Kreis Segeberg. 71-Jähriger aus Rohlstorf soll Jungen und Mädchen missbraucht haben – auch aus der eigenen Verwandtschaft.
- Prozess vor Landgericht Kiel: 462 Fälle des Missbrauchs aktenkundig
- Rentner zeigte gegenüber Ermittlern wenig Einsicht
- Enorme Fülle an kinderpornografischem Material sichergestellt
Die Nachricht vom massenhaften Missbrauch von Kindern hat in der Region Fassungslosigkeit, Entsetzen und Wut ausgelöst: Vor dem Landgericht in Kiel muss sich ein 71-Jähriger aus Rohlstorf verantworten, weil er sich seit 30 Jahren immer wieder an Jungen und Mädchen vergangen haben soll. Die Anklageschrift enthält mehr als 460 Fälle. Jetzt kommt heraus: Der mutmaßliche Täter ist kaum einsichtig.
Ermittler sprechen von einem „windelweichen Geständnis“, obwohl viele Beweise wie Fotodateien und Videoaufnahmen klar gegen den Rentner sprechen. Es sei „etwas vorgefallen“, habe der Mann nebulös gesagt ohne Taten zu konkretisieren, als die Polizei im Dezember 2022 sein Haus durchsuchte und ihn festnahm. Seitdem sitzt der 71-Jährige in Untersuchungshaft ein.
„Zeitbombe“ – Wird der Rentner lebenslang eingesperrt?
Bei der Befragung räumte er ein, dass die Kinder seiner Cousine zu den Opfern gehörte. Doch auch das ist vermutlich nur ein kleiner Teil der Wahrheit. Die Justiz geht von deutlich mehr missbrauchten Kindern im Verlauf der Jahrzehnte aus. Außerdem gab der Mann zu seiner Verteidigung an, dass er beim Umgang mit den Jungen und Mädchen in seinem Schlafzimmer stets seine Unterhose getragen habe.
Wie glaubhaft diese Äußerungen sind, muss im Prozess geklärt werden, der sich über mehrere Tage hinziehen wird. Dabei werden besonders die belastenden Indizien zur Sprache kommen. Bei der Durchsuchung des Hauses fanden die Polizisten laut Anklage zwei Dutzend USB-Sticks, 19 SD-Karten, zwei Computer, 64 CDs und zwei Handys mit 1756 Fotodateien mit eindeutig kinder- und jugendpornografischem Inhalt sowie 314 Videofilme derselben Kategorie. Offiziell spricht die Staatsanwaltschaft von „Hinweise auf erheblichen Missbrauch“.
Der entscheidende Hinweis kam aus den USA
Viele dieser Aufnahmen soll der Angeklagte ins Netz gestellt haben – Veröffentlichungen, die die Ermittler auf seine Spur führten. Der entscheidende Hinweis kam aus den USA vom Nationalen Zentrum für vermisste und missbrauchte Kinder (NCMEC), das Informationen des Internetproviders Bing über die kinderpornografischen Bilder aus Deutschland erhalten hatte. Das halbstaatliche Zentrum NCMEC bezeichnet sich auf seiner Homepage als größte und einflussreichste Kinderschutzorganisation des Landes.
Das NCMEC gab die Informationen an das Bundeskriminalamt weiter, das die Polizei und Staatsanwaltschaft in Schleswig-Holstein informierte. Eine Überprüfung der Internetadresse (IP) des Rechners, von dem die Dateien ins Netz gestellt wurden, führte dann zu dem 71-Jährigen. Die Folge: Das Amtsgericht ordnete die Durchsuchung des Hauses an und erließ Haftbefehl.
Wussten die Einwohner von Rohlstorf nichts von den Taten?
Der ledige Rentner lebte allein in dem Haus, nachdem seine Eltern vor wenigen Jahre gestorben waren. Dass sich in ihrem 1200-Einwohner-Dorf derartige Verbrechen abgespielt haben sollen, hat wohl die meisten Bewohner überrascht. „Ich habe es in der Zeitung gelesen und wusste vorher nichts davon“, sagte Bürgermeister Tim Breckwoldt, der keine weitere Stellungnahme abgeben wollte.
„Die Zahl der Übergriffe und der lange Tatzeitraum sprengen den Rahmen bisheriger Missbrauchsverfahren am Kieler Landgericht“, sagte ein Beobachter gegenüber dem Abendblatt. Die Serie der Übergriffe sei in der Region ohne Beispiel. Die Zahl der angeklagten Taten ist mit 462 schon sehr hoch, doch Ermittler vermuten, dass es tatsächlich noch mehr waren. Viele lassen sich jedoch nicht mehr gerichtsfest nachweisen.
Manche Jungen und Mädchen wurden vermutlich zigfach missbraucht
Im Verhältnis zur Menge der angeklagten Taten ist die Zahl der Opfer gering. Mindestens zehn Jungen und Mädchen sollen es sein, heißt es in der Anklageschrift. Aus diesem Verhältnis lässt sich schließen, dass der Täter sich x-fach an denselben Kindern verging. Die meisten waren zum Zeitpunkt des Missbrauchs zwischen fünf und zehn Jahre alt. Die jüngsten und letzten Opfer, die der Mann laut Anklage im Oktober 2022 missbrauchte, sollen zwei und vier Jahre alt gewesen sein.
Manche Kinder sollen jedes Wochenende bei dem Mann zu Gast gewesen sein. Ihm wird auch vorgeworfen, die Jungen und Mädchen zu sexuellen Handlungen untereinander aufgefordert zu haben. Die Frage, warum der Rohlstorfer mutmaßlich über Jahrzehnte diese Verbrechen begehen konnte, ohne von den Strafverfolgungsbehörden entdeckt zu werden, beschäftigt auch die Ermittler.
Staatsanwalt befürchtet eine lebenslange Traumatisierung der Opfer
Vermutlich waren es mehrere Gründe. Viele der Kinder waren zum Zeitpunkt des Missbrauchs sehr jung. Außerdem versprach der mutmaßliche Täter seinen Opfern Süßigkeiten und den Zugang zu seinem Computer. „Viele haben sicher auch versucht, das Geschehen zu verdrängen“, sagte Oberstaatsanwalt Axel Bieler. Er fürchtet, dass viele der Kinder bis zu ihrem Lebensende traumatisiert sind. Sie haben nicht nur den Missbrauch erlebt, sondern müssen damit zurechtkommen, dass die Aufnahmen von den Taten mit ihnen weiter im Internet kursieren.
Der Angeklagte muss mit einer mehrjährigen Haftstrafe rechnen. Anklage und Verteidigung sprechen derzeit darüber, ob er mit einem Geständnis das Verfahren abkürzen könnte. Damit bliebe voraussichtlich vielen Opfern erspart, über die Taten vor Gericht aussagen zu müssen. Außerdem sprechen beide Seiten darüber, inwieweit das Geständnis zu einem milderen Strafe führen könnte.
Gericht muss klären, ob der Angeklagte auch künftig gefährlich ist
Doch die Vorstellungen liegen zwischen sechs und zwölf Jahren und damit weit auseinander. Doch es könnte auch ganz anders kommen. Da der Missbrauch offenbar mehrere 100 Mal in einem Zeitraum von Jahrzehnten stattfand, könnte das Gericht auch zu der Entscheidung kommen, dass der Angeklagte nicht nur erhebliche kriminelle Energie aufwendete, sondern auch weiter eine Gefahr für seine Umgebung darstellt.
Ein Ermittler bringt es so auf den Punkt: „Der Mann ist eine Zeitbombe.“ Kommt das Gericht in seinem Urteil zu einem ähnlichen Schluss, muss der 71-Jährige nicht nur mit einer hohen Haftstrafe, sondern auch mit einer anschließenden Sicherheitsverwahrung rechnen. Ob er in diesem Fall jemals wieder in die Freiheit entlassen wird, erscheint fraglich.
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Ein Sexualmediziner und Facharzt für Psychiatrie vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) beobachtet den Prozess. Bis Ende November hat das Landgericht elf weitere Verhandlungstage angesetzt. Die als Nebenkläger zugelassenen Opfer dürfen voraussichtlich zum Schutz ihrer Persönlichkeit unter Ausschluss der Öffentlichkeit aussagen.