Henstedt-Ulzburg. Verhandlungen, Entschädigungen, Klagen: Wie das Megaprojekt die Politik in Henstedt-Ulzburg in Bedrängnis bringt.
Im Außenbereich von Henstedt-Ulzburg, nahe des Ortsteils Götzberg, tauchen sie auf: Die nüchternen Hinweistafeln, die auf Baustellen links und rechts der Landstraße hinweisen. Was nicht alle wissen, die hier vorbeifahren: Es handelt sich um die ersten Arbeiten für das – neben der Fehmarnbelt-Querung – größte aktuelle Infrastrukturprojekt in Schleswig-Holstein.
In ein paar Jahren soll die Ostküstenleitung als 380-Kilovolt-Stromtrasse unter anderem Offshore-Windstrom aus Ostholstein transportieren, der dann vom Kreis Segeberg in Richtung Süden weiterfließt. Eine Milliarde Euro wird all das kosten.
Ostküstenleitung: Stehen die Kritiker auf verlorenem Posten?
Noch ist das Zukunftsmusik. Aber der Netzbetreiber Tennet hat einen gesetzlichen Auftrag der Bundesregierung, das Megaprojekt hat extrem hohe Priorität. Zum Jahreswechsel 2022/2023 hatte das Unternehmen bereits die Genehmigung erhalten, sogenannte „vorbereitende Maßnahmen“ durchzuführen, um Zeit zu sparen. Ein Eilantrag aus Henstedt-Ulzburg – beschlossen durch eine politische Mehrheit von CDU, FDP und BFB – gegen einen „faktischen Baubeginn“ (so der Vorwurf) scheiterte vor dem Bundesverwaltungsgericht.
Und deswegen darf Tennet jetzt schon loslegen. „Auf Abschnitt 1“, so Sprecher Sören Wendt, „befinden sich 34 von 111 Mastern im vorzeitigen Baubeginn.“ Theoretisch müsste alles wieder rückgängig gemacht werden, sollte die Ostküstenleitung doch noch von Richtern gestoppt werden. Doch weder der Betreiber noch die Landesregierung gehen davon aus – man ist davon überzeugt, dass alle Dokumente juristisch unangreifbar sind. Wendt: „Unser Anspruch ist es, eine rechtssichere Planung zu machen.“
Megaprojekt Ostküstenleitung – Verhandlungen, Entschädigungen, Klagen
Bisher lag man damit richtig. Das zeigt die jüngste Entwicklung. Noch im März hatten die besagten drei Fraktionen dafür gesorgt, dass Tennet den Feldweg Suhrrehm und einen Wirtschaftsweg nahe der Norderstedter Straße nicht nutzen durfte. Hier sollten Baumaschinen entlangfahren bis zu einer Fläche, auf der eine Grube für die späteren Dükerleitungen, also die Erdkabel für den entsprechenden Abschnitt bis hinter die Pinnauwiesen, geplant ist. Die Ablehnung war explizit „politisch“, das wurde öffentlich betont, eine Zustimmung wäre „das falsche Signal gewesen“.
Deswegen kam die Sitzung des Planungsausschusses am 3. Juli fast schon einem Erdbeben gleich. Denn das Wegerecht wurde nach nichtöffentlicher Debatte bewilligt. Wie es dazu kam? „Wenn wir das Wegerecht verweigert hätten, dann hätten wir eine Klage am Hals gehabt, die wir höchstwahrscheinlich verloren hätten“, sagt Michael Meschede von der CDU. Die Partei versucht derzeit einen Spagat – denn die Ablehnung der Stromtrasse, so wie ihr Verlauf geplant ist, bleibe unberührt, heißt es.
Zustimmung für Wegerecht – fast schon ein politisches Erdbeben
Aus Sicht von Meschede schwächt der jüngste Beschluss keinesfalls die grundsätzliche Position. „Es ist ein emotionales Thema“, räumt er ein. „Wir sagen, dass wir das Beste für Henstedt-Ulzburg rausholen. Unser Klagerecht haben wir nicht verwirkt. Wir werden sehen, ob es sich anbietet, zu klagen.“
Auch die FDP sagt: „Wir sind nicht umgekippt.“ Die Stromtrasse werde gebraucht, meint Fraktionschef Klaus-Peter Eberhard, „aber nicht durch Henstedt-Ulzburg“. Forderungen, alles müsse nördlich entlang einer künftigen A20 gebaut werden, ignorieren Tennet und das Umweltministerium mittlerweile – die Autobahn existiert dort bekanntlich auch bislang nur in Theorie.
FDP: „Wir sind nicht umgekippt“
Hinter den Kulissen ist noch mehr in Bewegung. So sickerte durch, dass Tennet der Gemeinde eine Entschädigung für die Nutzung einer Fläche zahlen würde, und zwar in mittlerer sechsstelliger Höhe. Ein guter Deal, fanden sogar die Stromtrassen-Kritiker. Sören Wendt sieht da hingegen keine große Sache. „Wenn wir Felder überspannen, wenn wir Maststandorte gründen, dann zahlen wir eine Entschädigung. Dafür gibt es Grundsätze. Stadtnah sind Flächen teurer, die Entschädigung ist höher.“
Und: „Die Entschädigungen, die wir zahlen, stehen in keinem Zusammenhang mit dem Wegerecht. Wir zahlen dafür, dass wir Flächen der Gemeinden nutzen. Henstedt-Ulzburg bekommt eine Entschädigung, die ihnen zusteht.“ Zum Hintergrund: Es gibt hier ein Verfahren, abgestimmt mit den Bauernverbänden, da in der Regel Landwirte betroffen sind. Wenn per Gutachten aber ein höherer Wert als der Standard-Satz (4,50 Euro/Quadratmeter) ermittelt und das auch anerkannt wird, zahlt Tennet eine Entschädigung von 35 Prozent je Quadratmeter.
Tennet: Entschädigungen mit Bauernverbänden verhandelt
Was nicht vorgesehen ist, sind regelmäßige Überweisungen. „Wenn Landwirte ihre Flächen abgeben, müssten sie regelmäßige Entschädigungen bekommen“, fordert Dirk Rohlfing von der BFB. So etwas ist gesetzlich nicht vorgesehen – im Gegensatz zu Windrädern. „Dass die Rechtslage so ist, macht es nicht besser.“
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Das ist jedoch nicht die einzige Fläche, um die verhandelt wird. Und jetzt wird es interessant in Sachen Ortsentwicklung. Auf dem Rhen, an der Edisonstraße, steht das Umspannwerk „Hamburg-Nord“, das Tennet gehört. Direkt daneben befinden sich mehrere momentan landwirtschaftlich genutzte Hektar. Sören Wendt bestätigt: „Die Gemeinde hat sich wegen der Fläche an uns gewandt und ihr Interesse bekundet. Wir prüfen, ob die Fläche verfügbar ist, es gibt Verhandlungen, und wir würden dann für den Verkehrswert verkaufen.“
Gemeinde will Fläche auf dem Rhen vom Netzbetreiber kaufen
Eine Einigung soll, so hört man, sehr wahrscheinlich sein. Dann hätte die Gemeinde plötzlich neue Möglichkeiten für Gewerbeansiedlungen. Oder, davon reden einige Politiker, es könnte eine langfristige Transformation des bestehenden Industriegebietes gestartet werden.
Wie lange das Umspannwerk noch in Betrieb sein wird, lässt sich nicht sagen. „Es dient der Versorgung der Region und unter anderem auch der Notstromversorgung des Kernkraftwerkes Brokdorf“, so Sören Wendt. „Wenn die Ostküstenleitung errichtet, das Kernkraftwerk brennstofffrei ist und keine Versorgung aus dem Umspannwerk für die Region erfolgt, werden wir prüfen, inwiefern es komplett oder in Teilen zurückgebaut werden kann.“
Energiewende: „Wenn Bagger vor der Tür stehen, wird die Bevölkerung wach“
Unabhängig hiervon wird irgendwann in den nächsten Wochen der Planfeststellungsbeschluss für die Ostküstenleitung amtlich sein. Dann könnte Tennet sofort mit allen Baumaßnahmen beginnen – Henstedt-Ulzburg müsste sehr schnell über den Rechtsweg entscheiden. „Die nächste Stufe ist hopp oder topp“, sagt Michael Meschede.
Andernfalls wird sich zeigen, ob seine Prognose zutrifft. „Wenn die Bagger vor der Tür stehen, wird die Bevölkerung wach.“ Aber die unangenehme Wahrheit könnte auch eine andere sein. Mehrfach haben Politiker verschiedener Lager dem Abendblatt berichtet, dass es im Kommunalwahlkampf so gut wie keine Fragen aus der Bevölkerung zur Stromtrasse gegeben habe – oder nur Zustimmung. Der Beweis, dass das Projekt die Menschen im Ort so sehr aufregt wie drei Fraktionen, steht noch aus.