Kreis Segeberg. Beobachter sprechen von einer beispiellosen Serie. Vermutlich sind es noch mehr Taten. Müssen die Opfer vor Gericht aussagen?

Die Liste der Anklagepunkte nimmt fast kein Ende: Über drei Jahrzehnte hinweg soll ein 71-jähriger Hausbesitzer im Kreis Segeberg immer wieder Jungen und Mädchen aus der eigenen Familie oder der Nachbarschaft sexuell missbraucht haben. Jetzt hat der Prozess vor dem Landgericht in Kiel begonnen.

Die Staatsanwaltschaft listet 462 Fälle des sexuellen Kindesmissbrauchs auf. Beobachter von Prozessen in Kiel sind sich einig: „Die Zahl der Übergriffe und der lange Tatzeitraum sprengen den Rahmen bisheriger Missbrauchsverfahren am Kieler Landgericht.“ Die Serie der Übergriffe sei in der Region ohne Beispiel.

Rentner wegen 462-fachen Kindesmissbrauchs angeklagt

Tatort Einfamilienhaus: Eltern brachten ihre Kinder jahrelang in den Schulferien beim Angeklagten unter. Seit mindestens 1995, so der Vorwurf der Staatsanwaltschaft, verging sich der in Untersuchungshaft einsitzende Angeklagte in seinem Einfamilienhaus im Kreis Segeberg regelmäßig an Kindern.

Mindestens zehn Jungen und Mädchen sollen Opfer von sexuellem Missbrauch geworden sein. Von den Taten betroffen waren demnach überwiegend Kinder zwischen fünf und zehn Jahren. Doch die jüngsten und letzten Opfer, die der Mann laut Anklage im Oktober 2022 missbrauchte, sollen gerade mal zwei und vier Jahre alt gewesen sein.

Die Polizei nahm den 71-Jährigen bei der Hausdurchsuchung fest

Wenig später flog der Angeklagte auf. Nach einer Hausdurchsuchung am 15. Dezember 2022 wurde er festgenommen. „Mehrmals täglich“ soll sich der ledige Mann zu Hause auf unterschiedliche Weise an den betroffenen Kindern vergangen haben, heißt es in der Anklageschrift. Viele der Kinder hatten teilweise über Jahre hinweg ihre Wochenenden und Schulferien bei ihm in dörflicher Umgebung verbracht. Die Eltern vertrauten dem Mann arglos ihre Kinder an

Häufig nahm der Angeklagte selbst sexuelle Handlungen vor, heißt es. Oft soll er die Jungen und Mädchen auch angeleitet haben, solche Handlungen an ihm, an sich selbst oder anderen Kindern vorzunehmen. Dass der Mann eine Vielzahl der Taten filmte, half den Ermittlern später bei der Aufklärung.

Gericht beschäftigt sich auf mit Jahrzehnte alte Fällen

Dabei dürfte die Zahl der 462 angeklagten Fälle nur die Spitze des Eisbergs sein. Vor Gericht sind nur Taten verhandelbar, die räumlich und zeitlich eingeordnet werden können. Für die zur Tatzeit überwiegend fünf- bis zehnjährigen Kinder, die teilweise mehrmals täglich missbraucht worden sein sollen, dürften die Handlungen im Nachhinein schwer voneinander abzugrenzen sein.

Zudem hat die für solche Verfahren zuständige Jugendstrafkammer auch Vorfälle aufzuklären, die bereits Jahrzehnte zurückliegen. Dies betrifft vor allem ein heute erwachsenes Opfer, die den Angeklagten Mitte der 90-er Jahre „regelmäßig an den Wochenenden“ in dessen Haus besuchte. Dort musste die damals Neunjährige abends baden.

Die Opfer erhielten Süßigkeiten und durften den Computer nutzen

Danach trocknete der Angeklagte laut Anklage das Mädchen von Kopf bis Fuß ab, spreizte ihm die Beine „und rieb minutenlang ihre Klitoris“, so einer der vielen Vorwürfe. Trotz dieser Erfahrungen soll die Zeugin später als Mutter ihre eigenen Kinder immer wieder beim Angeklagten untergebracht haben. So verbrachte ihr siebenjähriger Sohn von 2014 bis Ende 2020 „fast jedes Wochenende von Freitag bis Sonntag und seine mindestens dreiwöchigen Sommerferien“ beim Angeklagten.

Der soll sich in diesem Zeitraum mehr als 160 Mal an dem Jungen vergangen haben. Machte er sich die Kinder mit psychischem Druck und Belohnungen gefügig? Die Opfer sollen Süßigkeiten und Zugang zu einem Computer bekommen haben. Die Jungen und Mädchen agierten „auf Geheiß des Angeschuldigten“, heißt es.

Spielte der Angeklagte die Kinder auf perfide Weise gegeneinander aus?

Laut Anklage mussten sie untereinander auch Anal- und Oralverkehr ausüben. Der Angeklagte selbst soll es bei Manipulationen belassen haben, die allerdings häufig mit einem Eindringen in den Körper verbunden waren. Auffallend oft waren mehrere Kinder an den Handlungen beteiligt. Unklar ist, ob sich der Täter dabei einen Gruppendruck zunutze machte oder auf perfide Weise die Kinder gegeneinander ausspielte.

„Ist uns egal, ob dir das wehtut!“, soll ein Junge während der Missbrauchshandlungen zu einem ebenfalls betroffenen Mädchen gesagt haben. Solidarisierte sich der damals Neunjährige mit dem Täter, als dieser dem Mädchen beim Spreizen der Beine Schmerzen zufügte?

Mehr als 30 Zeugen werden bei dem Prozess aussagen

Für die Aufklärung des Sachverhalts benennt die Anklage mehr als 30 Zeugen, darunter mehr als ein Dutzend Polizeibeamte. Auch werden zahlreiche Datenträger mit kinderpornografischen Inhalten auszuwerten sein. Bei einer Hausdurchsuchung im Dezember stellte die Polizei zwei Dutzend USB-Sticks, 19 SD-Karten, zwei Computer, 64 CDs und zwei Handys sicher.

Auf sämtlichen Datenträgern waren kinderpornografische Bild- und Videodateien gespeichert. Allein die USB-Sticks weisen über 15.000 einschlägige Darstellungen auf. Auf den CDs fanden sich auch Bilder, die den oralen und vaginalen Geschlechtsverkehr an Säuglingen und Kleinstkindern zeigen.

Opfer dürfen unter Ausschluss der Öffentlichkeit vor Gericht aussagen

Am Prozess nimmt auch ein Sexualmediziner und Facharzt für Psychiatrie von der Universität Hamburg-Eppendorf teil. Bis Ende November hat die Jugendkammer elf weitere Verhandlungstage angesetzt. Die als Nebenkläger am Prozess zugelassenen Opfer dürften zum Schutz ihrer Persönlichkeit unter Ausschluss der Öffentlichkeit gehört werden.

Kann ein Deal den Prozess verkürzen? Anklage und Verteidigung ringen um eine Verständigung. Im Fall einer streitigen Verhandlung müsste sich das Gericht auf eine noch längere Beweisaufnahme einstellen. Zur Abkürzung des Verfahrens führen die Beteiligten deshalb Verständigungsgespräche. Ein umfassendes Geständnis des Angeklagten könnte den Opfern die erneute Konfrontation mit ihrer Vergangenheit ersparen – und dem Täter ein milderes Urteil einbringen.

Über die Höhe der Strafobergrenze als Gegenleistung für ein Geständnis streiten sich jedoch die Beteiligten. Wie ein Sprecher der Staatsanwaltschaft mitteilte, liegen die Vorstellungen von einer angemessenen Strafe extrem weit auseinander. Sie pendeln zwischen sechs und zwölf Jahren Haft. Der Prozess wird Ende des Monats fortgesetzt.