sicht viel intensiver als der Täter selbst. „Es wird alles versucht, um mir nachzuweisen, dass ich einen an der Klatsche habe“, sagt sie. „Das ist ein vernichtendes Prozedere.“

Manchmal bereut sie es, zur Polizei gegangen zu sein. Doch sie will kämpfen. Stark sein. Für sich und andere Missbrauchsopfer. „Sexuelle Gewalt ist Alltag vieler Kinder. Es gibt garantiert in fast jeder Straße und jeder Schulklasse Betroffene. Wir Erwachsenen sind es Kindern schuldig, sie ernst zu nehmen und genauer hinzusehen“, sagt sie.

Die Strafen für Sexualstraftäter findet sie lachhaft. „Die Kinder leiden oft ein ganzes Leben lang“, weiß sie. Noch immer habe sie viele schwarze Tage, erzählt sie. „Manchmal kann ich das Leben und meinen Körper kaum aushalten. Aber ich kann meine Kinder ja nicht allein lassen.“

Manchmal kann ich das Leben und meinen Körper kaum aushalten
Johanna Schmidt - Missbrauchsopfer

Ermittler werten täglich große Mengen Datenträger aus

Claudia Hoffmann beschäftigt sich täglich mit Fällen wie dem von Johanna Schmidt. Ihr Büro ist hell und freundlich eingerichtet. An der Wand hängt ein Bild. Sie hat es selbst gemalt, mit Ölmalfarben. Es zeigt zwei Frauen am Strand. Hier sitzt die 47 Jahre alte Sachbearbeiterin oft stundenlang und wertet kinderpornografisches Material auf Festplatten, Handys und USB-Sticks aus. Dabei läuft immer das Radio. Zwischendurch steht sie auf, um sich abzulenken. Redet mit Kollegen. Mit ihrer Familie zu Hause kann sie über ihren Job nicht sprechen. „Das wäre zu belastend für sie“, sagt Hoffmann.

Manchmal brauchen die 15 Beamtinnen und Beamten der „Ermittlungsgruppe Kinderpornografie“ der Bezirkskriminalinspektion Kiel für die Analyse der Datenträger nur eines mutmaßlichen Täters mehrere Monate. So groß sind die Mengen an Bildern und Videos teilweise. Hoffmann arbeitet seit 2019 in der Dienststelle. Länger als fünf Jahre sollte niemand diesen Beruf ausüben, sagt man. Manche Mitarbeiter ziehen schon vorher die Reißleine, weil sie es nicht länger aushalten, noch mehr Leid zu sehen.

15 Beamtinnen und Beamten gehören der „Ermittlungsgruppe Kinderpornografie“ der Bezirkskriminalinspektion Kiel an. Sie werten täglich große Mengen an Bildern und Videos aus (Symbolbild).
15 Beamtinnen und Beamten gehören der „Ermittlungsgruppe Kinderpornografie“ der Bezirkskriminalinspektion Kiel an. Sie werten täglich große Mengen an Bildern und Videos aus (Symbolbild). © dpa | Rolf Vennenbernd

Am Ende eines jeden Arbeitstages nimmt Claudia Hoffmann nicht den normalen Ausgang aus dem Backsteingebäude. Sie geht einen kleinen Umweg durch eine schwere Metalltür – und knallt sie zu. Das ist zu ihrem Ritual geworden. Erst wenn sie das laute Knallen hört, kann sie die schrecklichen Bilder loslassen. „Dann ist die Schublade für mich geschlossen, und ich öffne sie erst am nächsten Tag im Büro wieder“, sagt sie.

Strafen für Besitz und Verbreitung von Kinderpornografie verschärft

Trotz der enormen psychischen Belastung sieht sie eine große Sinnhaftigkeit in ihrem Job. „Es befriedigt mich sehr, wenn wir Kinder retten und ihren Missbrauch beenden können“, sagt sie. Für Hoffmann macht es keinen Unterschied, ob ein Täter die Filme selbst produziert oder konsumiert. „Das Kind wird noch einmal missbraucht, wenn sich Menschen diese Videos angucken“, sagt sie.

Im Juli 2021 wurde das Strafmaß im Deliktsfeld Kinderpornografie verschärft. Schon der reine Besitz und die Verbreitung gelten seitdem als Verbrechen und werden mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr geahndet.

Das Kind wird noch einmal missbraucht, wenn sich Menschen diese Videos angucken
Claudia Hoffmann - Ermittlungsgruppe Kinderpornografie

Hoffmann sitzt nicht nur am Schreibtisch, sondern führt auch regelmäßig Hausdurchsuchungen in Kiel, Neumünster und den Kreisen Plön, Rendsburg-Eckernförde und Segeberg durch. Dann steht sie mit ihren Kollegen unangekündigt vor der Haustür des Verdächtigten.

Im Teenageralter sah Marcel Weber erstmals Missbrauchsabbildungen

Marcel Weber erinnert sich noch gut: Eines Morgens im Frühjahr, als die Sonne noch nicht aufgegangen war und sein Kind tief und fest schlief, klingelte die Polizei an der Tür. Die Beamten durchkämmten sein Haus – und verließen es mit mehreren Datenträgern. „Meiner Frau die Wahrheit zu erklären, war der schwerste Moment meines Lebens“, sagt Weber. Dagegen sei selbst die Hausdurchsuchung ein „Kinderspiel“ gewesen.

Als Teenager kam er zum ersten Mal in Berührung mit Kinderpornografie. „Damals hatte jeder in meinem Freundeskreis sowas schon mal gesehen. Das war eine normale Sache“, sagt Marcel Weber. Doch er hörte nicht auf. Weit über ein Jahrzehnt schaute er zu, wie Kinder missbraucht wurden. „Ich wollte das nicht, aber ich konnte nicht anders.“

Marcel Weber hat über ein Jahrzehnt dabei zugesehen, wie Kinder missbraucht wurden (Symbolbild).
Marcel Weber hat über ein Jahrzehnt dabei zugesehen, wie Kinder missbraucht wurden (Symbolbild). © dpa | Karl-Josef Hildenbrand

Viele Therapeuten helfen Männern nicht während laufendem Verfahren

Weber ist Anfang 30, Familienvater und ebenfalls Klient von Psychologe Thomas Karrasch. „Ich verstehe das einfach nicht. Auf der einen Seite sehe ich im Fernsehen ukrainische Kinder auf der Flucht, sehe ihr unendliches Leid und fange an zu weinen.“ Weber sitzt im Ledersessel der Beratungsstelle, schüttelt den Kopf. „Warum machen mir kinderpornografische Bilder nicht so viel aus?“ Wenn er seinen Laptop aufklappte, schaltete er Empathie und Mitgefühl aus. „Das soll kein Teil mehr von mir sein. Ich will und werde nie wieder zulassen, mir Kinderpornos anzusehen.“

Ich wollte das nicht, aber ich konnte nicht anders
Marcel Weber - Täter

Nach der Hausdurchsuchung ist Marcel Weber klar geworden: Etwas stimmt nicht mit ihm. Er braucht dringend professionelle Hilfe. Mehr als 50 Therapeuten und Einrichtungen kontaktierte er. „Zu 90 Prozent meldete sich nur der Anrufbeantworter.“ Er arbeitete eine Liste mit Anlaufstellen ab. Über eine Woche hat er dafür gebraucht. Er wollte sich helfen lassen. Und auf keinen Fall rückfällig werden. Plötzlich entwickelte er den Willen, der ihm jahrelang gefehlt hatte. Doch überall wurde er abgewiesen.

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Denn: Die meisten Therapeuten nehmen keine Klienten während eines laufenden Verfahrens an. Der Generalverdacht: Sie suchen sich vor allem deshalb Hilfe, um eine Strafmilderung im Prozess zu erwirken. „Für mich war das total demotivierend. Es fühlte sich an, als würde jemand mit der Schubkarre kommen und noch etwas auf den ohnehin schon riesengroßen Haufen Scheiße draufkippen“, sagt Weber.

Über Smartphones werden viele kinderpornografische Inhalte geteilt. Schon das Verschicken eines Bildes ist strafbar (Symbolbild).
Über Smartphones werden viele kinderpornografische Inhalte geteilt. Schon das Verschicken eines Bildes ist strafbar (Symbolbild). © dpa | Silas Stein

Psychologe: „Täterarbeit bedeutet Opferschutz“

Thomas Karrasch findet es falsch, dass ein Tatverdächtiger vor einem Urteilsspruch nicht therapiert wird. Ein Verfahren wegen des Besitzes von Missbrauchsabbildungen dauert im Schnitt zwei Jahre. Der Psychologe betont: „Die Männer sind in Not. Sie würden auch niemanden in der Krankenhausambulanz mit einem gebrochenen Arm wegschicken.“ Nur wenn der 64-Jährige in den ersten Sitzungen feststellt, dass sich die Täter nicht wirklich verändern wollen, dann schickt er sie weg.

Psychologe Thomas Karrasch therapiert seit mehr als 20 Jahren gewalttätige Männer. Der 64-Jährige leitet die Beratungsstelle „Männersache“ in Norderstedt.
Psychologe Thomas Karrasch therapiert seit mehr als 20 Jahren gewalttätige Männer. Der 64-Jährige leitet die Beratungsstelle „Männersache“ in Norderstedt. © Annabell Behrmann | Annabell Behrmann

Laut einer Studie der Universität Regensburg aus dem Jahr 2015 plädieren 49 Prozent der Befragten dafür, Männer mit sexuellem Interesse an Kindern in Präventivhaft zu stecken – obwohl sie noch keine Täter geworden sind. 27 Prozent wünschen ihnen sogar den Tod. Thomas Karrasch verfolgt einen anderen Ansatz: Er will den Menschen, die von einem Großteil der Gesellschaft verachtet werden, helfen.

Die Männer sind in Not
Thomas Karrasch - Psychologe

Das bedeutet für ihn nicht, damit einverstanden zu sein, was sie getan haben. Sondern: „Täterarbeit bedeutet Opferschutz – sie ist die effektivste Form der Gewaltprävention. Nur Täter können aufhören, Grenzen zu verletzen. Nicht die Opfer“, sagt er.

Karrasch arbeitet nicht nur mit gewalttätigen Männern zusammen. Er therapiert auch ihre Opfer. Für die Diakonie leitet er die Fachstelle gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen in Norderstedt. Wie lassen sich beide Welten miteinander vereinen? Wie schafft er es, sich an einem Tag das Leid der Kinder anzuhören – und am nächsten Männern gegenüberzusitzen, die dieses verursachen? „Das funktioniert nur, indem ich mir sage: Da sitzt ein Mensch vor mir, der Hilfe braucht. In beiden Fällen.“

Die Beratungsstelle „Sicher im Leben“ der Diakonie bietet Fachberatung bei Verdacht auf sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen, Erziehungsberatung, Lebensberatung und Männerberatung an. Wer das Angebot unterstützen möchte, kann dies mit einer Spende an IBAN: DE81 5206 0410 2106 4900 26, BIC: GENODEF1EK1, Verwendungszweck: Beratungsstelle Sicher-im-Leben, Norderstedt.