Kiel. Eltern von Missbrauchsopfern sagen im Prozess aus. Sie berichten von Anzeichen – und wie der Angeklagte Vertrauen erschlich.
Nach eigenem Geständnis hat der Angeklagte (71) seit Mitte der 1990er-Jahre in seinem Haus im Kreis Segeberg immer wieder Kinder beherbergt und sexuell missbraucht. Bei der Fortsetzung des Prozesses im Kieler Landgericht vernahm die Jugendkammer am Mittwoch mehrere Eltern der Opfer. Ihre Aussagen belegen, dass es Signale für Übergriffe gab.
Bei seinem nächsten Nachbarn im Dorf ging der pädophile Rentner jahrelang fast täglich ein und aus. Unaufgefordert kam er durch die gemeinsame Zaunpforte, während die Kleinkinder des Zeugen (46) im Sommer nackig durch Haus und Garten liefen. „Auch andere Kinder waren oft bei uns“, erzählt der Vater. „Ein bestimmter Junge musste immer neben ihm sitzen, das war sein fester Platz.“
Kindesmissbrauch: „Immer seine Hand im Schritt oder auf dem Oberschenkel“
Den Zeugen nervte es, dass der allein lebende Angeklagte bei diesem Jungen „immer seine Hand im Schritt oder auf dem Oberschenkel“ hatte. „Immer dieses Anfassen“ ärgerte den Vater von zwei Kindern. „Da habe ich ihm gesagt: Lass das doch mal bitte!“ Doch der Angeklagte habe die Aufforderung einfach weggelächelt und weitergemacht.
„Immer hatte er die Kinder im Blick“, berichtet der Zeuge weiter. Auch seine beiden Kinder habe der Nachbar „an der Schulter angefasst“ und „Streichelbewegungen“ gemacht. Das sei ihm damals nicht bedrohlich vorgekommen. „An eine sexuelle Komponente habe ich nicht gedacht“, sagt er auf Nachfrage des Gerichts.
Arbeitskollege beschreibt Rentner: „Ein ordentlicher Kerl“
„Heute sehe ich das natürlich in einem anderen Licht“, so der Zeuge. Dann zitiert er einen Spruch des stets freundlichen und hilfsbereiten Rentners, der ihm über ein Jahr lang fast täglich beim Ausbau seines Doppelhauses zur Seite stand: „Wenn du wüsstest!“, habe er die Frage einer Bekannten beantwortet, wann er zum letzten Mal Sex hatte.
Nach dem Tod seiner Mutter habe sich der allein lebende Angeklagte plötzlich intensiv mit Computer und Handy beschäftigt. Das fiel auch seinem ältesten und vielleicht einzigen Freund auf. „Ich kenne ihn von der Arbeit her, seit mehr als 40 Jahren“, berichtet ein 82 Jahre alter Ex-Kollege.
Der Angeklagte zeichnete Missbrauch auch digital auf
Bei einem Hamburger Tiefbauunternehmen habe man sich in den 1980er-Jahren angefreundet und seitdem regelmäßig besucht. „Er war ein ordentlicher Kerl“, sagt der Ältere. „Immer fleißig“ habe er sich um Haus und Garten seiner Eltern gekümmert. „Was er jetzt gemacht hat, ist mir fremd. Das kann ich mir nicht vorstellen, so kenne ich ihn nicht.“
„Da waren viele Kinder“, das hatte auch der 82-Jährige beobachtet. „Aber die waren ja verwandt.“ Was den Angeklagten nicht von schweren sexuellen Übergriffen abhielt, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden waren. Dass er die Taten digital aufzeichnete, wurde ihm später zum Verhängnis.
Die Kinder baten ihn immer wieder aufzuhören
Unter Ausschluss der Öffentlichkeit hat die Jugendstrafkammer bereits Videovernehmungen der missbrauchten Kinder gesichtet. Dazu erklärte am Mittwoch Strafverteidiger Gerhard Braun: „Mein Mandant entschuldigt sich ausdrücklich. Es tue ihm sehr leid.“ Der Angeklagte räume zudem ein, dass die Kinder ihn immer wieder gebeten hätten, damit aufzuhören.
Fazit eines betroffenen Vaters angesichts des allgemein distanzlosen und aufdringlichen Verhaltens des Angeklagten: „Man hätte vielleicht mal ganz deutlich sagen sollen: Bis hier hin und nicht weiter.“ Auch andere Eltern wiesen den großzügigen und allzeit bereiten Kinderbetreuer nicht in seine Schranken.
PC-Spiele, Ausflüge, Karl-May-Spiele, Klamotten – das lockte die Kinder an
„Eigentlich war er immer ein Onkel für uns, mein ganzes Leben lang“, erklärt eine Mutter (33) von zwei missbrauchten Jungen. PC-Spiele, Ausflüge an die Ostsee und in den Hansapark, Besuch der Karl-May-Spiele, Klamotten kaufen – mit der Aussicht auf solche Attraktionen hätten die Kinder ihn immer wieder von sich aus angerufen. Zeitweise holte er sie jedes Wochenende mit dem Auto ab. In den Sommerferien beherbergte und versorgte er sie bis zu drei Wochen am Stück.
„Wie fanden das ihre Kinder?“, fragt die Vorsitzende Richterin die Zeugin. „Eigentlich immer schön“, sagt die Mutter. Ihre als Nebenklägerin am Prozess beteiligte ältere Schwester (37) hatte bereits Mitte der 1990er-Jahre bei dem Onkel übernachtet. Erst nachdem später ihre eigenen Kinder missbraucht worden waren, berichtete sie der Polizei, auch selbst als Neunjährige Opfer geworden zu sein.
Frau war selbst Opfer, brachte ihre Kinder trotzdem zum Angeklagten
Nach Aussage der 37-Jährigen fasste der Angeklagte sie damals nach dem Baden bei Abtrocknen an, streichelte sie minutenlang zwischen den Beinen. Trotzdem vertraute sie dem Täter Jahrzehnte später ihre eigenen Kinder an. Trägt die Mutter deshalb eine Mitverantwortung für den Missbrauch?
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Zu dieser Frage gab ein Sprecher der Staatsanwaltschaft eine Stellungnahme ab: Die Mutter der missbrauchten Kinder habe bei der Polizei angegeben, ihre eigene Missbrauchserfahrung verdrängt zu haben. Die Erinnerung sei erst im Zug der aktuellen Ermittlungen zurückgekehrt.
462-facher Kindesmissbrauch: Kein Verdacht wegen Beihilfe gegen Mutter
Nach derzeitiger Einschätzung sieht die Anklagebehörde „keinen Verdacht wegen Beihilfe zum sexuellen Missbrauch der Kinder durch Unterlassen“. Es fehle an jedem Vorsatz, die Taten zu fördern. Auch eine Verletzung der Fürsorgepflicht liege nicht vor. Denn auch ein grob fahrlässiges Wegsehen der Mutter „wäre für sich genommen wohl nicht strafbar“.
Bei anderen Personen aus dem Umfeld der betroffenen Kinder gehen die Strafverfolger davon aus, dass niemand Kenntnis von den Taten hatte. Denn die geschädigten Jungen und Mädchen hätten nach eigenen Angaben nie etwas gesagt oder auch nur angedeutet.